Innenpolitik

„Die Europäische Union befindet sich zurzeit in einer autoritären Transformation”

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Ein Interview mit Alexis Passadakis,  24. Mai 2012 –

Der Politikwissenschaftler Alexis Passadakis ist in der bundesweiten „Projektgruppe Krisen” von Attac aktiv. Er hat in Frankfurt an den Blockupy-Aktionstagen (16-19. Mai) teilgenommen. Vor seiner Rückfahrt nach Berlin sprach er mit HINTERGRUND über die Demonstration und die Folgen der repressiven Fiskalpolitik der Bundesregierung.    

Hintergrund: Im Unterschied zu den Journalisten der Frankfurter Rundschau, die am 19. Mai von „25.000 Teilnehmern auf der Schlusskundgebung vor der EZB” berichteten, hat die Polizei lediglich 4.000 bis 5.000 Menschen gezählt. Wie ist Ihre Einschätzung?

Alexis Passadakis: Ich kann die Zahlenangaben der Polizei nicht nachvollziehen. Ich habe gehört, dass sie zu Beginn der Demonstration sagten, dass lediglich 13.000 Leute da waren…

Hintergrund: Und danach diese Zahl auf 20.000 korrigierten.  

Alexis Passadakis: Genau. Die Zahlen wurden nachträglich hochgesetzt. Es kann sicherlich sein, dass der Eine oder Andere nicht mehr die lange Strecke bis zur Abschlusskundgebung gegangen ist. Allerdings diese Zahl von 4.000 bis 5.000 halte ich für unrealistisch, für unangemessen. Es passt auch in dieses Bild der Polizei, dass sie durch falsche Angaben versucht die Proteste zu diskreditieren und zu marginalisieren.

Hintergrund: Welche Bilanz ziehen Sie als einer der Organisatoren und Teilnehmer dieser Blockupy-Tage?

Alexis Passadakis: Unsere Aktionstage haben sicherlich unter schwierigen Bedingungen stattgefunden. Insbesondere hat uns das beinahe Totalverbot aller Kundgebungen und Mahnwachen sehr behindert, unsere Proteste so zu organisieren, wie wir es vorgehabt haben. Gleichzeitig ist in Deutschland die ökonomische und politische Situation so, dass viele Menschen im Gegensatz zu den Bevölkerungen in Ländern wie Spanien, Griechenland oder Italien die Krise nicht wirklich spüren.

Unter diesen Bedingungen haben wir sehr erfolgreiche Protesttage hinter uns. Wir haben es trotzdem geschafft, unsere Standpunkte in die Öffentlichkeit zu transportieren, nämlich: Wir lehnen die Krisenpolitik der Bundesregierung ab, die dazu führt, dass in großen Teilen Europas Verarmungsdynamiken entstehen. Diese Kürzungspolitik, die überall durchgesetzt wird, ist verheerend, ist unsozial. Was wir kritisiert haben ist, dass die Europäische Union durch diese Krisenpolitik sich in einer autoritären Transformation befindet.

Hintergrund:
Sie sagten gerade, dass dieser Fiskalpakt der EU undemokratisch ist. Warum?

Alexis Passadakis: Der Fiskalpakt ist ein internationaler Vertrag, der zur Zeit von den Parlamenten in den einzelnen europäischen Ländern ratifiziert wird. Und dieser Vertrag beinhaltet im wesentlichen eine sogenannte Schuldenbremse. Effektiv ist es ein Haushaltsdeckel, der dazu führt, dass kaum noch Neuverschuldung möglich ist und er beinhaltet Regeln zu einem rasanten Schuldenabbau.

Hintergrund: Mit welchen Konsequenzen für die Menschen?

Alexis Passadakis: Das Problem mit diesem Fiskalpakt ist, dass dadurch auf  Dauer Sozialkürzungen und der Rückgang von öffentlichen Ausgaben festgeschrieben werden. Das hat verheerende Konsequenzen für große Teile der Bevölkerungen, führt aber auch dazu, dass Ökonomien tendenziell unter Rezessionsdruck geraten und ist deshalb völlig unsinnig.

Außerdem setzt er bei einem falschen Punkt an: Die Analyse der Krise durch die Bundesregierung – meines Erachtens eine Wahnvorstellung – ist, dass diese aktuelle Eurokrise durch eine zu hohe Staatsverschuldung aufgrund zu hoher öffentlicher Ausgaben, insbesondere Sozialausgaben, ausgelöst wurde. Das ist mitnichten der Fall! Denn diese Staatsverschuldung resultiert nicht aus zu hohen öffentlichen Ausgaben sondern daraus, dass letztendlich die Banken gerettet werden mussten. Aßerdem kann man, wenn die Schulden gestiegen sind, über erhöhte Steuereinnahmen die Schulden wieder zurückführen.

Hintergrund: Was jetzt der neue sozialistische Präsident Frankreichs, François Hollande,  machen will?

