Freiheit mit bitterem Beigeschmack – Julian Assange geht Deal mit US-Justiz ein und wird freigelassen
Der Journalist und Whistleblower Julian Assange hat sich mit der US-Justiz auf einen Deal geeinigt, der ihm nach zehn Jahren Haft ohne Anklage endlich die Freiheit bringt. Aber ein bitterer Beigeschmack bleibt, was die angebliche Allgemeingültigkeit der westlichen Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit angeht. Dieser Artikel ist eine aktualisierte Fassung eines Artikels, den wir für das aktuelle Heft 7/8-24 geplant und verfasst hatten. Da sich das Heft zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Freilassung von Julian Assange bereits in Druck befand, konnten wir den gedruckten Artikel nicht mehr aktualisieren.
Die Enthüllungsplattform Wikileaks überraschte alle, als sie meldete, dass der Journalist und Whistleblower Julian Assange am 24. Juni 2024 in London eine Vereinbarung mit der US-Justiz unterzeichnet habe. Demnach bekenne er sich vor einem Gericht des im Pazifik gelegenen US-Überseegebietes der Marianen-Inseln des Geheimnisverrats und der Verschwörung schuldig und erhalte eine Strafe, die er bereits durch seine Inhaftierung ohne Anklage und Urteil im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh abgegolten hat, weshalb er umgehend als freier Mann in sein Geburtsland Australien weiterreisen dürfe. Die Bilder seiner Rückkehr, die Begrüßung durch seine Frau und seinen Vater gingen um die Welt.
Das ist für alle eine wunderbare Nachricht, die in den letzten zehn Jahren für Julian Assange und die Freiheit der Presse gekämpft haben. Aber so richtig kann man sich dann doch nicht freuen, wenn man die Details des Deals betrachtet und worum es im Grundsatz geht. Denn mit dem Deal haben die USA sich das Recht herausgenommen, überall auf der Welt Journalisten verfolgen zu können, die aus Sicht des Weißen Hauses mit ihrer Berichterstattung nationale Interessen der USA bedrohen.
Die angebliche Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit war für den Westen schon immer ein Mittel, um sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen zu können. Seit der Whistleblower und Journalist Julian Assange die Supermacht USA vor aller Welt als brutalen Kriegsverbrecher im Irak entlarvte und Washington unerbittlich seine Rachsucht auszuleben versuchte, erlebt die Welt, was die westlichen Lobgesänge auf Meinungs- und Pressefreiheit wirklich wert sind.
Es ist schon lange bekannt, dass Kinder, denen man ständig Moral predigt, keine Moral lernen, sondern nur das Predigen. Dabei ist es eigentlich sehr einfach: entweder eine Regel gilt universell und für alle oder sie ist nichts weiter als Propaganda. Die Bundeszentrale für politische Bildung Deutschlands hält dafür sogar eine Internetseite in einfacher Sprache bereit. Und dort wird die Meinungs- und Pressefreiheit, wie sie der transatlantische Westen predigt, am Beispiel des deutschen Grundgesetzes so erklärt:
Niemand anderes darf darüber bestimmen oder kontrollieren, was die Medien berichten. Man sagt dazu auch, dass eine Zensur nicht stattfindet.
Und Zensur bedeute:
Der Staat kontrolliert, was die Medien berichten, welche Worte die Medien benutzen, welche Bilder die Medien zeigen. Gefällt dem Staat etwas nicht, verbietet der Staat das.
Gern zitiert wird bei Belehrungsarien an nichtwestliche Staaten auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die in ihrem Artikel 11 vorschreibt:
Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.
Dieser Wortlaut entspricht im Wesentlichen auch dem Sinngehalt des Artikel 10 der Europäischen Menschenrechts-Konvention EMRK. Dort allerdings wird schon eingeschränkt, dass Staaten Gesetze erlassen dürfen, die Meinungs- und Pressefreiheit zum Schutz nationaler Sicherheit oder zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen einschränken.
Genau das nutzten die USA skrupellos als Alibi, um sich am Journalisten und Whistleblower Julian Assange rächen zu können, weil er den USA auf der Enthüllungsplattform Wikileaks schwerste Kriegsverbrechen im Irak nachweisen konnte, auf der Basis unzweifelhaft echter, originaler Dokumente.
Die USA verweigern Assange – trotz des jetzigen Deals – sowohl den Status eines Whistleblowers als auch den eines Journalisten. Doch selbst wenn sie ihm diesen Status zubilligen würden, da sie ihn auf der Basis des 1917 beschlossenen „Espionage Act“ anklagen wollten, nehmen sich die USA damit das Recht heraus, dass sich Assange nicht darauf berufen kann, wegen eines überragenden öffentlichen Interesses der US-Regierung Kriegsverbrechen nachweisen zu können.
Es wäre der erste Fall einer Verurteilung eines Journalisten auf der Basis dieses über 100 Jahre alten Gesetzes gewesen, aber die Wirkung wäre verheerend gewesen, warnte die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ im März 2024: „Käme es zu einer Verurteilung, könnte die US-Regierung in Zukunft allen Medienschaffenden den Prozess machen, die über Geheimnisse des Staates berichten. Das könnte verheerende Folgen für die Pressefreiheit haben.“
Das Perfide – die USA brüsten sich, mit vielfachen gesetzlichen Regeln Whistleblower besonders zu schützen:
Whistleblower leisten der Öffentlichkeit und dem Justizministerium einen wichtigen Dienst, wenn sie Hinweise auf Fehlverhalten melden.
heißt es beispielsweise auf der Seite des US-Justizministeriums. Und die US-Botschaft in Deutschland rühmt die Vereinigten Staaten als einen Hort unerschrockener Verteidigung von Freiheitsrechten:
Die Autoren der amerikanischen Verfassung verabscheuten die strenge Kontrolle, welche die britischen Herrscher in den amerikanischen Kolonien über Ideen und Informationen ausübten, die ihnen missliebig waren.
