Innenpolitik

Deutschland steuert nicht in eine nationale Katastrophe

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Es gilt die Fluchtursachen zu bekämpfen – 

Ein Zwischenruf von PETER VONNAHME, 14. September 2015 –

Gestern war ein denkwürdiger Tag. Erstmals mussten Flüchtlinge auf dem Boden einer Schalterhalle im Münchner Hauptbahnhof übernachten. München war trotz größter Bemühungen angesichts von 13 000 ankommenden Flüchtlinge an einem Tag (und 64 000 binnen einer Woche) an seine Grenzen gestoßen. Der erschöpfte Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter nannte den Grund: Die Bundesregierung und die anderen Bundesländer (mit Ausnahme von NRW) hätten München und Bayern im Regen stehen lassen. Sie waren mit Planen und Reden beschäftigt, wo spontane Hilfe dringend erforderlich gewesen wäre.

Obwohl somit ein bürokratischer Wermutstropfen in den humanitären Wein gefallen ist, zeigt sich der Welt – in den Worten des Bundespräsidenten gesprochen – ein helles Deutschland. Wer gesehen hat, wie München die Flüchtlinge am Hauptbahnhof in Empfang genommen hat, wird diese Bilder nicht mehr vergessen: aufmunterndes Klatschen, ein freundlicher Händedruck, eine Tüte Obst, ein Teddybär über die Absperrgitter hinweg gereicht, als Dank dafür ein Lächeln aus übermüdeten Augen, ein glückliches Kind. Eine junge Helferin sagte, sie behandle die Ankömmlinge so, wie sie behandelt werden möchte, wenn sie in einer vergleichbaren Situation wäre.

Was wir derzeit erleben, ist ein bewundernswertes Gemeinschaftswerk von Hilfsorganisationen, Behörden, Lokalpolitikern, Bahn, Polizei und vor allem von freiwilligen Helfern. Sie zeigen Empathie, Ausdauer und Kreativität. Sie bemühen sich aufopfernd, dass die vielen Tausende, die im Stundentakt unangemeldet auf die Bahnsteige entlassen werden, ein Dach über dem Kopf, eine provisorische Schlafstätte und eine zumindest notdürftige Versorgung vorfinden. Deutsche haben der Welt gezeigt, was Mitgefühl und Humanität leisten können.Ja, ich bin stolz auf mein Land.

Die große Politik fernab in Berlin hat viel zu lange das getan, was sie hierzulande häufig tut. Sie hat zugeschaut, planlos und ohne erkennbaren Gestaltungswillen. Erst unter dem Druck einer immer nachdenklicher werdenden Öffentlichkeit bemerkt sie allmählich, dass es nicht damit getan ist, vor „Wirtschaftsflüchtlingen“ und „Asylbetrügern“ zu warnen und über Abwehrmechanismen zu Wasser und zu Land nachzudenken. Der Not gehorchend hat sie sich zu einem uninspirierten Krisenmanagement ohne Zukunftsperspektive durchgerungen. Wachgerüttelt durch Stimmen aus der Zivilgesellschaft dämmert es mittlerweile den ersten in der politischen Führungsriege, dass die ankommenden Menschenströme die Vorhut einer neuzeitlichen Völkerwanderung sind.

Auch die deutsche Kanzlerin, angeblich die mächtigste Frau der Welt, hat das getan, was sie am besten kann: abwarten, Stimmungen beobachten, um dann zum spätestmöglichen Zeitpunkt mit Symbolpolitik und gestanzten Sprüchen zu antworten. Zuerst verkündete sie einer hellhörigen Welt, dass das deutsche Asylrecht keine Obergrenze kenne und dass Deutschland in der Lage sei, hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen. Als sie bemerkte, dass sie damit die Einfallstore für Flüchtlinge scheunenweit geöffnet hatte, ruderte sie erschrocken zurück. Im besten Bürokratendeutsch schränkte sie ihre Verheißung flugs wieder ein: Wer nicht schutzbedürftig ist, hat bei uns „keine Bleibeperspektive“. Doch das kam zu spät. Ihre christlichen Parteifreunde reagierten entsetzt. Seehofer: „Merkel bringt Deutschland in eine nicht mehr zu beherrschende Notlage“. Ex-Innenminister Friedrich sprach sogar von einer „beispiellosen Fehlleistung“.

