Wer wirklich regiert

Medienlenkung im Digitalkonzernstaat

„Eine Zensur findet nicht statt“, sagt Artikel 5 des Grundgesetzes. Der „umgekehrte Totalitarismus“ braucht aber kein Wahrheitsministerium, um die großen Redaktionen auf Linie zu halten.

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„Eine Zensur findet nicht statt.“ – Artikel 5, Grundgesetz
Foto: .hd. Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0, Mehr Infos

Gibt es sie, diese Anrufe aus dem Kanzleramt? Werden die Redaktionen jeden Tag vergattert und auf Linie gebracht? Sitzen dort tatsächlich lauter „Propaganda-Assistenten“, um noch einmal Springer-Chef Mathias Döpfner zu bemühen und seine SMS über den neuen „Obrigkeitsstaat“[1] vom Oktober 2021?

Antwort eins: Ja, der Draht zwischen Politik und Journalismus ist heiß – und das nicht erst seit 2020. Die Ampel-Regierung hat ihre drei Sprecher dort rekrutiert, wo das Volk Kritiker und Kontrolleure vermutet. Steffen Hebestreit war bei der Frankfurter Rundschau und im Berliner Dumont-Büro, Wolfgang Büchner bei der dpa und beim Spiegel (jeweils als Chefredakteur) und Christiane Hoffmann für das Hamburger Magazin am Regierungssitz. Frank-Walter Steinmeier hat seine neue Sprecherin (Cerstin Gammelin) von der Süddeutschen Zeitung geborgt und die alte (Anna Engelke) zum NDR zurückgeschickt. Redenschreiber Marc Brost war vorher Ressortchef bei der Zeit und ist im Präsidialamt nun auch für Planung und Strategie zuständig. Der Kontakt mit den Kollegen von einst dürfte da zum Jobprofil gehören.

Die zweite Antwort ist komplexer und braucht den Platz, den eine Zeitschrift wie Hintergrund bietet. In drei Sätzen: Die Abteilung Agitation sitzt heute nicht mehr in einer Parteizentrale und auch nicht in der deutschen Hauptstadt. Eigentlich sitzt sie nirgendwo. Die Suche nach den Medienlenkern der Gegenwart führt in das Herz einer Gesellschaftsform, die der Politikwissenschaftler Sheldon Wolin auf den Namen „umgekehrter Totalitarismus“ getauft hat. Wolin sagt: Lasst euch nicht von dem Demokratie-Gerede einlullen. Schaut einfach hin, wenn ihr wissen wollt, wer wirklich regiert. Dann seht ihr, dass der Staat die Konzerne geheiratet hat und dass beide alle anderen Formen der Macht adoptieren und alimentieren. Kirchen, Wissenschaft, Technik, Kultur. Hier, beim Staat, Militär und Gewaltmonopol. Und dort, bei den Konzernen, das Geld, das heute auch die Autorität und die Ressourcen nutzt, die sich aus Wahlen, politischer Rhetorik und Steuern speisen. Eine Supermacht im wahrsten Sinn des Wortes, die kein Charisma braucht und die Massen weder mobilisieren noch in irgendwelche Lager stecken muss. Deshalb „umgekehrter Totalitarismus“. Für die Kontrolle, sagt Wolin, genüge es, „ein kollektives Gefühl der Abhängigkeit zu schaffen“ sowie das zu nutzen, was inzwischen an Methoden der „Einschüchterung und Massenmanipulation“ verfügbar ist.

Wolin hat das in den Nullerjahren geschrieben – in dem langen Winter, der 9/11 folgte, in den Jahren der (spärlich) verschleierten Diktatur des zweiten Bush, als die Regierung und mit ihr die wichtigsten Nachrichtenkanäle schamlos Fake News verbreiteten, um den „War on Terror“ zu befeuern und schließlich in den Irak einmarschieren zu können. Über die Digitalkonzerne und das Silicon Valley sagt Wolin kein Wort. Wie auch. Das Internet in jeder Hosentasche war damals unvorstellbar. Zum Regieren genügten Bild, BamS und Glotze.

