Erneute Eskalation im Kosovo-Konflikt
Mehr als zwanzig Jahre nach dem Kosovokrieg kommt die Region noch immer nicht zur Ruhe. Der Streit um verpflichtende kosovarische Autokennzeichen für einreisende Serben hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Sind tatsächlich bereits serbische Militärkonvois auf dem Weg in den Kosovo?
Im Norden des Kosovos kocht der Konflikt um die umstrittenen neuen Einreiseregeln erneut hoch. Diese sollen rund 10.000 Angehörige der serbischen Minderheit im Kosovo verpflichten, mit kosovarischen statt mit serbischen Nummernschildern zu fahren. Die Proteste der serbischen Demonstranten an der Grenze zum Kosovo haben Berichten zufolge ein solches Ausmaß angenommen, dass die KFOR-Friedenstruppen eine Stacheldrahtsperre am Grenzübergang Jarinje errichtet haben. Mehrere Grenzübergänge sind geschlossen worden. 1 Zuvor hatten serbischstämmige kosovarische Polizeibeamte sowie vier serbische Bürgermeister und Gemeindevertreter im Norden Kosovos wegen der Kfz-Kennzeichnung für einreisende Serben die Ämter niedergelegt. Auch von Schüssen in die Luft durch „militante Serben“ wird berichtet. In der Stadt Mitrovica soll die kosovarische Polizei daraufhin 300 zusätzliche Einsatzkräfte abgestellt haben. Eine Polizeipatrouille soll im Norden des Landes unter Beschuss geraten und dabei ein Beamter leicht verletzt worden sein. 2 Nun will Serbien offenbar bis zu 1000 Armee- und Polizeibeamte in den serbisch bewohnten Norden Kosovos entsenden. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić hatte dem Fernsehsender RTS gesagt, seine Regierung hätte den Befehlshaber der NATO-Friedenstruppen darum ersucht, die Stationierung der serbischen Truppen zuzulassen. Vucic berief sich dabei auf eine UN-Resolution, die eine Rückkehr serbischer Truppen in den Kosovo erlaubt. Die Aussichten auf die Gewährung einer solchen Erlaubnis sind jedoch schlecht – das weiß auch Vucic. Die USA haben sich bereits gegen eine Truppenverlegung ausgesprochen, Serbien reagierte empört. Einige Medien berichten von serbischen Militärkonvois, die bereits in Richtung Kosovo unterwegs sein sollen, ohne dass eine entsprechende Erlaubnis ausgesprochen worden ist. 3
Nummernschilder und zusätzliche Ausweisdokumente
Der Streit um die Autokennzeichen ist nicht neu. Die kosovarische Regierung hatte 2021 eine entsprechende Verordnung erlassen, die vorsah, dass Serben beim Grenzübertritt provisorische kosovarische Kennzeichen anbringen müssten, die eine Gültigkeit von 60 Tagen haben sollten. Es sei eine Antwort auf eine analoge Verordnung gewesen, die Serbien bereits 2008 erlassen hätte, hieß es zur Begründung. Die neue Verordnung hatte Blockaden von Straßen und Grenzübergängen durch serbische Lastwagenfahrer, Angriffe auf kosovarische Behörden sowie die Stationierung von kosovarischen Spezialeinheiten der Polizei und eine verstärkte serbische Militärpräsenz in der Grenzregion zur Folge. KFOR intensivierte daraufhin ihre Patrouillen im Grenzgebiet, der Streit konnte im November 2022 schließlich mit einem Kompromiss beigelegt werden. Wie sich jetzt zeigt, ist diese Einigung jedoch nicht von Dauer gewesen. Ein weiterer Streitpunkt zwischen den Nachbarländern betrifft Ausweispapiere. Im Sommer 2022 hatte der Kosovo neue Einreiseregeln verhängt, wonach Serben zusätzlich zu ihren serbischen Ausweisdokumenten ein kosovarisches Papier bräuchten, um in den Kosovo einzureisen. Auch diese Verordnung hatte Straßenblockaden in Grenznähe zur Folge gehabt, nach Vermittlung durch die EU hatten die Seiten sich jedoch darauf einigen können, gegenseitig auf Zusatzpapiere zu verzichten. 4 Der serbische Präsident Vučić hatte im Zusammenhang mit der Verordnung von dem Versuch gesprochen, Serben aus dem Kosovo zu vertreiben. Das würde er nicht zulassen, hatte Vučić betont. „Wir werden unser Volk vor Verfolgung und Pogromen schützen, falls die NATO das nicht tun will, falls die KFOR-Truppen das nicht tun wollen.“ 5