Diese Bewertungen sind jedoch populistische Panikmache. Nüchterne Zahlen verdeutlichen das. Nach einer Mitteilung der Deutschen Bundesbank haben die deutschen Steuerzahler seit 2008 insgesamt 236 Milliarden Euro für die Bankenrettung bezahlt, ohne dass der Staat daran zerbrochen wäre. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass Deutschland infolge der jüngst beschlossenen Flüchtlingshilfe von 10 Milliarden Euro in den Abgrund stürzen wird, selbst dann nicht, wenn noch Investitionen für Schulen und Wohnungen hinzukommen.

Auch die nackten Flüchtlingszahlensprechen nicht dafür, dass wir geradewegs in die nationale Katastrophe steuern. Zwar hat Deutschland 2014 mit Abstand die meisten Flüchtlinge in Europa aufgenommen. Gleichwohl liegt Deutschland – gemessen an der Einwohnerzahl – europaweit nur an der sechsten Stelle (2,1 Asylbewerber auf 1 000 Einwohner). Schweden (7,8), Ungarn (4,2), Schweiz (2,7), Dänemark und Norwegen (je 2,5) liegen deutlich vor uns.

Außerdem ist die Integrationskraft Deutschlands beachtlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg strömten 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in unser Land. Natürlich, es waren Deutsche, die nach Deutschland kamen. Und sie sprachen unsere Sprache. Doch auch diese mittellosen Menschen mussten integriert werden. Es gelang dank einer weitschauenden Politik. Ab den fünfziger Jahren wurde Deutschland zusätzlich von Millionen Gastarbeitern überflutet. Allein aus der Türkei kamen mehr als 4 Millionen. Sie fanden hier ihre Heimat. Nach der Wende gab es eine beachtliche Wanderbewegung von Ost nach West. Auch das wurde verkraftet. Es ging zwar nicht immer problemlos und immer noch gibt es Integrationsdefizite. Aber diese Zuwanderungen haben Deutschland zu dem gemacht, was es heute ist: ein weltoffenes Land mit viel Kraft und mit großer Herzenswärme, wenn Not am Mann ist. Die viel beschworene „German Angst“ hat dem deutschen Mut Platz gemacht. Die dadurch gewonnene internationale Wertschätzung ist ein hohes Gut, auf das wir stolz sein können und von dem wir zehren können, wenn wir einmal Hilfe benötigen.

Der bayerische Finanzminister Markus Söder sah kürzlich die „kulturelle Statik“ Deutschlands in Gefahr. Was genau soll das sein? Söders Bild ist schief. Denn schon seit Langem gibt es hierzulande nicht mehr so etwas nebelhaft Waberndes wie eine kulturelle Statik. Das Gegenteil von Statik prägt unsere Gesellschaft. Das Nachkriegsdeutschland steht für Aufgeschlossenheit, Lernfähigkeit, Veränderungswillen und es lebt von seiner beachtlichen Dynamik.

Natürlich wird Deutschland den gegenwärtigen Kraftakt bei der Aufnahme von Flüchtlingen auf Dauer nicht im Alleingang durchhalten. Vonnöten ist internationale Solidarität und zwar sowohl – was zumeist unerwähnt bleibt – über den Atlantik hinweg als auch vor allem innerhalb der Europäischen Union von 28 Mitgliedsstaaten. Es geht nicht, dass sich Länder wie Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei und einige andere einen schlanken Fuß machen. Wer seit Jahren europäische Solidarität in Anspruch nimmt, muss auch seinerseits zu Solidarleistungen bereit sein, wenn andere Länder ihrer bedürfen. Wenn das nicht mehr möglich ist, dann steht die EU endgültig am Scheideweg. Die europäische Ampel steht auf gelbrot.

