Castor-Transport geht in letzte Runde
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Von REDAKTION, 28. November 2011 –
Der am Mittwoch in Frankreich gestartete Transport von elf Castor-Behältern mit hoch radioaktivem Müll geht in die letzte Runde. Im Verlauf des heutigen Nachmittags wurden die Container im Verladebahnhof Dannenberg umgeladen, um den letzten Weg nach Gorleben auf der Straße fortzusetzen. Rund zweitausend Demonstranten haben sich am Ortseingang zu einer Sitzblockade zusammengefunden.
Mehreren tausend Menschen war es in den Tagen zuvor gelungen, den diesjährigen Transport so sehr zu verzögern, wie keinen zuvor.
Es war eine Mischung von Massenblockaden und Einzelaktionen, die den Transport immer wieder zum Anhalten brachten. Am Sonntagmorgen hatten sich vier Landwirte in einer 600 Kilogramm schweren Betonpyramide an die Gleise gekettet und sorgten so für die größte Verzögerung. Der von insgesamt 19.000 Polizisten abgesicherte Transport wurde auch durch mehrere Sitzblockaden aufgehalten, an denen bis zu tausend Menschen teilnahmen. Zur Auflösung von Blockaden setzte die Polizei auch Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke ein. Mehr als hundert Demonstranten sollen dabei verletzt worden sein. Ein Sprecher der Polizei sprach von 35 Verletzten in den eigenen Reihen.
Während die Proteste zumeist friedlich verliefen, lieferten sich rund zweihundert militante Atomkraftgegner am Sonntagnachmittag nahe dem Bahnhof Leitstade einen Schlagabtausch mit den Einsatzkräften und bewarfen Polizisten mit Steinen und Feuerwerkskörpern und setzten Barrikaden in Brand. Bereits am Freitag wurden zwei Polizeifahrzeuge angezündet.
Versuche von Demonstranten, auf die Gleise zu gelangen um dort zu „schottern“, also Steinen aus dem Gleisbett zu entfernen, um dieses zu destabilisieren, unterband die Polizei mit einem harten Vorgehen, welches auf Kritik stößt.
Die Polizei hatte bereits im Vorfeld gewarnt: „Schottern ist eine Straftat und ein gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr“, sagt Torsten Oestmann von der Polizeidirektion Lüneburg. „Das hat auch das Verwaltungsgericht Lüneburg festgestellt. Wir dürfen deshalb Zwangsmittel einsetzen.“
Für die Störung öffentlicher Betriebe nach Paragraf 316 b des Strafgesetzbuches ist eine Höchststrafe von bis zu zehn Jahren vorgesehen.
„Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass sogenannte Schotterer Verkehrswege unsicher machen und dass die Grünen sich davon nicht distanzieren“, sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder am heutigen Montag in Berlin. „Das ist ein klarer Eingriff in die Verkehrssicherheit, ein Straftatbestand.“ „Ein unglaublicher Vorgang“ sei es, wenn das entsprechende Eingreifen der Polizei kritisiert werde, so der CDU-Politiker.
Doch von einem klaren Eingriff in die Verkehrssicherheit kann nicht die Rede sein. Denn die betroffenen Gleise, die zum Ziel der Schotter-Aktivisten wurden, sind stillgelegt – nur für die Atommüll-Transporte werden sie genutzt. Da diese aber die am besten bewachten Transporte in Deutschland sind, kann nicht von einer wirklichen Gefahr gesprochen werden. Nichtsdestotrotz handelt es sich beim Schottern um Straftaten, die die Polizei nicht dulden kann.
Schottern verstößt zwar gegen Gesetze, aber es handelt sich dabei dennoch um eine friedliche Protestform, da gegen niemanden Gewalt angewendet wird. Das sollte nicht vermischt werden, zumindest wenn das Interesse an einer ernsthaften und nüchternen Debatte besteht. Doch im Polizeibericht werden Schotter-Aktivisten mit gewaltbereiten Demonstranten gleichgesetzt. Die Schotterer fühlen sich zu Unrecht kriminalisiert. „Steine werfen gehört nicht zum Konzept“, beteuert Kampagnen-Sprecher Mischa Aschmoneit. Wenn auf Demonstranten, die auf dem Rückzug sind, auf Verletzte und Sanitäter eingeknüppelt werde, hinterlasse dies bei den Teilnehmern eine neue Erfahrung: „Es geht offenbar nicht ohne Gewalt, das Restvertrauen in die Demokratie zerbröselt. Zerbrochene Schienen lassen sich schnell reparieren, gebrochene Knochen nicht so schnell.“
Das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat dürfte auch für die rund dreitausend Menschen getrübt worden sein, die an einer rund 15-stündigen Sitzblockade teilnahmen. Die Polizei löste die Blockade am Sonntagmorgen auf und verbrachte 1.300 der Blockierer in eine Sammelstelle unter freiem Himmel, die aus einer Wagenburg von Polizeifahrzeugen errichtet worden war. Die Polizei nahm den Menschen ihre Jacken, Decken und Rucksäcke ab und erpresste die nun Frierenden mit der Vorgabe, dass nur gehen dürfe, wer „seine Personalien angibt und dafür einen Platzverweis akzeptiert“.
Wohl auch um ihren harten und auch unverhältnismäßigen Einsatz zu rechtfertigen, sprechen Vertreter der Polizei von einer neuen Qualität der Gewalt auf Seiten der Demonstranten.
„Das ist eine Intensität der Gewalt, die wir hier sonst nicht kannten“, sagte der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Dietmar Schilff.
Eine etwas eigenartige Rechtsauffassung legte Lüneburgs Polizeisprecher Torsten Oestmann an den Tag, als er die Frage nach der Verhältnismäßigkeit polizeilicher Gewaltanwendung mit einer Gegenfrage beantwortete: „Was machen Sie, wenn Sie Haus und Garten haben und Randalierer stehen vor der Tür?“
Lüneburgs Polizeipräsident Friedrich Niehörster sprach von einer zunehmenden Gewaltbereitschaft bei den Protesten. Den Ort Metzingen bezeichnete er gar als ein „Widerstandsnest“ – ein Begriff, der sonst nur im Zusammenhang mit den Taliban in Afghanistan Verwendung findet. Für die „exzessive Gewaltbereitschaft“, so Niehörster in einem Bericht der Welt am Sonntag, ließen sich „offenbar immer mehr Menschen gewinnen“.
Vielleicht sogar auch in den Reihen der Polizei. Angesichts brennender Polizeifahrzeuge kämen „echte Hassgefühle“ auf, zitiert die Nachrichtenagentur dpa einen Beamten.
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Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth nannte den Polizeieinsatz „absolut überzogen“ und sprach von einem „Anschlag auf die Demokratie“.
Richtig ist vielmehr: Polizisten müssen den Kopf hinhalten und bekommen den Unmut der Bevölkerung zu spüren für eine Politik, die sie nicht zu verantworten haben. Es ist eine den Profitinteressen der Atomlobby verpflichtete Politik, die die Polizei gegen die Bevölkerung ins (Castor-)Rennen schickt, um das Deponieren radioaktiven Mülls in einem illegal als Endlager genutzten Salzstock zu gewährleisten. Der „Anschlag auf die Demokratie“ setzt also viel früher ein. Nämlich da, wo sich Politiker nicht den Interessen ihrer Wähler verpflichtet fühlen, sondern als Handlanger von Industrie und Finanzkapital agieren – und dabei mischen die Grünen fleißig mit.