Baerbock fordert von Serbien Ausrichtung gegen Russland
Bei der Vermittlung zwischen den Parteien und der künftigen Ausrichtung der Staaten im Westbalkan will auch Deutschland ein Wörtchen mitsprechen. Zuletzt hatte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock im Rahmen des sogenannten Berliner Prozesses ihre Amtskollegen aus den sechs Ländern des Westbalkans am 21. Oktober im Auswärtigen Amt empfangen. Das 2014 ins Leben gerufene Format hat laut Informationen des Auswärtigen Amtes zum Ziel, die regionale Integration im und mit dem westlichen Balkan zu stärken und zu vertiefen. „Der Berliner Prozess soll auch die Heranführung der gesamten Region an die EU beschleunigen“, heißt es auf der Internetseite der Behörde. 6 Die Anbindung an die EU und die perspektivische Eingliederung in die Staatengemeinschaft scheinen das oberste Ziel zu sein. Dass Serbien traditionell enge Beziehungen zu Russland und neuerdings auch zu China unterhält, sieht Brüssel mit Argwohn. Einigkeit hatten Russland und Serbien auch in der Frage des Konflikts mit dem Kosovo demonstriert. So hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am 1. August in Moskau betont, man unterstütze Belgrad absolut und die neuen Reiseregeln für im Kosovo lebende Serben seien aus russischer Sicht unberechtigte Forderungen. 7 Dass Deutschland und die EU von den Ländern des Westbalkans eine Unterstützung der EU-Linie und eine Verurteilung Russlands erwarten, wurde auch aus der Rede der deutschen Außenministerin bei dem Treffen im Rahmen des Berliner Prozesses deutlich. Dabei nahm Baerbock insbesondere Serbien ins Visier: „Ich ermutige Serbiens neu gewählte Regierung nachdrücklich, sich stärker an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU auszurichten. Das betrifft insbesondere die Sanktionen gegen Russland.“ Bezüglich der fortdauernden Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo sagte Baerbock, der Konflikt bremse beide Länder und die gesamte Region aus und man könne sich das nicht länger leisten. „Wir alle wissen, dass ein umfassendes Abkommen, das eine vollständige Normalisierung bewirkt, eines Tages erreicht werden muss. Warum also diesen ‚einen Tag‘ immer weiter in die Zukunft verschieben?“ 8
Es ist bemerkenswert, dass die deutsche Außenministerin den Krieg in der Ukraine zum zentralen Thema ihrer Eröffnungsrede beim Treffen mit den westlichen Balkanstaaten gemacht und auf emotionale Weise die Gipfelteilnehmer daran erinnert hat, dass sie ja aus eigener Erfahrung wüssten, was es bedeute, die Schrecken eines Krieges im eigenen Land zu durchleben. Bemerkenswert deswegen, weil sich die Abspaltung des Kosovos von Serbien mit den Unabhängigkeitsbestrebungen des Donbass vergleichen lässt, die Reaktion des Westens jedoch eine völlig andere war. 1991 hatte die hauptsächlich von Kosovo-Albanern bewohnte serbische Provinz Kosovo ihre Unabhängigkeit erklärt, Serbien erkannte diese nicht an. In den 1990er Jahren lieferten sich die beiden Seiten blutige Kämpfe, die im Kosovokrieg 1998/99 gipfelten. Nachdem Vermittlungsversuche