Medien

Laubenpiepers Wahl-Sonntag

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Im Gestrüpp von Medien, Demoskopie und Prognosen

Von VOLKER BRÄUTIGAM, 29. September 2009 –

Gerade mach ich Kaffeepause vor meiner Gartenlaube, da spöttelt der Nachbar übern Zaun: „Na, wählst du dann auch die CDU?“ Der Sozi. Verdrießlich gebe ich ihm raus: „Du meinst den Haken, an dem sich deine SPD abschleppen lässt? Gieß mal schön deine Radieschen!“

In vier Wochen – ich schreibe dies in den letzten Tagen des August – erklimmen wir wieder einen Gipfel politischen Aberglaubens, auf dem wir ein weiteres Kreuz für das demokratische Deutschland aufrichten: die Bundestagswahl 2009. Um im biblischen Bilde zu bleiben: Die bürgerlichen Parteien betätigen sich schon lange als tüchtig nagelnde Schergen und reduzieren so die Hoffnung auf eine baldige Wiederauferstehung der Demokratie.

60 Prozent der Bundesbürger sind gegen deutsche Kriegsbeteiligungen. Unsere ‘demokratisch gewählten’ Regierungen – die Sozis immer ganz vorn mit dabei, Herr Nachbar! – kümmert das einen Dreck. Lassen deutsche Soldaten morden, gestern in Jugoslawien, heute in Afghanistan, den Menschenrechten, dem Völkerrecht und unserm Grundgesetz zum Hohn. 70 Prozent der Bevölkerung sind gegen die „Sozialpolitik“ unserer demokratisch gewählten Regierungen. Die sitzen das aus. 80 Prozent der Bevölkerung betrachten die Verhältnisse in Deutschland als ungerecht. Unsere demokratisch gewählten Regierungen schert es nicht.

Einmal die Mistforke in der Hand, gebe ich meinem Nachbarn noch eine Gabel Schiet für den Eigenbedarf mit: „Gefallen dir die Bankenrettung, die Armutsvermehrung, die Rente mit 67, die Rüstungsexporte, die Gesundheitsreform, der Bildungsnotstand, der Schnüffelstaat? Geh mir aus der Sonne! Diese Wahlen sind ein gänzlich demokratiefreier Formalismus, alles Gülle aus derselben Grube! Keine Alternative. Du armer Zettelfalter!“

Noch einer, der das wachsende Demokratiedefizit nicht mehr bemerkt.
Laut Internet-Ausgabe eines Nachrichtenmagazins bewegen aber den Bundeswahlleiter und selbst viele Abgeordnete von Union und SPD ganz andere Sorgen: dass die Wahl durch Kurznachrichten im Online-Dienst Twitter („Zwitscherer“) unzulässig beeinflusst werden könnte. Die vertraulichen Exit Polls könnten verfrüht öffentlich bekannt werden. Gemeint sind die Wählerbefragungen der Demoskopie-Unternehmen vor den Toren ausgewählter Wahllokale. Sie sind die Grundlage für Prognosen zum Wahlausgang. Damit wollen die Massenmedien am frühen Wahlabend Pseudospannung und Zuschauerbindung an die Wunderlampe im Wohnzimmer erzeugen, vermiesen unsereinem jedoch nur die Laune.

ARD, ZDF und Kommerzielle werden am 27. September wieder ihre Zuschauer mit gekünstelter Heimlichtuerei veralbern: Die Wahl-Prognosen der Demoskopie-Unternehmen werden erst nach dem Gongschlag 18 Uhr verkündet. Überraschung, Überraschung! Wie Kindergeburtstag.

Die Exit-Poll-Zahlen mit Prozentangaben und Trends werden nämlich – wer zahlt, schafft an – „unseren“ Parteien und den TV-Sendern schon vor 16 Uhr mitgeteilt. "Es wäre der GAU, wenn die Wählerbefragungen vor Schließung der Wahllokale öffentlich bekannt würden", erklärte Bundeswahlleiter Roderich Egeler der Badischen Zeitung. Seine Begründung: Mit den Vorergebnissen könnten Unentschlossene mobilisiert werden.

