9. Mai in Berlin: „Tag des Sieges“ und Tag der Schande
Für die einen war der 9. Mai in der deutschen Hauptstadt der „Tag des Sieges“, an dem sie den Sieg über den Faschismus feierten und ihrer Angehörigen gedachten. Für die anderen war es eher ein Tag der Schande, weil sie in Polizeiuniform Fahnen- und Symbolverbote durchsetzten. Und während Ukrainer ungehindert hetzen durften, wurden Gedenkende mit Fragen zur Ukraine provoziert.
Die einen, das waren all jene Menschen aus Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, aber auch Deutsche, die an diesem Tag zu den sowjetischen Ehrenmälern in den Berliner Stadtbezirken Treptow, Tiergarten und Schönholz zum Gedenken und Feiern kamen. Zu ihnen gehörte Sergej Netschajew, Russlands Botschafter in Deutschland. „Das ist für uns immer ein heiliger Tag“, sagte er in einem kurzen Interview auf dem Weg zur offiziellen Kranzniederlegung in Berlin-Treptow. Diesen Tag feiern wir traditionell überall, wo unsere Toten liegen, die für die Freiheit und gegen den Nazismus gefallen sind. Das werden wir immer auch künftig in ehrendem Gedenken feiern.“
Das geschehe überall in Deutschland, wo es sowjetische Kriegsgräber und Denkmäler gebe. „Damit der Nazismus nie mehr den Kopf erhebt“, so der Botschafter. Er danke allen in Deutschland, „die mit uns Solidarität spüren und zeigen. Wir haben viele Freunde in Deutschland. Das wissen wir auch zu schätzen. Und die Freunde sind immer da.“
Netschajew ehrte gemeinsam mit Amtskollegen aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken die gefallenen Soldaten. Unter denen, die am Dienstagmorgen deshalb zum Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park gekommen waren, waren auch eine ganze Reihe Deutsche. Unter ihnen Egon Krenz, der letzte SED-Generalsekretär und vorletzte DDR-Staatsratsvorsitzende, bevor die DDR 1990 unterging. „Vor allem um der 27 Millionen Toten der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg zu gedenken“, sei er nach Treptow gekommen, sagte er auf die Frage danach.
„Politischer und moralischer Skandal“
Schon als Kind sei er zu dem Ehrenmal gekommen, berichtete er. Mit Blick auf die Gegenwart sagte er: „Und in dieser Zeit, gerade wo eine Russophobie in Deutschland herrscht, liegt mir daran, denen zu danken, die Deutschland vom Faschismus befreit haben.“ Angesichts der Haltung der deutschen Regierung und der deutschen Gesellschaft zu Russland werde es sehr schwierig werden, wieder zu Verständigung und Dialog zurückzufinden, so Krenz. Die Russen würden nie vergessen, „dass die Deutschen ein Prinzip aufgegeben haben, das in der Zeit des Kalten Krieges sowohl zwischen der Bundesrepublik Deutschland und auch der DDR herrschte: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen“. Dieser werde gegenwärtig durch die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine gefährdet.
Der ehemalige DDR-Staats- und Parteichef bezeichnete es als „fürchterlich, dass es verboten ist, sowjetische Fahnen hier zu zeigen. Die Fahne, die Geschichte gemacht hat, ist das Banner des Sieges, das 1945 auf dem Reichstag gehisst worden ist“. Es sei ein politischer und moralischer Skandal, dass ein solches Verbot an den sowjetischen Gedenkstätten gelte. „Die Tatsache ist wahrscheinlich der zunächst tiefste Punkt der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und Deutschland. Und das ist natürlich für die Zukunft kein gutes Omen.“
Solange die diplomatischen Delegationen auf dem Gelände des Ehrenmals waren, durften sowjetische und russische Fahnen und Symbole gezeigt werden. So wehte für einen Moment wieder die sowjetische Siegesfahne in Berlin. Aber kurz danach erklärten deutsche Polizisten russischen Menschen und jenen aus anderen Sowjetrepubliken, wie sie ihrer Angehörigen gedenken dürfen. Frauen wurden aufgefordert, sich umzuziehen, weil ihre Kleidungsstücke weiß, blau und rot waren – die Farben der Russischen Föderation. Andere durften ihre Blumen erst niederlegen, wenn sie die orange-schwarzen „Sankt-Georg-Bänder“ vom Handgelenk entfernt hatten. Oder sie mussten diese vom Rucksack entfernen, als sie das Gelände verlassen wollten.
