Der Quacksalber
Gesundheitsminister Karl Lauterbach war 1999 als Professor an der Universität Köln Leiter einer Medikamentenstudie. Als solcher hätte er aber eine Approbation als Arzt gebraucht. Diese holte er erst 2010 nach. Somit hat er damals offenbar gegen geltendes Recht verstoßen. Wer hat damals nicht aufgepasst? Eine erneute Recherche des Autors unserer Reihe zum "Karlatan",
Die bisherigen Recherchen unseres Autors zu Karl Lauterbach finden Sie hier in einer Übersicht.
Wie viele Kameras?
Sind mehrere Kameras auf dasselbe Ziel gerichtet, wird ihre janusköpfige Natur spürbar – allerdings nur für diejenigen, die auf die Kameras selbst schauen. Multiperspektivisches Sehen, sozusagen der bildliche Zwilling des Meinungspluralismus, wird bei gleichem Fokusobjekt zur propagandistischen Farce. Man kann ein Bild beschreiben, interpretieren, kritisieren, ja auch als Fälschung entlarven – aber nicht wie ein Argument widerlegen.
Warum dieser banale medientheoretische Hinweis? Schlicht und ergreifend, um eine ebenso banale, aber scharfe Kontrastfrage zu stellen: Wo ist die Kamera aus? Die Antwort bei Karl Lauterbach ist einfach: Bei jeder Lücke seines Lebenslaufs.
Hier geht es um einen Sachverhalt, der in schärfstem Gegensatz zu seiner heutigen ärztlichen Inszenierung steht: Karl Lauterbach hätte im Jahre 1999 die Approbation zwingend benötigt. Zu diesem Zeitpunkt ist er nämlich Prüfleiter einer Arzneimittelstudie gewesen. Um ein Missverständnis gleich zu Beginn auszuräumen: Lauterbach wurde im Jahre 2010 approbiert. Der „älteste Jungarzt in dieser Runde“ darf sich seitdem de iure Arzt nennen. Deswegen durfte er bei seinem ersten öffentlichen Termin nach dem Amtsantritt im Dezember 2021 selbst zwei Kindern die Spritze setzen.
Die nachträgliche Approbation stößt bei ärztlichen „Kollegen“ aus Lauterbachs Generation gleichwohl auf Missfallen. Er umging auf diese Weise die Plackerei des „Arztes im Praktikum“, eine 1,5-jährige Praxisphase, die vorher (bis 2004) für die Erlangung der Approbation eine Voraussetzung war, im Jahre 2010 allerdings nicht mehr. Das Missfallen ist verständlich, aber Lauterbach hat mit der nachträglichen Beantragung der Approbation nicht illegal gehandelt.
2010 ist allerdings nicht 1999. Der Blick ins damals gültige Arzneimittelgesetz (AMG) ist eindeutig: § 40 Abs. 1 Nr. 4 AMG verlangte, dass die klinische Prüfung eines Arzneimittels „von einem Arzt geleitet werden muss, der mindestens eine zweijährige Erfahrung in der klinischen Prüfung von Arzneimitteln nachweisen kann“.1 Die Berufsbezeichnung „Arzt“ hat gem. § 2 Abs. 1 der Bundesärzteordnung (BÄO) die Approbation zur Voraussetzung.2 Sie ist seit jeher geschützt.
Die Prüfunterlage der Firma Bayer, die im April 1999 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingereicht wurde, ist terminologisch eindeutig. Sie nennt Karl Lauterbach als zuständigen „Prüfleiter“. Das BfArM bestätigte auf Nachfrage die Rolle.
Ein alter Hut? Mitnichten! Das Arzneimittel, um das es hier ging, ist bis heute mit Lauterbachs Namen verbunden. Es ging als tödlicher Flop in die Medizingeschichte ein: Cerivastatin, bekannter unter dem Handelsnamen Lipobay der Firma Bayer. Geplant war nach Prüfunterlage ein fünfjähriger Studienzeitraum beginnend Mitte 1999. Vom Markt genommen wurde das Medikament im August 2001 durch die Firma Bayer selbst, nachdem sich Hinweise auf teilweise tödliche Nebenwirkungen häuften; diese bestanden in einer sogenannten Rhabdomyolyse, einem krankhaften Muskelzerfall. Die Prüfbehörden EMA und BfArM wiesen auf eine Kontraindikation mit dem Arzneimittel Gemfibrozil hin, allerdings trat die Rhabdomyolyse auch ohne die gleichzeitige Einnahme auf, wie das Arznei-Telegramm damals berichtete.3 Lipobay hatte den Einsatzzweck, die Blutfettwerte zu verringern.