Und missliebig ist Julian Assange, weil er der Propaganda des transatlantischen Westens die Maske der Verlogenheit vom Gesicht abgenommen hat. Immerhin forderte Amnesty International im Februar 2024 unmissverständlich:
Julian Assanges Veröffentlichung enthüllter Dokumente auf Wikileaks darf nicht bestraft werden, da dies ein alltägliches Vorgehen im investigativen Journalismus ist. Eine Anklage gegen Julian Assange könnte andere Journalisten und Verleger davon abhalten, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen.
Wie rücksichtslos die USA, die angeblichen Verteidiger von Menschenrechten, Meinungs- und Pressefreiheit, vorgehen, wenn sie ihre Interessen durchsetzen wollen, zeigt nicht nur der Umgang mit dem Journalisten und Whistleblower Julian Assange, sondern auch mit seinen Mitstreitern wie Chelsea Manning, Edward Snowden oder dem Lieferanten der Daten, dem ehemaligen CIA-Agenten Joshua Schulte, der unter Haftbedingungen seiner Verurteilung zu 40 Jahren Haft wegen Geheimnisverrats entgegensehen musste, die zuletzt in Verliesen absolutistischer Herrscher der Vergangenheit üblich waren.
Eine Analyse des deutschen Portals Riff Reporter ergab, dass die Empörung und politischen Aktivitäten wegen des NSA-Schnüffel-Skandals nicht nur zu keiner Umkehr geführt haben, sondern sowohl die NSA als auch alle anderen Geheimdienste weltweit unverdrossen weiter elektronisch spionieren:
Der BND stellte nach der Veröffentlichung der Snowden-Dokumente im Jahr 2013 eine Liste von rund 2.000 rechtswidrigen Selektoren zusammen. […] 2015 wurden im Zuge des parlamentarischen NSA-Untersuchungsausschusses 459.000 Filtermechanismen für die Massenüberwachung gefunden, sogenannte Selektoren. Dabei handelte es sich auch um europäische Politiker und Unternehmen. Nur 400 dieser Selektoren wurden vom Geheimdienst aufgegeben. Laut einem Bericht des Spiegel waren rund 20.000 Selektoren, die sich gegen europäische Akteure wandten, noch aktiv.
Von der deutschen Bundesregierung konnte der Journalist und Whistleblower Julian Assange keine Hilfe erwarten, denn wie die Antwort auf eine Kleine Anfrage der damaligen Linksfraktion im Bundestag vom 20.10.2023 zeigt, flüchtete sich die Bundesregierung in nichtssagende, geradezu peinliche Phrasen, um sich nicht mit dem Weißen Haus anlegen zu müssen:
Es besteht aus Sicht der Bundesregierung kein Anlass dazu, an der Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz in den USA zu zweifeln.
Und das, obwohl sich auch Deutschland damit brüstet, angeblich Whistleblower zu schützen:
Die Bundesregierung will einen besseren Hinweisgeberschutz in Deutschland ermöglichen. Sogenannte „Whistleblower“ verdienen Schutz vor Benachteiligungen. Das Gesetz ist am 2. Juli 2023 in Kraft getreten.
Immerhin schienen deutsche Mainstream-Medien zuletzt endlich aufgewacht zu sein oder das Maß an schlechtem Gewissen war ins Unerträgliche gestiegen, denn Wortmeldungen wie die von der Frankfurter Rundschau: „Der Fall Assange ist ein US-Feldzug gegen die Pressefreiheit“ oder dem Deutschlandfunk: „Der Fall Assange: Was eine Entscheidung für die Pressefreiheit bedeutet“, beide vom Februar 2024, hätte man sich in den vergangenen Jahren in ähnlicher Regelmäßigkeit gewünscht wie die Lamentos an die Adresse Moskaus im Zusammenhang mit dem kremlkritischen Blogger Alexej Nawalny.
Da regierten dümmliche Pamphlete wie ein Kommentar vom 18. Juni 2022 in der stramm transatlantisch ausgerichteten FAZ, die nicht nur die Argumentation der US-Regierung nachplapperte: „Warum Julian Assange kein Held der Pressefreiheit ist“, sondern auch noch etwas betrieb, was angeblich eine Spezialität russischer Regierungspropaganda sei, billigster Whataboutism:
Wer auf geheimes Material über Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine hofft, braucht auch nicht auf Wikileaks zu setzen. Das hat Wikileaks nicht auf dem Zettel. Die Agenda von Assange, der 2012 eine Talkshow bei Russia Today hatte, konzentriert sich auf die USA. Wer ihn für einen Helden der Pressefreiheit hält, sollte einmal genau hinsehen.
Der Prüfstein, was die angeblich so heilige Meinungs- und Pressefreiheit des transatlantischen Westens wirklich wert ist, ist nach wie vor das Vorwort von George Orwell zu seinem Welterfolg „Farm der Tiere“:
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Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann vor allem das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.
Dieser Text ist eine Vorschau auf die Ausgabe 7-8/2023 unseres Magazins. Die können es auf dieser Website erwerben (Abo oder Einzelheft). Den nächsten Kiosk, in dem das Heft erhältlich ist, finden Sie über die Suche bei Mykiosk. Das Heft erscheint am 6. Juli.