Die vom ungarischen Regierungschef Orbán geäußerte Sorge, dass sich Muslime unter die Bevölkerung mischen und die „christliche Kultur Ungarns“ gefährden würden, ist kein tragfähiger Grund, nationale Grenzen geschlossen zu halten und Flüchtlinge ihrem Schicksal zu überlassen. Wäre Orbáns Gedanke richtig, erwiese sich das von ihm reklamierte Schutzgut Christentum als hohle Phrase. Es ist beschämend, dass man christlichen Staatslenkern in Erinnerung rufen muss, dass Nächstenliebe das oberste Gebot ihres vorgeschobenen Glaubens ist. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sagte zutreffend: „Wenn Orbán ein Christ ist, dann ist Kim Il Sung auch ein Christ.“

Nebenbei bemerkt: Die muslimischen Nachbarstaaten Syriens haben eindrucksvoll bewiesen, was Solidarität bedeutet. Sie haben viele Millionen Flüchtlinge aufgenommen und zwar unter schwierigsten Bedingungen. Ähnliches gilt für die Nachbarstaaten Afghanistans und des Iraks. Im Libanon vegetieren heute bei einer Einwohnerzahl von etwa vier Millionen gut eine Million Syrienflüchtlinge in endlosen Lagern. In Relation dazu müsste Deutschland nicht 800 000, sondern 20 Millionen aufnehmen. Nur so viel zum Thema: Das Boot ist voll.

Es ist unübersehbar: Wirtschaftlich schwache Zufluchtsstaaten wie Libanon, Jordanien, Irak und Türkei sind mit der Versorgung von Millionen entwurzelter Menschen hoffnungslos überfordert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die verzweifelten Flüchtlinge nach Europa aufgebrochen sind. Der Wunsch zu überleben ist ihre Triebfeder. Das war voraussehbar. Die jahrelange Tatenlosigkeit angesichts der zu erwartenden Völkerwanderungsströme offenbart das Totalversagen der europäischen und der nationalen Politik. Phantasielos begnügte man sich mit der Bekämpfung von Schleppern und der Sicherung der EU-Außengrenzen durch die Grenzsicherungsagentur „Frontex“. Gleichzeitig wurde die humanitäre italienische Seenotrettungsaktion „Mare Nostrum“, die innerhalb eines Jahres 140 000 Flüchtlinge aus Seenot gerettet hatte, finanziell ausgeblutet. Europa war bis vor wenigen Tagen stur auf Abwehr programmiert. Man fragt sich, weshalb europäische Gipfelgespräche, wie sie bei Banken-, Währungs- und Griechenlandkrise an der Tagesordnung waren, mit Blick auf die Flüchtlingswelle versäumt wurden. Das erweckt den bösen Anschein, dass Geld wichtiger war als die Rettung von Menschenleben.

Was ist das Gebot der Stunde? Die Politik muss sich schleunigst neu orientieren. Es genügt nicht, die Symptome der Völkerwanderungen zu bearbeiten. So wichtig Grenzsicherung, Registrierung, Verteilung, Transport, Unterbringung und Finanzierung auch sein mögen, all das löst das Problem des Flüchtlingszustroms nicht an der Wurzel. Die Aktivitäten von Merkel, Gabriel, de Maizière & Co erinnern an einen kopflosen Hausbewohner, der bei einem Wasserrohrbruch im Keller nur damit beschäftigt ist, die Einrichtungsgegenstände aus dem Erdgeschoss in den ersten Stock zu schleppen, anstatt die Quelle des Übels, die Bruchstelle, zu reparieren. Wer so verfährt, ruiniert zunächst das Haus und später die Möbel dazu. Auf das Flüchtlingsproblem übertragen bedeutet das die sofortige Bekämpfung der Fluchtursachen. Hauptursache des Flüchtlingsstroms aus dem Nahen und Mittleren Osten (Syrien, Irak, Libyen und Irak) sind die von der westlichen Militärallianz verursachten Kriege. Sie haben die ganze Region destabilisiert und die Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt. Wer das verstanden hat, weiß wo er anzusetzen hat. Dies erfordert zunächst den Mut, die Fehler der Vergangenheit einzugestehen. Hieran fehlt es bisher. Wem vermeintliche Bündnisverpflichtungen sowie rechtlich höchst fragwürdige „Koalitionen der Willigen“ wichtiger sind als eine gerechte Friedenspolitik, der muss mit den Flüchtlingsströmen leben – und zwar auf lange Zeit. Gleiches gilt für eine Politik, die glaubt, die Wohlstandsvermehrung im eigenen Land sei wichtiger als eine sozial ausgleichende Entwicklungspolitik in afrikanischen und asiatischen Staaten. Die Konsequenzen aus dieser Einsicht mögen unbequem sein, aber sie sind, um Merkels Lieblingswort zu gebrauchen, alternativlos.