Auch der Nach-Nachfolger von Gerhard Schröder will kontrollieren, was in der Öffentlichkeit über ihn gesagt wird. Das will jeder, der etwas zu verlieren hat. Das wollen vor allem die, die sehr viel zu verlieren haben. Das Zusammenspiel von politischer und wirtschaftlicher Macht auf dem Feld der öffentlichen Kommunikation ist ein Lehrstück aus dem „umgekehrten Totalitarismus“, das ich hier auf fünf Akte begrenze und in Deutschland spielen lasse.

Hauptdarsteller eins: der Gesetzgeber

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) natürlich, in Kraft seit 2017, das geradezu mustergültig konkretisiert, was Wolin ein Jahrzehnt vorher eher abstrakt und theoretisch beschrieben hat. Der „staatliche Anstoß“ hat den Internetkonzernen erlaubt, zu „Zensurmaschinen“ (Hannes Hofbauer) zu mutieren. Verkauft wurde dieses Gesetz anders, frei nach dem Motto: Wir nehmen Facebook und Konsorten endlich an die Kandare. Wir tun etwas gegen all den Schmutz im Netz. Wenn ihr, liebe Wähler, euch bei uns beschwert, müssen die Plattformen löschen. Sonst nehmen wir ihnen Geld weg. Die Zahl der Beschwerden ist überschaubar geblieben, aber gelöscht wird trotzdem wie am Fließband – von den Konzernen selbst, die Algorithmen oder billiges Personal nach allem fahnden lassen, was jenseits von Pornografie und Sittlichkeit irgendwie anstößig ist: Geopolitik, Gesundheitspolitik, überhaupt Oppositionelles.

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Dass das so einfach geht, hat auch mit der Stoßrichtung des Gesetzes zu tun: Die Begriffe „Hasskriminalität“ und „Fake News“ (die beiden wichtigsten Zielscheiben) sind schwammig und vor Gericht schwer einklagbar. Brüssel, hieß es seinerzeit, sei nicht begeistert gewesen über das Berliner Paragrafenwerk. Mag sein. Im richtigen Leben hat die EU 2018 mit Facebook, Google, Twitter und der Werbewirtschaft einen „Verhaltenskodex gegen Desinformation“ vereinbart, den inzwischen auch Microsoft und Plattformen wie TikTok oder Vimeo unterzeichnet haben. Inhalt, etwas zugespitzt (aber nicht zu sehr): Bringt das unter die Leute, was wir für richtig halten, und macht alles andere unsichtbar. Das Ergebnis kann man entweder bei jeder Google-Suche sehen, die transatlantische Positionen tangiert, oder in den dicken Berichten für das Desinformationsüberwachungsprogramm der EU-Kommission. Digitalkonzerne und Superstaat feiern sich dort gegenseitig.

Nur der Vollständigkeit halber sei hier auch auf das Füllhorn an Forschungsgeldern verwiesen, das Brüssel im Rahmen des Programms „Horizont 2020“ ausgeschüttet hat, um den (Achtung: Behördenpropaganda) „Wahrheitsgehalt von Informationen in den sozialen wie in den klassischen Medien zu erhöhen“. Das Projekt „Soma“, von 2018 bis 2021 mit knapp einer Million Euro gefördert und völlig ironiefrei genauso benannt wie die Droge in Huxleys Schöner neuer Welt, ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Bundesforschungsministerium wollte sich da nicht lumpen lassen und hat im Februar 2022 Geld für gleich zehn Projekte locker gemacht. Gemeinsame Klammer: „Fake News erkennen, verstehen, bekämpfen“.