Da glaubt einer an Schinkenernte vom Pflaumenbaum. An Heerscharen verpennter Zeitgenossen, die um 17 Uhr vom Nachmittagsschläfchen aufschrecken, weil das Handy klingelte und sie – ganz was Neues! – erst jetzt per Twitters SMS erfahren, dass die SPD in den Keller rauscht. An Millionen Leute, die nun rasch einen Kurzen kippen, sich schleunigst sonntäglich gewanden und zum nächsten Wahllokal stürzen: Rettet die Große Koalition!

Kein Vertreter der Politik oder der gleichgeschalteten Massenmedien kam je auf die Idee, einmal empirisch begründet und quantifiziert darzulegen, welche vom Ergebnis einer „normalen“ Wahl abweichenden Folgen eine solche wahlsonntägliche Mobilisierung hätte. Man beruft sich stattdessen nur simpel auf § 32 des Wahlgesetzes:

Die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe (…) ist vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig.

Ausnahmen, z.B. die gewohnte Weitergabe der Ergebnisse an Berufspolitiker und Medienleute, sieht das Gesetz nicht vor – obwohl doch auch diese Vorab-Information eine „Veröffentlichung“ darstellt. Weshalb bekommt eine Elite von „Eingeweihten“ zu wissen, was das gemeine Volk nicht erfahren darf? Und warum kümmert das den Bundeswahlleiter, die Parteipolitiker und die Medienfritzen nicht?

Stattdessen Theater ums Twittern. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre. Welch ein glänzender Beitrag zur Thematik

Informationsfreiheit / Demokratisches Bewusstsein / Politische Bildung / Mündiger Bürger wird da geliefert! (Unterthematik: Parteienoligarchie / Sprachregelung / Bildungsnotstand / Gleichschaltung der Massenmedien / Zensurversuch / Stimmviehzucht!)

Der Angstauslöser: Im Mai hatten einige Mitglieder der Bundesversammlung das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl „vorzeitig“ – also noch ehe die Blumengebinde mit Musik und Hurra ans „Bundeshorschtl“ überreicht werden konnten – im Twitter-Dienst gemeldet. Vergleichbares soll sich bei den Bundestagwahlen nicht wiederholen. SPD-Innenexperte Wiefelspütz: „Es könnten sich Netzwerke bilden, die mit den Ergebnissen der Exit-Polls Wähler noch in letzter Minute mobilisieren". Und weiter: "Sollten die Ergebnisse der Wählerbefragungen getwittert werden, sind wir hilflos." Er halte es deswegen für angebracht, über "ein Verbot der Wählerbefragungen nachzudenken".

In letzter Minute mobilisierte Wähler. Hilflose Parteinasen. Verbote als Heilmittel: HILFE! Schützt uns Laubenpieper vor Sozn und anderem politischen Ungemach!

Während der Sozi nach der Verbots-Hacke grabscht, langt eine Unionspolitikerin zum Verlegenheits-Mulch: Dorothee Bär, stellvertretende CSU-Generalsekretärin und medienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion, forderte, alle „Eingeweihten“ auf einen "Kodex des Stillschweigens zu verpflichten".

Wehrhafte Demokraten, im Reichstag sind sie zu besichtigen. Eintritt frei!

Twitter hat weltweit rasanten Mitgliederzuwachs. Der Informationsdienst steigerte innert eines Jahres seine Nutzerzahl von rund 500.000 auf 8 Millionen. In Deutschland sind allerdings bisher kaum 80.000 Teilnehmer eingetragen. Seit bekannt wurde, wie die „grüne“ Opposition im Iran via Internet-Twitter mit massenhaften SMS-Nachrichten Einfluss auf die dortige Präsidentenwahl zu nehmen versuchte, rutscht hierzulande manchen Polit-Professionellen das Herz in die Hose. Sonst könnten Politiker doch nicht die Verbreitung unüberprüfbarer angeblicher Insider-Informationen über Wahltrends fürchten wie der Laubenpieper die Schnecken im Salatbeet.