Bei aller historischen Verbundenheit mit den USA: Europa muss den Mut finden, ureigene Bedürfnisse zu artikulieren. Dies gilt umso mehr, als die Verwerfungen einer falschen Politik allein Europa treffen. Konkret heißt das mit Blick auf Syrien: Oberstes Ziel kann nicht sein, den syrischen Staatschef Baschar al-Assad zu vertreiben. Weder sein menschenverachtendes Militärregime noch seine Nähe zu Russland und zu Iran sind ein hinreichender Grund, ihn von der Lösungssuche auszuschließen. Es geht nämlich nicht primär darum, US-Interessenpolitik zu fördern. Das Gebot der Stunde ist vielmehr, die Lage für das leidgeplagte Volk zu verbessern und dadurch den Flüchtlingsstrom an der Quelle zu stoppen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre geht das aber nicht gegen, sondern nur mit Assad. Nahziel muss somit sein, den ungeliebten syrischen Machthaber, die wichtigen Regionalmächte (zumindest Türkei, Iran, Saudi-Arabien), die syrische Schutzmacht Russland, die UN und sinnvollerweise auch die EU als Hauptbetroffene des Flüchtlingsdramas schnellstmöglich an den Verhandlungstisch zu bringen. Bekanntlich muss man in Krisenzeiten nicht nur mit Freunden, sondern – vor allem – mit Gegnern reden. Ein in eine Friedenslösung eingebundener Assad ist für das geschundene Land immer noch besser als ein totales Machtvakuum ohne ihn oder gar ein Land unter IS-Terror. Irak und Libyen stehen mahnend vor der Welt: Diktator getötet, mission accomplished, Anarchie, Blutströme, Bürgerkriege, Massenelend.

Die hier geforderte Konferenz für den Mittleren und Nahen Osten (KMNO) gehörte bisher in das Reich der Utopie. Mit Assad reden? Niemals! Mit Putin? Auch nicht, wegen der Krim! Also weitere Waffenlieferungen an die Aufständischen (mittelbar an den IS). Das alles ist das Gegenteil von Politik, es ist ihr Ende.

Doch das war gestern. Unter dem Eindruck der sich entfaltenden Völkerwanderungen und der Erfahrung, dass Europa das Wasser bis zum Hals steht, scheint der Realitätssinn zu wachsen. Es wächst die Bereitschaft, selbst mit dem Teufel zu reden, wenn dadurch die Flüchtlingsströme versiegen. Ziel einer KMNO wäre u. a. eine Allianz gegen das die ganze Region bedrohende IS-Regime. Auch damit könnte eine wichtige Fluchtursache beseitigt werden.

Doch gemach, Verhandlungserfolge benötigen Zeit. Bis dahin wird Europa mit der Massenzuwanderung leben müssen, ob wir es wollen oder nicht. Stacheldrahtzäune und Zugsperren lösen das Problem nicht, sie verlagern es nur nach außen.


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Peter Vonnahme: Vorboten einer neuzeitlichen Völkerwanderung


Über den Autor: Peter Vonnahme war bis zu seiner Ruhestandsversetzung 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Er ist Mitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms. Von 1995 bis 2001 war er zudem Mitglied des Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung. In den letzten Jahren ist er publizistisch tätig.

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