Die Berliner Polizei hatte im Vorfeld des 8. und 9. Mai in einer „Allgemeinverfügung“ verboten, während beider Tage an den Sowjetischen Ehrenmalen in der Hauptstadt „russische und ukrainische Fahnen, Georgsbänder und Uniformen oder Uniformteile auch in abgewandelten Formen zu zeigen“. Verboten wurde ebenso, „Marsch- bzw. Militärlieder abzuspielen und Ausrufe zu tätigen, die aufgrund der aktuellen Situation geeignet sind, den Krieg in der Ukraine zu billigen, zu glorifizieren oder zu verherrlichen“. Das Berliner Verwaltungsgericht hatte das Fahnenverbot wieder aufgehoben, wogegen die Berliner Polizei beim Oberverwaltungsgericht Beschwerde einlegte, aber nur im Fall der russischen Fahnen. Und dieses Verbot wurde dann für zulässig erklärt und durchgesetzt.
Erlaubte ukrainische Hetze
Das führte zu zahlreichen absurden Situationen. Viele mussten Symbole und Fahnen aus der Sowjetunion am Eingang zum Ehrenmal in Treptow abgeben, wenn sie Blumen niederlegen wollten. Albrecht Ludloff aus Berlin hatte ursprünglich ein Plakat dabei, auf dem die drei Farben der russischen Trikolore künstlerisch verarbeitet waren. Das musste er abgeben, weil laut Polizei die Farbkombination an die russische Fahne erinnerte, wie er berichtete. Die Aussagen auf dem Plakat, „Ruhm und Ehre der Roten Armee“ und „Kampf dem Faschismus“ hätten dagegen nicht als anstößig gegolten.
Das Verbot wurde mit dem vermeintlichen Schutz des Gedenkens begründet. Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine hieß es: „Dieser Krieg darf sich in Berlin, speziell im Hinblick auf das symbolträchtige Datum, nicht über den demokratischen Diskurs hinaus in Konflikten oder Auseinandersetzungen Bahn brechen.“ Das wurde gegenüber allen Russen und anderen durchgesetzt, die an die Sowjetunion und die Rote Armee erinnerten. Dabei hatten die deutschen Polizisten freie Hand zu entscheiden, was als verbotswürdig galt und was nicht – es gab keine Liste, was genau unter das Verbot fiel, erklärte ein Polizeibeamter auf Nachfrage.
Dagegen waren nicht nur ukrainische Fahnen und Symbole erlaubt: Auf dem Gelände des Ehrenmals in Treptow gab es im vorderen Bereich einen Stand, an dem Ukrainer offen gegen Russland hetzen durften. Das ging so weit, dass an einem Tisch ein Plakat hing, auf dem „First Aid in case of Ruscism“ (Erste Hilfe in Fall von Ruschismus – eine ukrainische Neuschöpfung) angeboten wurde. Darauf lagen neben einem Molotowcocktail schwere Werkzeuge, mit denen Menschen erschlagen werden können.
Nach einem Hinweis dazu klärte ein Polizeibeamter vor Ort mit der zuständigen Abteilung des Landeskriminalamtes (LKA) telefonisch ab, ob es sich um eine Straftat seitens der Ukrainer handelt. Die Auskunft: „Es handelt sich nicht um eine Straftat.“ Auch dieser Uniformierte beklagte sich, dass es nicht einfach sei, das Verbot mit seinen unklaren Vorgaben umzusetzen. Das ging weiter in Berlin-Mitte, wo das „Unsterbliche Regiment“ vom Brandenburger Tor zum Sowjetischen Ehrenmal in Tiergarten ziehen wollte.
Provokationen gegen das Gedenken
Die Menschen aus verschiedensten Regionen der einstigen Sowjetunion durften mit den Bildern ihrer Großväter und Urgroßväter, die in der Roten Armee gegen den Faschismus gekämpft hatten, erst verspätet losgehen. Sie kamen auf der Straße des 17. Juni bis kurz vor das Ehrenmal und wurden dort von einer Sperrkette deutscher Polizisten am Weitergehen gehindert. Mehrmals wurden sie zuvor per Lautsprecher erneut aufgeklärt, was beim Gedenken alles verboten ist. Dann sangen sie doch tatsächlich russische Lieder – und durften dafür nur in Gruppen von bis zu 25 Menschen durch die Polizistensperre zum Ehrenmal. Das Terrain wirkte, als gebe es dort fast mehr deutsche Polizisten als Menschen, die Blumen niederlegen.