Folglich kam die Studie nicht zum Abschluss. In der wissenschaftlichen Literatur sind Spuren der so benannten „RESPECT-Studie“ nachweisbar. Der Studienplan und -beginn ist in einem Abstract und einem Artikel publiziert worden.4 Korrespondenzautor beider Texte war Karl Lauterbach. In den Forschungsbericht der Universität zu Köln für die Jahre 1998/1999 ließ sich Karl Lauterbach ebenfalls als „Leiter“ eintragen.5
Karl Lauterbach reichte selbst einen Antrag an die Ethik-Kommission der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln ein. Diese stimmte dem Vorhaben am 18. Dezember 1998 zu und wies explizit auf die Voraussetzungen des Arzneimittelgesetzes hin. Der Ethik-Kommission oblag es, die Voraussetzung zu prüfen,6 was sie aber offensichtlich nicht tat.
Entscheidend ist: Die gesetzeswidrige und gleichzeitig bewusste Betätigung als klinischer Leiter bzw. Prüfleiter ist demnach zweifelsfrei belegt. Glaubhafte Abstreitbarkeit, besser bekannt unter dem englischen Begriff plausible deniability, kann ausgeschlossen werden.
Die Ethik-Kommission prüfte nicht nach
Hintergrund sprach mit dem Freiburger Apotheker Dr. Hans-Joachim Kremer, der auf über 35 Jahre Erfahrung in pharmazeutischer Medizin und klinischer Forschung zurückgreifen kann:
Seinerzeit galt aufgrund der internationalen Leitlinie ICH E6 (Good Clinical Practice, GCP) es als hinreichend, diese Erfahrung mit einem Lebenslauf inkl. Literaturliste zu belegen. Die ‚Prüfung‘ dieses Sachverhalts oblag an sich der zuständigen Ethik-Kommission. Auf jeden Fall hätte hätte diese prüfen müssen, ob Karl Lauterbach überhaupt als Arzt im Kammerbereich registriert war.
Die nachlässige Arbeit der Ethik-Kommission findet eine Parallele in der Arbeit zahlreicher Kommissionen, die aus diversen Anlässen tagten, aber im Hinblick auf Karl Lauterbach stets nach derselben Devise handelten: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. So gab Karl Lauterbach im Jahre 1995 gegenüber der Berufungskommission der Universität Tübingen an, er leite ein Institut, das zu dem Zeitpunkt formal nicht existierte. Er gab dann im Jahre 2023 gegenüber einer Kommission an der Universität zu Köln an, diesen Umstand „stets transparent“ gemacht zu haben.7 Die Kommission tagte auf Anregung des Verfassers wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens, für die vorgebliche Transparenz gibt es keine Belege. Ob Lauterbach 1999 der Ethik-Kommission der Universität zu Köln über seine fehlende Approbation aufklärte, ließe sich nur anhand des Originalantrages fällen. Dies ist allerdings nicht möglich, da die Universität zu Köln nach Auskunft der Pressestelle darüber nicht mehr verfügt. Dieser sei „zehn Jahre nach Abschluss der klinischen Studien vernichtet“ worden.
Der bloße Hinweis auf die Rechtslage ohne eigeninitiative Aufklärung hinterlässt einen bitteren Beigeschmack: Dem Verfasser versagt die Universität zu Köln bis heute eine Entscheidung über eine Einsicht in diverse Akten, die im Zusammenhang mit Karl Lauterbachs Institutsgründung und seiner Berufung stehen. Das Protokoll einer Prüfungsausschuss-Sitzung, das Professor Lauterbachs Abwesenheit in der Lehre dokumentiert hätte, ist einfach verschwunden und dem Universitätsarchiv nie angeboten worden, wie es eigentlich üblich gewesen wäre. Karl Lauterbach ist der spiegelbildliche Fall zu zahlreichen Hochschullehrern, die vermehrt in den letzten Jahren vom Katheder entfernt wurden. Die Begründungen hierfür genügten nach Untersuchungen von Heike Egner und Anke Uhlenwinkel rechtlichen Ansprüchen häufig nicht.8 Bei Karl Lauterbach geschieht hingegen nichts.