Aber gesetzt den Fall, dass bis zum 27. 9. alles Wiefelspützige gegen Twitter unterbleibt und am 27. September schon nachmittags eine Ergebnis-Prognose verzwitschert wird: Ob dann die Iraner wohl auch "Schiebung" schreien, weil die Merkel wiedergewählt wird? Und wird sich Irans Präsident Ahmadinejad an der Kanzlerin mit der Retourkutsche rächen, eine Überprüfung der bundesdeutschen Wahl durch unabhängige ausländische Instanzen sei angebracht und mehr Demokratie und Demonstrationsfreiheit auf Deutschlands Straßen zu fordern? Wird er gar – Obama steh uns bei! – wegen prügelnder Polizisten in Berlin den UN-Sicherheitsrat in New York anrufen?

„Wir verurteilen aufs Schärfste die Praxis der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten“, so trötete auch Möchtegern-Kanzler Steinmeier, als die „grüne“ Opposition im Iran ihre Unzufriedenheit mit dem Wahlergebnis auf Teherans Straßen austobte. Ob Frank Walter nach seiner vorhersehbaren Wahlschlappe – wie in solchen Fällen üblich – die Schuld bei irregeleiteten Wählern und sonstiger Manipulation suchen wird, dem Twittern zum Beispiel? Dann könnte er doch gleich in Teheran ein paar erfolgsverwöhnte Prügel-Perser bestellen, die (als Sozis verkappt) (rote Schals!) ordentlich Randale auf Berlins Straßen machen und „Wer hat unsere Stimmen geklaut?“ plärren? Dass Steinmeier anschließend die „Praxis der Berliner Sicherheitskräfte gegen Demonstranten aufs Schärfste“ verurteilen würde, wäre sicher nicht zu befürchten. Diese brave Truppe ist außerdem bekannt für ihr Zartgefühl im Umgang mit Demonstranten.

Ach, Nachbarn! Im wirklichen Leben werdet ihr doch nicht nur wahlsonntäglich manipuliert. Sondern ganzjährig, täglich: Wenn Politiker Steuersenkungen versprechen. Oder zur Freiheitsverteidigung am Hindukusch aufrufen. Auch die Medien manipulieren, z.B. mit „Tagesthemen“ und „heute“, mit Illners und Wills – und ganz besonders mit „Politbarometern“ und „Deutschlandtrends“. In Berichten über politische Meinungsumfragen ist ja nicht grundlos vom Einfluss „wahltaktischer Überlegungen“ aufs Wahlverhalten die Rede.

Ergo: Nicht erst fragwürdige Twitter-„Informationen“, sondern vor allem die regelmäßigen offiziösen Veröffentlichungen von Meinungsumfragen bringen den Bürger davon ab, sich bei seiner Wahlentscheidung ausschließlich von seiner Überzeugung leiten zu lassen. Das Demoskopen-Unwesen erzielt Wirkung, die man ohne empirische Belege behaupten kann: Es trägt dazu bei, dass Wahlen sich immer auf die etablierten Parteien verengen, speziell die großen unter ihnen, und dass kleine oder neue Parteien geringere Chancen haben.

Politische Besitzstandwahrung nennt man das. Damit sich in unserem Land ganz sicher nichts radikal ändert. Obwohl dies dringend nötig wäre.

Den Manipulanten sind immerhin Grenzen gesetzt. Die Nachrichtensendungen von ARD und ZDF verlieren seit Jahren Zuschauer, und zwar kräftig. Denen der Kommerziellen geht es nicht besser.

Laubenpiepers Wahl-Montag

Welch ein Kater-Montag, dieser 28. September 2009. Dies Wahlergebnis war bis gestern Nachmittag nicht zu ahnen. Denn gestern wurden erneut Vorhersagen getwittert (gezwitschert), allerdings ganz anderslautende. Massenhaft. Immerhin mit einem in seinem Realismus nicht zu übertreffenden Kommentar: „Selbst wenn es echte Exit Polls hier bei Twitter gäbe, würde man sie in der Masse der Fakes (Fälschungen) nicht erkennen.“

16.25 Uhr:
Twitter (Beispiel) (Quelle: N.N., angeblich Exit-Poll-Qualität):
CDU/CSU 35.3 Prozent. SPD 27.2 Prozent. FDP 13.8 Prozent. Grüne 11.5 Prozent. LINKE 10.3 Prozent.