Jene, die vor allem zum Gedenken an die Gefallenen der Roten Armee zum Ehrenmal gekommen waren, wurden dann von Vertretern solcher Sender wie der Deutschen Welle (DW) mit inquisitorischen Fragen provoziert. „Wie viele Menschen müssen noch in der Ukraine sterben?“, wollte ein DW-Mitarbeiter vor laufender Kamera von zwei Russen wissen. Die ließen sich auf die Provokation nicht weiter ein und ließen den Mann vom deutschen Propaganda-Sender stehen. Andere kamen nicht so glimpflich davon und werden sicher in den Berichten der DW und anderer deutscher Medien über den 9. Mai als Beispiele für die „bösen uneinsichtigen Russen“ gezeigt.
Zu den Freunden Russlands hierzulande, von denen Botschafter Netschajew sprach, zählt Christian Mantey aus Berlin. Er beteiligte sich am „Unsterblichen Regiment“ und trug ein Plakat mit dem Foto der Siegesfahne der Roten Armee auf dem Reichstag 1945 und der Aufschrift „Спасибо!“ (Danke). Er sei dankbar für die Befreiung vom Faschismus, vom Nationalsozialismus, erklärte der in Westberlin Geborene. Polizisten hätten auch ihm verboten, das „Sankt-Georg-Band“ zu tragen. „Das ist eben dieses Mitmachen“, kommentierte der 51-Jährige das Verhalten der Uniformierten. Ihn erschrecke „wie der Nazismus wieder groß wird. Ich habe diese ganzen Hakenkreuze in der Ukraine gesehen, diese Brutalität. Ich bin da wirklich erschrocken.“
Im „Unsterblichen Regiment“ gingen auch Menschen mit, die aus Odessa stammen, so Oleg Musyka. Er versucht seit Jahren, in Deutschland über das Massaker im Gewerkschaftshaus am 2. Mai 2014 aufzuklären, das ukrainische Faschisten verübten. Er gehört selbst zu den Überlebenden des Geschehens. Neben ihm ging die 92-jährige Raissa, ebenfalls aus Odessa stammend. Sie erinnere sich gut an den Krieg der Faschisten gegen die Sowjetunion und sei entsetzt, was heute in der Ukraine geschehe, sagte sie.
„Die Stimmung wird immer schlechter“
Immer wieder störten deutsche Polizisten das Gedenken der Menschen am Ehrenmal im Tiergarten. Mal war es die vermeintliche verbotene Farbkombination der Bekleidung, mal eine rote Fahne mit dem Heiligen Georg, der einen Drachen tötet, darauf oder immer wieder das „Sankt-Georg-Band“, das jemand trug. Am Nachmittag wurde am Ehrenmal in Treptow, zu dem wieder insgesamt Tausende kamen, sogar Musik verboten, wie gemeldet wurde.
„Die Stimmung wird immer schlechter“, stellte eine aus Russland stammenden Frau fest und warnte vor den Folgen. Eine andere sagte den Polizisten, die ihr das Tragen des „Sankt-Georg-Bandes“ verboten – „weil das einfach eine Auflage ist“ –, sie sollten nicht vergessen, dass sie eines Tages in einer solchen Situation sich wiederfinden können, wenn sie ihrer Angehörigen gedenken wollen.
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Es sei „so wichtig, dass man gerade in dieser Zeit, wo in unerträglichem Maße gegen Russland gehetzt wird, Farbe bekennt“, hatte zuvor der Rechtsanwalt Hans Bauer am Ehrenmal in Treptow erklärt. Er bezeichnete das Verbot russischer und sowjetischer Fahnen und Symbole als „unerträglich“. Das sei ein Versuch, das Gedenken an jene zu liquidieren, die Deutschland vom Faschismus befreit haben. „Das ist eine Art Friedhofsruhe, die man produzieren möchte. Und auch ein Stückchen vergessen wollen und dass man sich nicht besinnen soll an das, was geschehen ist.“
„Ich werde einfach nicht vergessen, dass 27 Millionen Sowjetmenschen ihr Leben gelassen haben, dass Deutschland vom Faschismus befreit worden ist“, sagte am selben Ort der Dresdner Kabarettist Uwe Steimle. Und fügte hinzu: „Wir waren dazu nicht selbst in der Lage. Und wer nicht weiß, woher er kommt, der weiß auch nicht, wohin die Reise geht.“ Für ihn seien „die Russen nie Feinde“ gewesen, so Steimle. „Und ich finde das nach wie vor wichtig, dass man weiß, woher man kommt und wer den Zweiten Weltkrieg angefangen hat. Man hat ja immer den Eindruck, je länger das hier dauert, hier wird immer die Geschichte auf den neuesten Stand der Lüge gebracht. Und deswegen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“