Der Lipobay-Skandal
Der Fokus auf Lauterbach darf über eines nicht hinwegtäuschen: Schon im Jahre 1999 agierte er im Verbund mit Ahnungs- und Skrupellosen. Neben der Ethik-Kommission hat auch die Firma Bayer, die den Antrag eingereicht hat, eine Prüfung nicht für nötig gehalten. Verständlich ist es: Einem Studenten glaubt man, dass er die Grundschule abgeschlossen hat; einem studierten Mediziner mit zwei Doktortiteln und Professorenhut kauft man im Zweifel eben auch die Approbation ab. Wer gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt hat, ist allerdings zunächst zweitrangig gegenüber der eigentlichen Erhebung des Befundes, dass hier offenkundig gegen das Gesetz gehandelt wurde, das die Qualität einer Medikamentenprüfung sichern sollte. Für diese Prüfung hatte Karl Lauterbach als Prüfleiter aber eben eine zentrale Verantwortung. Diese Episode als ein nebensächliches Fehlerchen abzutun, ist ein Schlag ins Gesicht aller Geschädigten, die teilweise Jahrzehnte vor Gericht um Schadensersatz streiten. Ein solcher wird außerhalb des US-amerikanischen Rechtssystems nur individuell und tröpfchenweise anerkannt. Er ist im Hinblick auf die einkalkulierten und teilweise erreichten exorbitanten Gewinne allenfalls mit dem Mikroskop sichtbar.
Cerivastatin, das als Blockbuster-Droge Milliardengewinne sichern und den Statin-Markt der Cholesterinsenker aufmischen sollte, wurde allein in Deutschland millionenfach verschrieben. 1999 generierten über 915.000. Verordnungen 170 Millionen DM Umsatz. 2000 brachten 1,113 Millionen Verordnungen 214,7 Millionen DM Umsatz. Im Jahr der Marktzurücknahme gab es bis zum August 2001 immer noch 913.000 Verordnungen, die 91,9 Miillionen DM in die Kassen von Bayer spülten.9 Das Medikament sollte Fett verbrennen helfen, baute aber Muskeln ab und war Ursache vieler Todesfälle. Was sagt die Firma Bayer heute? Sie äußerte sich auf Nachfrage zur Prüfung der ärztlichen Qualifikation Lauterbachs nicht.
Richten wir den Fokus dennoch noch einmal auf Lauterbach. In der Presseberichterstattung des Jahres 2001, dem Jahr, in dem die Firma Bayer Lipobay vom Markt nahm, taucht er als Noch-Nicht-Politiker, aber Immer-Noch-Wissenschaftler auf. Lauterbach wird beispielsweise im Spiegel mit folgendem Statement zitiert:
‚Wenn man genauer darüber nachdenkt‘, sagt Karl Lauterbach vom Institut für Gesundheitsökonomie der Universität Köln, der drei Jahre lang in einer großen Studie die Wirksamkeit von Cerivastatin zur Vorbeugung von Schlaganfällen untersucht hat, ‚ist das wirklich Wahnsinn.‘
Interessant ist an dieser Aussage aus 2001, dass der Spiegel erneut einen Beleg für Lauterbachs fragwürdigen Umgang mit Zahlen abgedruckt hat: Die Untersuchung begann im Mai 1999 und dauerte spätestens bis August 2001, dem Datum der Marktzurücknahme. Die aus dem Antrag und den veröffentlichten Texten rekonstruierte Chronik gibt „drei Jahre lang“ nicht her. Die Quelle für diese zeitliche Dehnung ist Karl Lauterbach selbst. Der Zweck wird wiederum bei Lektüre des Spiegel-Artikels sichtbar:
„Um solche Pleiten wie bei Lipobay zu verhindern, meint Lauterbach, ›brauchen wir viel mehr Langzeitstudien‹. Gründliche Langzeitstudien sind zwar extrem teuer – aber immer noch weitaus billiger als jene wirtschaftliche Katastrophe, die Bayer jetzt zu verkraften hat.“
Anhand der Originalquellen ist nun klar: Die entsprechenden rechtlich bindenden Qualifikationen zur Durchführung einer solchen Langzeitstudie hatte er selbst nicht. Mit dem plötzlichen und schizophren anmutenden Gesinnungswandel war Lauterbach jedoch wieder auf der richtigen Seite. „Wirklich Wahnsinn“ ist in dem Zusammenhang, dass Pharmakonzerne Lauterbachs Institut laut Spiegel mit 800.000 DM Drittmitteln gefördert haben – im Jahre 2000!
Gegenüber der Welt sieht die Weitergabe der heißen Kartoffel am 20. August 2001 so aus:
Der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach macht die ‚mangelhafte Zusammenarbeit der internationalen Zulassungsbehörden‘ für das Lipobay-Debakel mitverantwortlich.
Lauterbach nennt hier nicht die eigene Antragspraxis und die Arbeit der hauseigenen Ethik-Kommission. Mit anderen Worten: Mit dem Verweis auf internationale Zusammenhänge schwurbelt Lauterbach konsequent um den eigenen Verantwortungsbereich und den seiner hauseigenen Ethik-Kommission herum.
