Innenpolitik

Berlin: Zehntausende demonstrieren für Agrarwende

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Von SEBASTIAN RANGE, 20. Januar 2014 –

Zum vierten Mal in Folge demonstrierten am Samstag in Berlin im Vorfeld der Grünen Woche Tausende für eine Agrarwende. Laut Veranstaltern zogen 30.000 Menschen – die Polizei sprach von 25.000 Teilnehmern – durch das Regierungsviertel zum Bundeskanzleramt, um dort ihrem Protest gegen die Agrarindustrie, Massentierhaltung, Gen-Food und das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP Ausdruck zu verleihen. Über einhundert Initiativen, vornehmlich Umwelt-, Verbraucher- und Tierschutzorganisationen sowie Kleinbauern und Entwicklungsorganisationen, hatten unter dem Motto „Wir haben Agrarindustrie satt“ zu den Protesten mobilisiert.  

Der Demonstrationszug wurde von rund siebzig Traktoren angeführt. Einige Landwirte waren mit ihren Treckern aus ganz Deutschland bis zu 50 Stunden lang angereist. Auf Transparenten hieß es unter anderem „Kein Gen-Food“,  „FairHandel statt Freihandel“ oder „Gegen Wachstumswahn“.

Zeitgleich kletterten einige Protestierende auf dem Berliner Messegelände auf den Funkturm, um für mehr Tierschutz in der Landwirtschaft zu demonstrieren. Sie entrollten ein Transparent mit der Aufschrift „Bloß nicht genau hinsehen“.

Die Demonstranten forderten von der Bundesregierung einen Kurswechsel in der Agrarpolitik. Statt weiterhin „Klientelpolitik für die Agrarindustrie“ zu betreiben, solle sie sich für eine soziale, tiergerechte und ökologische Agrarwende einsetzen.

Die Proteste waren kaum zu Ende, da biederte sich Bundeslandwirtschaftsminister Hans-Peter Friedrich (CSU) auch schon gegenüber den Demonstranten an: „Alle Argumente, die dort vorgetragen werden, spielen auch in unserer Diskussion eine Rolle und haben ihre Berechtigung“, sagte er. Es sei gut, dass die Demonstranten ihre Meinung sagten, „weil es zeigt, dass viele Menschen sich Gedanken machen um die Welternährung“. Gute Landwirtschaft mit nachhaltiger Produktion und hoher Qualität wollten alle erreichen. Über den Weg dorthin gebe es verschiedene Ansichten.

Die schmeichelnden Worte des Ministers fielen bei den Protest-Organisatoren nicht auf Gegenliebe. „Die Große Koalition fährt die Agrarpolitik an die Wand! Wer Megaställe genehmigt und subventioniert, wer auf Export und Freihandel setzt und dann auch noch darüber nachdenkt, Gentech-Pflanzen auf Europas Äckern zuzulassen, der lässt die Bäuerinnen und Bauern im Stich und handelt gegen die Interessen von Verbrauchern, Tieren und Umwelt“, sagte Jochen Fritz vom Protest-Bündnis. „Wir erwarten von der neuen Bundesregierung eine Landwirtschaftspolitik, die das Arten- und Höfesterben stoppt und den Hunger in der Welt bekämpft.“

Grünen-Chefin Simone Peter sieht in der Demonstration laut einer Mitteilung „ein deutliches Stoppschild gegen Massentierhaltung in Megamastanlagen, Gentechnik auf dem Teller und Pestizide im Essen“. Der Ökolandbau zeige, dass es auch anders gehe. Der Bio-Branche dürften keine Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, weil der neue Agrarminister vor allem auf industrielle Massenproduktion setze. Der Jugendverband der Grünen hatte sich an den Protesten beteiligt.

Im Fokus der Kritik der Demonstration stand insbesondere das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. „Hinter verschlossenen Türen verhandelt die EU-Kommission über ein Freihandelsabkommen, das Bauern und Verbrauchern gleichermaßen schadet. Die große Mehrheit der Menschen will keine Chlorhühnchen, kein Hormonfleisch und keine Gentechnik durch die Hintertüre“, so Jochen Fritz. Genau das drohe aber, wenn das geplante Freihandelsabkommen abgeschlossen wird.  

Kerstin Lanje, Referentin für Welthandel und Ernährung der Hilfsorganisation Misereor, die ebenfalls zu den Protesten aufgerufen hatte, kritisierte die (a)sozialen Auswirkungen der Agrarpolitik, vor allem in den ärmeren Ländern: „Milchpulver, Hühnchenreste und Schweinefleisch, die in Massen von Deutschland und der EU exportiert werden sind so billig, dass Bauern in Afrika damit nicht konkurrieren können. Auch unsere Soja-Importe als Futtermittel für die massenhafte Fleischproduktion gehen auf Kosten der Armen in den Herkunftsländern. Riesige Flächen von wertvollem Ackerland werden für die Sojaproduktion genutzt, die dann für den Anbau von Lebensmitteln fehlen. Menschen werden von ihrem Land vertrieben. Pestizide für die anfälligen Monokulturen vergiften Menschen, Tiere und die Umwelt.“

Auch die Verbraucherorganisation Foodwatch warf den EU-Agrarministern vor, mit ihrer Politik den Hunger in der Welt zu befördern, anstatt drastische Preissprünge bei Lebensmitteln zu verhindern. „Wer den Hunger in der Welt bekämpfen will, kann nicht gleichzeitig Biosprit fördern und die Spekulation mit Nahrungsmitteln weiter laufen lassen“, sagte Geschäftsführer Thilo Bode der Nachrichtenagentur dpa.

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Die diesjährigen Proteste waren die bislang größten, seit dem sich die verschiedenen Initiativen vor vier Jahren zum, „Wir haben es satt!“-Bündnis zusammengeschlossen haben. In den Vorjahren hatten sich zwischen sieben und zwanzigtausend Menschen an den Demonstrationen beteiligt.

(mit dpa)

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