Hauptdarsteller zwei: die Meinungsfabriken

Haben Sie schon einmal von der Trusted News Initiative (TNI) gehört? Nein? Kein Problem. Eigen-PR gehört nicht zu den Stärken von Konzernen – erst recht nicht, wenn sie sich zu einem Kartell zusammenschließen und daraus ein Wahrheitsministerium machen, ohne den Staat bemühen oder gar einen Minister wählen zu müssen. Die TNI ist dafür verantwortlich, dass die Leitmedien nicht erzählt haben, wie man Covid-19 behandelt (genauer: dass man diese Krankheit überhaupt behandeln kann), und, mindestens genauso wichtig, dass wir in dem Glauben gelassen wurden, nur eine Substanz, die das Etikett „Corona-Impfung“ trägt, könne uns vor schwerer Erkrankung und Tod bewahren.

Wie das geht? Die TNI vereint das Who‘s Who der westlichen Medienwelt. Nachrichtenagenturen (AP, AFP, Reuters), Rundfunkanstalten (die European Broadcasting Union, in der auch ARD, ZDF, SRG und ORF sind), große Zeitungen (Financial Times, Washington Post, Wall Street Journal, The Hindu), die Internetgiganten (Microsoft, Google, YouTube, Twitter, Facebook), ein Faktenchecker (First Draft, 2015 gegründet vom Wellcome Trust und den Open Society Foundations) sowie das Reuters Institute for the Study of Journalism, eine Einrichtung in Oxford, die vom Medienkonzern Thomson Reuters gesponsert wird.

Diese TNI gibt es noch nicht allzu lange. Sommer 2019 steht in der Geburtsurkunde. Die Eltern wussten mehr als andere. Fake News könnten die Demokratie gefährden und vielleicht sogar Menschenleben, sagte BBC-Generaldirektor Tony Hall an der Wiege. Neben der drohenden Trump-Wiederwahl schon damals auf seinem Schirm: Impfgegner. Eine bedrohliche Bewegung. Am 27. März 2020 verkündete die TNI, dass man sich ab sofort gegenseitig alarmieren werde, wenn „Fehlinformationen“ oder „Verschwörungstheorien“ in Sachen Corona auftauchen. Und am 10. Dezember 2020, kurz nach der Biontech-Pfizer-Zulassung in Großbritannien, konnte man bei der BBC lesen, dass die TNI nun alles unterdrücken werde, was die Coronagefahr herunterspielen und gegen eine Impfung sprechen könnte. Also: Videos löschen, Kanäle sperren, das Netz mit Warnhinweisen fluten, Reichweite drosseln. Inzwischen nachzulesen zum Beispiel in den Twitter Files.

Natürlich kann man fragen: Warum kümmert das den Donaukurier oder die Schweriner Volkszeitung? Lasst diese Typen doch einfach machen. Wir recherchieren selbst. Nun: Was früher (ganz früher) der Postbote war, der die Zeitung in den Kasten steckte, sind heute die digitalen Plattformen. Ohne Likes und Shares und Retweets gibt es kein Publikum und damit kein Geschäft. Das heißt: Wer etwas schreibt, was den Wächtern der TNI nicht gefällt (selbst in Schwerin), riskiert Unsichtbarkeit oder, schlimmer noch, einen Shitstorm. Woher die TNI weiß, was „richtig“ ist? Aus den gleichen Quellen wie die Regierungen. WHO, CDC und Co. Sheldon Wolin würde sich freuen. Sein „umgekehrter Totalitarismus“ braucht die Maske Demokratie überhaupt nicht mehr.

Weiterlesen:

Dieser Artikel ist Teil eines längeren Beitrages von Michael Meyen aus Hintergrund – Das Nachrichtenmagazin 1|2 / 2024. Sie können das Heft bestellen – HIER oder im Handel kaufen – HIER.

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Michael Meyen hat seit 2002 eine Professur für Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Autor der Bücher Die Propaganda-Matrix und Wie ich meine Uni verlor.

Quellenangabe

[1] https://www.n-tv.de/panorama/Doepfner-entschuldigt-sich-bei-Verlagen-article22884850.html

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