Übrigens: Hintergrund fragte auch beim Bundesgesundheitsministerium nach den Nachweisen des heutigen Ministers für die damals erforderlichen Qualifikationen. Die Pressestelle nahm wie folgt Stellung:
Der Bundesgesundheitsminister hatte zum Zeitpunkt der Studienvergabe seine ärztliche Prüfung bereits abgelegt und entsprechende Erfahrungen in der Durchführung klinischer Studien. Seine Eignung als Studienleiter hat die Ethikkommission der Universität zu Köln daher bestätigt.
Ein Nachweis ist das nicht. Die Episode wirft insgesamt ein bezeichnendes Licht auf das Agieren des heutigen Gesundheitsministers: Wie ernst kann man jemanden nehmen, für den Gesetze in der Vergangenheit keine bindende Wirkung hatten, der aber heute einem Ministerium vorsteht, das Gesetzesvorlagen erstellt, die die Gesundheit einer ganzen Nation betreffen?
Dieser Aussage wollen wir eine öffentliche des Ministers aus dem August 2024 gegenüberstellen: „Für Lobbyisten zählt nicht, ob ein Gutachter ein Idiot ist, solange er ihr Idiot ist.“10
Quellen
1 Vgl. hierzu BGBl, 1998, Teil I, S. 3586–3638.
2 Vgl. hierzu BGBl, 1987, Teil I, S. 1218–1225; der entsprechende Paragraph ist seitdem unverändert. Vgl. hierzu auch Klaus D. Wiedey: Ordnungsgemäße klinische Prüfung (GCP), in: Wagner, Wolfgang (Hrsg.): Arzneimittel und Verantwortung. Grundlagen und Methoden der Pharmaethik, Springer: Berlin u.a. (1993: 212–264, hier 239): „Eine weitere Bedingung für die Ernennung zum klinischen Prüfleiter ist die deutsche ärztliche Approbation.“
3 Vgl. hierzu blitz-a-t vom 02. Juli 2001: Besonderes Risiko: Rhabdomyolyse bei CSE-Hemmer Cerivastatin (Lipobay, Zenas). Online: https://www.arznei-telegramm.de/html/2001_07/0107521_01.html.
4 Das Abstract: Lauterbach, K.W et al.: Risk evaluation and stroke prevention in the elderly — Cerivastatin trial (RESPECT). Atherosclerosis, Volume 151, Issue 1, 73-74. Online: https://doi.org/10.1016/S0021-9150(00)80336-6. Ferner eine Vorhabenplanung: Lauterbach KW, Binnen T, Evers T, Harnischmacher U, Ludwig D, Hanrath P, Krone W, Lehmacher W, Leys D, Neuhaus K-L, Windler E. Primary prevention of stroke: RESPECT. European heart journal, supplement 2000;2(D):D51-D53.
5 Universität zu Köln (Hrsg.): Forschungsbericht der Universität zu Köln 1998/99, Köln (2000: 633).
6 Vgl. hierzu wieder das AMG § 40 Abs. 1 Satz 2 AMG. S. o. Fn. 1.
7 Vgl. hierzu die Dokumentation des Verfahrens in zwei Teilen unter https://www.hintergrund.de/politik/inland/colonia-obscura-der-minister-mauert-und-die-universitaet-mauert-mit/. In Verbindung mit einer weiteren Lüge aus dem Jahre 1996 ergibt sich eine dreifache Lügengeschichte: https://www.hintergrund.de/politik/inland/mit-angezogener-handbremse-aufarbeiten/.
8 Vgl. hierzu grundlegend: Egner, Heike und Uhlenwinkel, Anke: Entlassung und öffentliche Degradierung von Professorinnen[…]. Eine empirische Analyse struktureller Gemeinsamkeiten anscheinend unterschiedlicher „Fälle“[…], in: Beiträge zur Hochschulforschung, 43. Jahrgang (1-2/2021: 42–63). Online: https://www.bzh.bayern.de/archiv/artikelarchiv/artikeldetail/entlassung-und-oeffentliche-degradierung-von-professorinnen-eine-empirische-analyse-struktureller-gemeinsamkeiten-anscheinend-unterschiedlicher-faelle. Anm. zum Literaturzitat: Die beiden Fußnotentexte im Titel wurden der besseren Lesbarkeit wegen hier nicht wiedergegeben.
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9 Vgl. hierzu die Arzneiverordnungs-Reports 2000–2002, hrsg. Von U. Schwabe und D. Paffrath, Springer: Berlin–Heidelberg (2000: 40), (2001: 57) und (2002: 54).