Alexis Passadakis: François Hollande hat dazu einige Vorschläge gemacht, inwieweit sie tatsächlich ernst gemeint sind, ist die Frage. Was hier aber mit dem Fiskalpakt zusätzlich passiert ist, dass das zentrale Recht des Parlamentes, nähmlich das Haushaltsrecht, empfindlich beschnitten wird dadurch, dass Sanktionsmechanismen vorgesehen sind, wenn diese unsinnigen Regeln nicht angewendet werden und diese Sanktionsmechanismen sprechen der europäischen Kommission sehr viel Macht zu. Und hier wird das Königsrecht der Parlamente,  nämlich das Haushaltsrecht teilweise – aber letztendlich doch auch substantiell, auf ein Organ der Exekutive übertragen: die EU-Kommission. Das ist fundamental undemokratisch, weil die Gewaltenteilung dadurch infrage gestellt wird. Das Ziel ist letztendlich, dass man Haushaltspolitik der demokratischen Kontrolle entziehen und übertragen möchte auf eine supranationale Organisation …

Hintergrund: … die niemand gewählt hat –

Alexis Passadakis: … und die dann eben diese Kürzungspolitik durchsetzen kann. Damit haben wir einen Bruch in der Verfassungsgeschichte, wenn eben tatsächlich diese substantiellen Rechte transferiert werden. Unseres Erachtens befindet sich die Europäische Union zurzeit in einer autoritären Transformation; dieser Fiskalpakt ist ein Element davon, der den Einfluss der gewählten Parlamente zurückdrängt und die Macht der nicht gewählten EU-Kommission ausweitet.

Hintergrund: Das war ja einer der wichtigsten Punkte der Blockupy-Tage in Frankfurt.

Alexis Passadakis: Genau. Uns ging es darum, gegen diese Verarmungspolitik, gegen die Kürzungspolitik, die die Bundesregierung, die Troika ( EU, EZB und IWF) in Südeuropa durchsetzt, zu protestieren und gegen diese autoritäre Transformation der EU – diesen Demokratieabbau. Der Fiskalpakt ist das wichtigste Beispiel.

Hintergrund: Was schlägt Attac vor? Wie sollte eine demokratische europäische Fiskalpolitik aussehen?

Alexis Passadakis:
Grundsätzlich lehnen wir zunächst einmal diesen Fiskalpakt ab.  Was wir uns vorstellen, um diese Krise zu bewältigen, ist, dass erstmal grundsätzlich dieser radikale Sozialabbau gestoppt wird: der Abbau der sozialen Sicherungssysteme, diese Lohndrückerei. Das Soziale muss gesichert werden in dieser Krise. Was wir stattdessen wollen sind demokratische Schulden-Audits, also Schulden-Überprüfungskommissionen und ein Schuldenerlass für die europäischen Länder. Schließlich ist es so, dass die scheinbare Notwendigkeit, zunächst mal die Banken zu retten, die Staatsausgaben in die Höhe getrieben hat. Und diese Banken werden ja auch weiter gerettet, wie man zurzeit in Spanien sieht.  Das muss in dieser Form aufhören. Wir fordern also ein Schuldenerlass.

Außerdem fordern wir eine höhere Besteuerung der großen Vermögen; wir sprechen z. B. von  „europäisch koordinierten Vermögensabgaben”, um das Soziale zu sichern und mehr Mittel für die öffentliche Haushalte bereitstellen zu können. Und was wir seit geraumer Zeit fordern, ist eine Finanztransaktionsteuer.  

Grundsätzlich brauchen die europäischen Staaten mehr wirtschaftspolitische Spielräume, die ihnen durch den EU-Binnenmarkt genommen werden. Durch den Europäischen Binnenmarkt entstehen in der Europäischen Union diese ökonomischen Ungleichgewichte, die diese Krisendynamik anheizen. Wichtig wäre in den Kontext, dass es einen auch europäisch koordinierten Mindestlohn gäbe, um diese Spaltung in schwächere und stärkere Ökonomien in Europa abzufedern.

Hintergrund: Wie können diese Forderungen durchsetzt werden?

Alexis Passadakis: Um das durchzusetzen, brauchen wir starke soziale Bewegungen. Was wir in den letzten Jahren erlebt haben, waren schon massive Proteste, die es aber offensichtlich nicht geschafft haben, die Politik in eine andere Richtung zu drücken.

Hintergrund: Könnte Frankfurt der Anfang sein?

Alexis Passadakis:
Frankfurt hat sicherlich ein Zeichen gesetzt, aber es muss noch deutlich mehr passieren damit diese Gesellschaft wirklich in Bewegung gerät. Ich glaube, da haben wir einen langen Weg vor uns, aber es gibt auch ermutigende Anzeichen und ich denke, dass Frankfurt eines davon war!

Hintergrund: Wir danken Ihnen vielmals!

Das Interview führte Manola Romalo


Die Demonstrationen in Frankfurt hat der Fotograf Philip Eichler mit seiner Kamera begleitet und erschreckende Momentaufnahmen eines über alle Maßen reagierenden Staatsapparats dokumentiert.

Philip Eichler lebt in Frankfurt/Main. In seiner Arbeit beschäftigen ihn vor allem soziale  und ökologische Themen.

© Philip Eichler, All Rights Reserved  – www.philipeichler.de

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