internationaler Organisationen zu keiner Lösung geführt hatten, griff die NATO im März 1999 mit einem Luftkrieg ein. Ein Eingriff, der ein Bruch des Völkerrechts war, wie Kritiker, darunter der CDU-Politiker und ehemalige Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Willy Wimmer, nicht müde werden, zu betonen. Denn die NATO hatte dafür kein Mandat des UN-Sicherheitsrates gehabt. Die jugoslawischen Truppen zogen sich Mitte Juni 1999 aus dem Kosovo zurück, anschließend wurde vom UN-Sicherheitsrat die Resolution 1244 beschlossen, die unter anderem den Einsatz der NATO-Sicherheitstruppe Kosovo Force (KFOR) regelte, die bis heute im Land präsent ist. Das Mandat für den Einsatz der deutschen Truppen war zuletzt 2017 verlängert worden. Am 17. Februar 2008 verkündete das kosovarische Parlament schließlich seine Unabhängigkeit von Serbien. Bis heute wird diese von Serbien nicht anerkannt – aber nicht nur von Serbien. Neben Russland und China betrachtet eine ganze Reihe von Ländern, darunter die EU-Staaten Spanien, Griechenland, Slowakei und Rumänien, den Kosovo weiterhin als serbische Provinz. 9 Deutschland hingegen war dem Beispiel der USA umgehend gefolgt und hatte Kosovos Unabhängigkeit, die im Juli 2010 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag als rechtens anerkannt worden war, ebenfalls anerkannt. Im Fall des Donbass scheinen Unabhängigkeitsbestrebungen jedoch anders gewichtet zu werden. Im Übrigen hatte auch Serbiens Präsident Vucic erst kürzlich die Ukraine mit Serbien verglichen. In einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen sagte er: „Was ist der Unterschied zwischen der Ukraine und Serbien? Die Souveränität und territoriale Integrität Serbiens wurden grob verletzt, und das haben Sie, oder zumindest einige von Ihnen, legitimiert und international anerkannt.“ 10
Derweil beobachtet der deutsche KFOR-Einsatzkontingentführer der Bundeswehr, Egon Frank, die Lage vor Ort mit Sorge. Es bestehe die „andauernde Gefahr“, dass sie sich „in kürzester Zeit“ verschlechtere. Franks Einschätzung zufolge ist die Unzufriedenheit der Menschen im Norden Kosovos eine „ständige Basis für mögliche Eskalationen und Gewaltpotential“. Der Einsatz der NATO sei vor diesem Hintergrund „zur Friedenssicherung und Stabilisierung der Lage vor Ort zwingend und unerlässlich“, sagte der Einsatzkontingentführer gegenüber der Welt. 11
Quellen
1http://de.euronews.com/2022/12/18/stacheldrahtsperren-und-geschlossene-grenzubergange-zwischen-serbien-und-kosovo
2https://www.merkur.de/politik/panzer-spannung-eskalation-grenze-kosovo-news-serbien-aktuell-militaer-91971611.html
3http://de.euronews.com/2022/12/18/stacheldrahtsperren-und-geschlossene-grenzubergange-zwischen-serbien-und-kosovo
4https://osteuropa.lpb-bw.de/kosovo-geschichte
5http://de.euronews.com/2022/08/22/serbiens-prasident-vucic-fordert-nato-schutz-fur-serben-im-kosovo
6https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/europa/erweiterung-nachbarschaft/westbalkankonferenz/2559992
7https://www.deutschlandfunk.de/serbien-und-kosovo-schwere-spannungen-an-der-grenze-100.html
8https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2560022?view=
9https://osteuropa.lpb-bw.de/kosovo-geschichte
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10http://de.euronews.com/2022/09/22/opferrolle-vor-der-uno-vucic-vergleicht-serbien-mit-der-ukraine
11https://www.merkur.de/politik/kosovo-soldaten-belgrad-konflikt-serbien-bundeswehr-widerspruch-usa-gabriel-escobar-91975298.html