18.00 Uhr:
ARD (Quelle: Infratest dimap):
CDU/CSU 33,5 Prozent. SPD 22,5 Prozent. FDP 15,0 Prozent. Grüne 10,5 Prozent. LINKE 12,5 Prozent.
ZDF (Quelle: GfK Forschungsgruppe Wahlen):
CDU/CSU 33,5 Prozent. SPD 23,5 Prozent. FDP 14,5 Prozent. Grüne 10,0 Prozent. LINKE 13,0 Prozent.

Twitter hatte gestern also nicht die Spur von Früh-Information aus Exit Polls.

Trotzdem wette ich meine Rosenkohlernte 2009, dass unsere neuen Berliner Reichstags-Herrschaften auf die Twitter-Schimäre verweisend versuchen werden, das Internet unter Staatsaufsicht zu stellen. Und meine Kirschernte 2010 setze ich darauf: Unsere Berufspolitiker werden das Demoskopieren – präziser: die verführerische, demokratiefeindliche Polit-Kaffeesatzleserei – gewiss nicht verbieten. Wählermanipulation ist das Wesensmerkmal unserer Formal-Demokratie. Lug und Trug sind die wichtigsten Waffen im Arsenal unserer neuzeitlichen Raubritter, unserer Geld- und Macht-Elite.

Kater-Montag. Und ich frage Sie: War gestern Demokratie oder nur Sonntag? Das Votum ändert am Heute doch nichts! Merkel bleibt Kanzlerin, Afghanistan Bombenziel, das Sozialsystem ein Trümmerfeld, das Bildungswesen ein Krüppel und die sozialen Gegensätze eine Ungeheuerlichkeit. Beweist diese Wahl etwa, dass unser Gemeinwesen getrost noch weiter deformiert werden darf?

Sparen Sie sich die Antwort. Vier Jahre lang wird Sie nun eh keiner mehr fragen.

Unsere aberwitzigen Wahlergebnisse sind das Produkt von Meinungsmache und eben nicht Ausdruck von Volkes Meinung. Das irre FDP-Ergebnis beweist es.

Wer Medien besitzt, legt deren politische Linie fest: Die Manager der kommerziellen Unternehmen bzw. Sender ziehen den Strich, auf dem die Redakteure laufen dürfen. Bei den öffentlich-rechtlichen Medien ziehen ihn Parteipolitiker von Union und SPD. Solche Medien können gar nicht Volkes Willen widerspiegeln. Ihre Konzern- und Parteivorstände befehlen die Richtung, in die das Volk fügsam denkt. Drum verblödet die Republik zum Deppen-Dorf, in dem man zur Wahl schreitet, weil das ein gesellschaftliches „Event“ ist – und längst nicht mehr, weil ein rationaler, intelligenter Akt gefordert ist.

Nicht Twitter gehört verboten. Sondern die Medien-Oligarchie gehört zerschlagen. Deren Meinungsherrschaft gehört gebrochen. Das wäre der Ansatz zu demokratischen Verhältnissen.

Wünsche frohes Wählen gehabt zu haben!

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Sie wissen selbst, was Sache ist? Ja freilich. Drum darf ich mich empfehlen. Hab gerade eine Fuhre frischen Mist bekommen. Der Schiet soll für den Politkompost der kommenden vier Jahre reichen.


Der Autor:
Volker Bräutigam schreibt regelmäßig für die Politik-Zeitschrift Ossietzky. Seine literarische Figur eines sarkastisch stänkernden Laubenpiepers lässt Bräutigam auch in seinem neuem Buch „Die Falschmünzer-Republik – Von Politblendern und Medienstrichern“ ausgiebig zu Wort kommen. Illustriert ist es mit Karikaturen von Klaus Stuttmann. (Scheunen-Verlag, Kückenshagen, 2009, 300 S., ISBN: 978-3-938398-90-6.)

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