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Inszeniertes Märtyrertum: Wie die Springerpresse und das ZDF eine neue Sarrazin-Debatte provozierten

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Von THOMAS WAGNER, 22. Juli 2011 –

Erst überzieht er türkische Migranten mit Schmähworten, bezeichnet sie als weniger intelligent und fleißig als die Angehörigen anderer Nationen und beklagt, dass sie den deutschen Steuerzahlern auf der Tasche legen. Als sich einige Angehörige der betreffenden Personengruppe bei einer unerwarteten persönlichen Begegnung mit dem Provokateur dann verbal zur Wehr setzen, beschwert dieser sich über mangelnden Respekt seiner Person gegenüber. Einem Kritiker, der bekannte, Kreuzberger, aber kein deutscher Staatsbürger zu sein, sagte er herablassend:  „Dann benimm dich mal vernünftig, du bist in einem anderen Land.“

So geschehen anlässlich einer Stippvisite des Autors von „Deutschland schafft sich ab“ in Berlin-Kreuzberg, die für das Kulturmagazin Aspekte von einem Kamerateam des ZDF unter Anleitung der Fernsehreporterin Güner Balci begleitet wurde. Stationen waren das türkische Restaurant Hasir, die alevitische Gemeinde und der bekannte Gemüsemarkt am Maybachufer.

Der Journalist Robert Misik fand für den Vorgang einen treffenden Vergleich: „Sie pinkeln Ihrem Nachbarn an die Tür. Sie schreiben ein Buch, in dem steht, ihr Nachbar ist dumm, völlig nutzlos, und es ist eine Tragödie, dass ihr Nachbar so viele Kinder kriegt, weil da werden nur viele kleine dumme nutzlose Nachbarn draus, „Kopftuchmädchen”, und dann klopfen sie bei ihrem Nachbarn an und sagen, hallo, ich wollt mal vorbeischauen und mit ihnen Abendbrot essen, was gibt’s denn Gutes? Und dann wirft sie ihr Nachbar raus und sie wundern sich, warum der so ein gemeiner Kerl ist. Ich mein, da würde man doch bei jedem normalen Menschen sagen: Geht’s noch? Brauchen Sie ärztliche Hilfe?“ (1) Auch der Kreuzberger SPD-Bildungsstadtrat Jan Stöß (SPD) bezeugte Verständnis für die Bewohner seines Kiezes: „Wenn man provoziert, muss man sich nicht wundern. Dass es zu wütenden Reaktionen kommt, kann ich gut verstehen.“

Angesichts der seit Monaten aufgeheizten Atmosphäre rund um die Sarrazin-Debatte, klingt die von  Güner Balci gegenüber dpa gemachte Erklärung etwas reichlich naiv: „Wir wollten ein ernsthaftes, tiefergehendes Gespräch zwischen Sarrazin und den Menschen, über die er in seinen Statistiken schreibt.“ Auch Aspekte-Redaktionsleiter Christhard Läpple beteuerte, Ziel der Sendung sei es gewesen, „ein Gespräch in Gang zu setzen“ (2)

Dass aber mit gänzlich unvorbereiteten Gemüsehändlern im Trubel eines belebten Marktgeschehens und zudem in Gegenwart einer Fernsehkamera kein tiefgründiges, verständnisvolles Gespräch möglich sein würde, ist selbst für einen journalistischen Laien zu erwarten gewesen. Da wir es mit Profis zu tun haben, lässt sich der Anschein kaum vermeiden, dass es nicht in erster Linie um journalistische Aufklärung ging, sondern um eine kühl kalkulierte PR-Inszenierung.

„Wenn so einer samt Fernsehteam jetzt plötzlich nach Kreuzberg kommt, um angeblich einen kulturellen Dialog zu führen, dann will er wahrscheinlich bald ein neues Buch veröffentlichen”, vermutete daher Hilmi Kaya Turan, der Sprecher des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg (TBB). (3) Entsprechende Gerüchte wollte Markus Desaga, der Leiter der Presseabteilung von Sarrazins Verlag DVA, am vergangenen Freitag (15.07.2011) gegenüber HINTERGRUND weder bestätigen noch dementieren.

Doch eines ist klar, die Springerpresse hat von Anfang an eng mit der ZDF-Journalistin und dem Buchautor kooperiert. Bereits am Samstag erschien unter der Überschrift „Kreuzberg schafft sich ab“ eine ausführliche Schilderung des Kreuzberg-Besuchs aus der Sicht Güner Balcis in Die Welt und tags darauf folgte in der Welt am Sonntag ein noch längerer Artikel von Thilo Sarrazin zum gleichen Vorgang. Der Titel lautete „Aus Kreuzberg verjagt“. Parallel wurden beide Artikel am Samstag und am Sonntag in der Berliner Morgenpost gebracht und am Montag titelte Bild: „So wurde Sarrazin von Türken aus Lokal verjagt“. Im ausführlichen Bericht auf Seite 6 heißt es am Ende: „PS. Das ZDF zeigt den Bericht am Freitag um 23.15 Uhr.“

