Der GAU der deutschen Diplomatie
Angela Merkels Offenheit löste nicht nur ein Rauschen im deutschen Blätterwald aus. Vielmehr haben ihre Aussagen teilweise verheerende internationale Reaktionen zur Folge. Deutschlands Rolle als zuverlässiger Verhandlungspartner ist nachhaltig beschädigt. Die Reputation als glaubwürdiger Player auf diplomatischem Parkett dahin.
Gekränkt von dem Vorwurf in deutschen Medien, sie, die große Kanzlerin, sei den „Russen“ immer viel zu sehr entgegengekommen, sie sei im Umgang mit Putin naiv gewesen, rechtfertigte Angela Merkel am 7. Dezember im Zeit-Interview ihre damalige Politik. In diesem Zusammenhang verriet sie, wie man Putin beim Minsker Abkommen hereingelegt habe. Damit sprach sie auch für François Hollande, der zusammen mit ihr und dem damaligen ukrainischen Präsidenten das Abkommen mit der Russischen Föderation ausgehandelt hat.
Die vier Staatschefs vereinbarten unter anderem nicht nur einen unverzüglichen Waffenstillstand mit einem entsprechenden Monitoring und den Rückzug schwerer Waffen aus einer Sicherheitszone, sondern auch die Durchführung regionaler Wahlen, die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und sozialen Verbindungen zwischen der Ukraine und den von den Föderalisten kontrollierten Gebieten und vor allem die Verabschiedung einer neuen Verfassung mit föderalem Charakter. Die ukrainischen Regierungen unter Jazenjuk, Poroschenko und Selenskyi unternahmen keine ernsthaften Anstrengungen, um die langfristigen Ziele des Abkommens einzulösen und das Abkommen mit Leben zu füllen
Die Interviewer Tina Hildebrandt und Giovanni di Lorenzo konfrontierten die Altkanzlerin mit der Erwartung, doch einfach mal wie andere Politiker zu sagen, damals habe man Fehler gemacht.
Merkel: „Das setzt aber voraus, auch zu sagen, was genau die Alternativen damals waren. Die 2008 diskutierte Einleitung eines Nato-Beitritts der Ukraine und Georgiens hielt ich für falsch. Weder brachten die Länder die nötigen Voraussetzungen dafür mit, noch war zu Ende gedacht, welche Folgen ein solcher Beschluss gehabt hätte, sowohl mit Blick auf Russlands Handeln gegen Georgien und die Ukraine als auch auf die Nato und ihre Beistandsregeln. Und das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit hat [sic!] auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht. Die Ukraine von 2014/15 ist nicht die Ukraine von heute. Wie man am Kampf um Debalzewe (Eisenbahnerstadt im Donbass, Oblast Donezk, d. Red.) Anfang 2015 gesehen hat, hätte Putin sie damals leicht überrennen können. Und ich bezweifle sehr, dass die Nato-Staaten damals so viel hätten tun können wie heute, um der Ukraine zu helfen.“
Wladimir Putin, am 9. Dezember in einer Pressekonferenz in Bischkek/Kirgisistan nach seiner Reaktion auf Merkels Erklärung gefragt, verhehlte nicht seine Enttäuschung über diese Finte.
„Ich bin enttäuscht“, sagte Putin, „ehrlich gesagt habe ich so etwas nicht erwartet von der Altbundeskanzlerin. Ich bin stets davon ausgegangen, dass die deutsche Staatsführung sich uns gegenüber fair verhält“. Aber: Von vornherein habe niemand die Absicht gehabt, die Minsker Abkommen zu erfüllen. „Nun wissen wir, auch sie haben uns betrogen“, zeigt sich Putin enttäuscht. „Solche Erklärungen rufen schon gewisse Zweifel daran hervor, ob man sich noch einigen kann. … Diese Worte zwingen uns dazu, es uns noch einmal zu überlegen, mit wem wir es zu tun haben.“
Die Botschaft: Es macht kaum noch Sinn, in Zukunft mit deutschen Regierungen, vielleicht überhaupt mit westlichen Politikern, Vereinbarungen zu treffen. Abkommen werden von ihnen nicht ernst genommen.
Abo oder Einzelheft hier bestellen
Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.