Das Vorgehen des für den Beitrag verantwortlichen Kulturmagazins Aspekte (ZDF) und der Artikel der Journalistin Güner Balci wurde unterdessen zum Gegenstand scharfer Kritik. Beri Tunç, eine Frau, die Sarrazin bei seinem Gespräch zur Rede gestellt hat, kritisierte das Verhalten Balcis in einem offenen Brief:

„Wir KreuzbergerInnen haben uns empört! Wir haben uns nicht instrumentalisieren lassen, weder von Sarrazin noch von den Medien, und werden es auch nicht dir erlauben, über unsere Köpfe hinweg bestehende Vorurteile zu festigen. Wir haben von unserem Grundrecht der freien Meinungsäußerung Gebrauch gemacht.  […] Wir brauchen keinen Sarrazin, der uns erklären muss, wie wir zu leben haben, damit wir dem Staat nicht auf der Tasche sitzen. Wir brauchen keinen Sarrazin, der meint, dass wir unsere Geburtenrate zu kontrollieren haben, weil wir für die Verdummung des Staates verantwortlich seien, weil seiner Meinung nach Intelligenz vererbbar ist, und in seinen Augen nur die Intelligenten das Recht auf Existenz haben. Wir brauchen keinen Sarrazin, der uns erklärt, dass wir – die „Unterschicht“ – in diesem kränkelnden System kein Existenzrecht haben. Wir brauchen aber auch keinen Sarrazin, der uns „tabubruchartig“ erklären muss, dass MigrantInnen diesem Staat im Allgemeinen nicht gut tun. Wir brauchen sein Bestsellerbuch nicht, um über unseren Kosten-Nutzen-Faktor zu lesen. Wir sind Menschen, Güner, keine Zahlen! […]

Was du in deinem Artikel nicht erwähnt hast, liebe Güner, sind die Beleidigungen und die Beschimpfungen, die sich Sarrazin geleistet hat. Du hast nicht erwähnt, dass er mich als „strohdumm“ und meine männliche Begleitung als „linksradikalen Faschisten“ abgestempelt hat. Du hast nicht erwähnt, dass Sarrazin ihm in chauvinistischer Manier das Recht abgesprochen hat, sich zu empören, weil er nicht aus Deutschland stamme, und sich deshalb als „Gast“ zu verhalten habe. Du hast nicht erwähnt, dass er uns permanent unterbrochen hat, und sich nicht mal getraut hat, in unsere Augen zu schauen. Warum scheut er sich davor? Liegt es etwa daran, dass er durch den Augenkontakt den Menschen in uns erkennen würde? Du hast auch nicht erwähnt, dass Sarrazin die alevitische Gemeinde, die ihre Begründung für die Ablehnung seines Besuches in einer friedlichen und ausführlichen Rede vorgetragen hat, als „antidemokratisch“ abgewertet hat.“ (4)

Vom Deutschen Kulturrat, dem Spitzenverband der deutschen Bundeskulturverbände, kam scharfe Kritik am Verhalten des ZDF. Geschäftsführer Olaf Zimmermann sagte am 18.07.2011: „Es ist wirklich mehr als peinlich, wenn Aspekte, ein renommiertes Kulturmagazin, es offensichtlich nötig hat, einen solch vorhersehbaren Eklat zu inszenieren. Wer Thilo Sarrazin unter sichtbarer filmischer Beobachtung durch Berlin-Kreuzberg und Neukölln schickt, kalkuliert mit wütenden Reaktionen. Die Bild Zeitung titelt heute ‚Sarrazin von Türken aus Lokal verjagt!’, in der Tageszeitung Die Welt kann sich Thilo Sarrazin als Opfer von türkischen Migranten darstellen. Da nun auch die Bild Zeitung ihren Lesern das Schauen des Aspekte-Berichts am Freitag empfiehlt, können die Verantwortlichen im ZDF mit höheren Einschaltquoten rechnen. Die Seriosität des Kulturmagazins Aspekte hat Schaden genommen und den Integrationsbemühungen wurde ein Bärendienst erwiesen.“ (5)  Der Kulturrat vertritt 233 Organisationen und Bundeskulturverbände in Deutschland.

Trittbrettfahrer Broder

Während das ZDF auf die Vorwürfe reagierte, indem es ein Interview mit seiner Reporterin Güner Balci auf den Internetseiten des Kulturmagazins Aspekte platzierte und ein FAZ-Artikel die Kritik des Kulturrats als „denunziatorische Unkultur“ titulierte, (6) schickte Springers Welt am Donnerstag (21.07.2001) ihren Krawall-Kolumnisten Henryk M. Broder ins Schlachtgetümmel. Er verurteilte Zimmermanns Äußerung in einem am Donnerstag veröffentlichten Brief als eine „unsägliche Stellungnahme, mit der Sie sich auf die Seite des Pöbels stellen, der in Teilen von Kreuzberg mittlerweile das Sagen hat.“ (7)

Der Kulturrat hatte der ARD-Fernseh-Reihe „Entweder Broder – Die Deutschland-Safari“ vor nicht allzu langer Zeit den „puk-Journalistenpreis“ verliehen. Nun brachte Broder für die Institution einen Begriff in Anschlag, der zuvor überwiegend im Zusammenhang mit den Zielen von Neonazis in Verbindung gebracht worden war.  „Ihre Haltung ist antiaufklärerisch, paternalistisch und reaktionär, sie fördert die Einrichtung von No-go-Areas, die es in einer offenen Gesellschaft nicht geben darf. Deswegen gebe ich den Preis, den Sie mir verliehen haben, mit sofortiger Wirkung zurück.“ (8) Strittig ist, ob Broder den Preis überhaupt zurückgeben kann, da er nicht ihm persönlich verliehen worden sei, wie Zimmermann gegenüber dem Berliner Tagesspiegel betonte, sondern der zuständigen Redaktion des Hessischen Rundfunks. (9) Der Hessische Rundfunk wiederum soll sich nicht mit der Absicht tragen, den Preis zurückzugeben. Der für Aufmerksamkeit heischende Alleingänge bekannte Broder zeigt sich von der Haltung seiner journalistischen Kollegen jedoch wenig beeindruckt: „Die haben die Redaktion, die Produktion und die beiden Kasper, also Hamed und mich, ausgezeichnet. Also kann ich meinen Anteil an dem Preis zurückgeben. Was die anderen machen, ist deren Sache.“  (10)

Neben Broder waren es vor allem Politiker der Regierungskoalition, die es sich nicht nehmen lassen wollten, im Sommerloch als Trittbrettfahrer der neuen Debatte um den populären Provokateur Sarrazin in Erscheinung zu treten. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), bezeichnete es in der Bild Zeitung als den falschen Weg,  sich der Diskussion zu verweigern und der FDP-Bundestagsabgeordnete Serkan Tören sagte: „Diese Art von Anfeindungen gegen Thilo Sarrazin sind nicht in Ordnung und wenig zielführend. Ich hätte mir gewünscht, die Leute hätten den Dialog mit ihm gesucht.“ Der CDU-Spitzenkandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Frank Henkel, sagte „Sarrazin ist kein Rassist“. (11) Er ließ dabei freilich offen, was er eigentlich unter Rassismus versteht.  

Rechte Bürgerkriegsrhetorik

Klar ist jedenfalls, dass Sarrazin dazu neigt, die Ursache von gesellschaftlichen Konflikten nicht in handfesten ökonomischen Interessen zu suchen, sondern sie auf schwammige ethnische Traditionen und  vermeintlich natürlich Loyalitäten zurückzuführen. Das Verhalten eines von der sich zuspitzenden Lage offensichtlich überforderten und verängstigten türkischen Restaurant-Leiters, der ihm schließlich die Bedienung verweigerte, interpretierte er in seinem Artikel in der Welt am Sonntag als Ausdruck einer ethnischen Loyalitätsbeziehung: „Güner Balci meinte etwas bitter, an der Stelle des Managers hätte sie das durchgestanden und die Polizei geholt. Ich erwidere, das sei ja gerade das Problem. Unter Druck gehöre die Loyalität dieses erfolgreichen deutsch-türkischen Geschäftsmannes offenbar eher den Krawallmachern der eigenen Volksgruppe als dem deutschen Gast.“ (Welt am Sonntag, 17.07.2011, Seite 2) Für den türkischen Gastgeber, sei „im Ausnahmezustand Blut dicker als Wasser“, entnimmt Michael Paulwitz, ein Kommentator der rechten Wochenzeitschrift Junge Freiheit, der Schilderung Sarrazins und entwirft anschließend das Schreckensgemälde einer angeblich drohenden „deutschenfeindlichen Gewalt“. (12) Sarrazins Auftritt in Kreuzberg ist für den rechten Journalisten nichts anderes als ein „Frontbesuch im sich abzeichnenden multikulturellen Bürgerkrieg“. (13)


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Anmerkungen

(1) http://www.misik.at/sonstige/kein-doner-fur-sarrazin.php
(2 ) http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,775147,00.html
(3) http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,775147,00.html
(4) http://www.migazin.de/2011/07/22/liebe-guner/
(5) http://www.kulturrat.de/detail.php?detail=2086&rubrik=2
(6)  http://www.faz.net/artikel/C31013/eklat-um-sarrazin-film-freiheit-die-ich-meine-30468507.html
(7) http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article13499001/Sehr-geehrter-Herr-Zimmermann.html
(8) http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article13499001/Sehr-geehrter-Herr-Zimmermann.html
(9)  http://www.tagesspiegel.de/medien/thilo-sarrazin-schafft-sie-alle/4416178.html
(10)  http://www.tagesspiegel.de/medien/thilo-sarrazin-schafft-sie-alle/4416178.html
(11) http://www.b2b-deutschland.de/berlin/region/detail_dapd_3111000970.php
(13) http://www.jungefreiheit.de/Single-News-Display-mit-Komm.154+M51d1287c0fa.0.html
(14) Ebd.

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