Wohin taumelt Europa?
Das „Forum integrierte Gesellschaft“ ist ein offener Gesprächskreis mit dem Ziel, kritische Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Weltsichten in lebensdienlichen Austausch zueinander zu bringen. Die Treffen finden in lockerer, freundschaftlicher Atmosphäre statt. Ein Bericht des Treffens am 16. Juni 2023.
Der Krieg in der Ukraine hat uns weiter im Griff, auch wenn absehbar ist, dass die Front gegen Russland nicht die Resultate bringt, die ihre Betreiber sich wünschen. Es zeigt sich: Russland ist nicht zu „vernichten“, findet zudem Rückhalt aus den westkritischen Teilen der Welt; die Ukraine verblutet in Versuchen, in die Offensive zu kommen; Europa, insbesondere Deutschland, verliert zusehends wirtschaftliche und politische Souveränität in ihrer Nibelungentreue gegenüber den USA. In den USA deuten sich innere Auseinandersetzungen um den Sinn dieses Krieges an.
Vor diesem Hintergrund entschieden wir uns, uns mit der Frage von Ulrike Guerot und Hauke Ritz genauer zu befassen, die sie mit ihrem Ende 2022 erschienenen Buch „Endspiel Europa“ gestellt haben: „Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können.“
Wir wollen hier nicht die ganze Entwicklungsgeschichte Europas, konkret der EU nachzeichnen, die von den Autoren unter dem Eingangssatz: “Europa, das einstige Friedensprojekt, ist im Krieg“ als schrittweiser Verlust einstiger Friedenskraft und Souveränität Europas nach 1945 dargestellt wird. Jedem, der oder die sich ein kritisches Verständnis über die Genesis des Krieges in der Ukraine und die Rolle, die Europa darin übernommen hat, erarbeiten möchte, ist zu empfehlen, sich dieses Buch zu beschaffen und gründlich zu lesen.
Ein paar kritische Anmerkungen wären jedoch vorweg zu machen, die Europa als „Friedensprojekt“ doch etwas relativieren und die in der Darstellung der Autoren zu kurz kommen oder ganz fehlen. Zu nennen wäre zunächst die Rolle des geteilten Deutschlands als Stoßkeil gegen die Sowjetunion; die wollte seinerzeit ein neutrales statt eines geteilten Deutschlands etablieren. Zu nennen wären der Krieg in Nordirland, die Zerschlagung Jugoslawiens, die Beteiligung des vereinigten Deutschlands an Einsätzen in Afghanistan u.ä. Zu erinnern wäre schließlich, weiter zurückgreifend, an die lange Geschichte des europäischen Kolonialismus, über den Europa nicht nur eine große Kultur aufbaute und global verbreitete, sondern die Welt auch in die ersten beiden Weltkriege stürzte.
Kritisch wäre auch die Karte aus dem Jahre 1534 zu betrachten, die die Autoren dem Buch zentral beigegeben haben. Sie zeigt das Bild eines Europas, das sich in Gestalt der Europa als Frau quer zum Betrachter vom Atlantik tendenziell bis zum Ural erstreckt: Spanien bildet den Kopf der Figur, West- und Mitteleuropa den Oberkörper und Rumpf, während die Füße unter dem breit ausladenden Rock tief in den russischen Raum hineinragen. Dieses Bild Europas vom Atlantik bis zum Ural verdeutlicht zwar einprägsam die unlösliche Verbindung zwischen Russland und Europa, ist allerdings nicht geeignet, die Realität abzubilden, in der sich Russland als eigener Raum in den letzten 500 Jahren nach Entstehung dieser Karte zwischen Asien und Europa tatsächlich entwickelt hat. Ein solches reduziertes Verständnis von Russland als Teil Europas könnte, wie schon mehrmals in der Geschichte geschehen, nicht nur aggressive Geostrategen, sondern auch Freunde einer europäisch-russischen Verständigung in folgenreiche Irrtümer führen.
Wir wollen uns aber an die Hauptaussage dieses sehr mutigen Buches halten, das die Autoren mit dem Satz eingeleitet haben: „Europa ist im Krieg und verrät seine Friedenserzählung. Es will einen geeinten Nationalstaat verteidigen und übersieht, dass die Überwindung des Nationalstaates die europäische Epiphanie ist.“ Epiphanie, dies zum Verständnis, heißt Offenbarung. Gemeint ist die Offenbarung, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten in die beiden großen imperialistischen Kriege geführt hat. Und so warnen die Autoren: „In Europa könnte, so wie sich die Dinge mit Blick auf die Ukraine entwickeln – durch eine Übersprunghandlung zum dritten Mal ein Weltkrieg beginnen. Das Zeitgeschehen ist darum ein gleich dreifacher Verrat an Europa, ein Kulturbruch sondergleichen mit 70 Jahren Aufbauarbeit an Europa und Zivilität!“ Gemeint mit dreifach ist: Erster Weltkrieg, Zweiter – und heute.
Die einzige und unmittelbare Verantwortung, die sich daraus für Europa ergebe, so die Botschaft der Autoren, sei sich mit all seinem politischen Gewicht, flankiert von UNO und OSZE, für einen sofortigen Waffenstillstand auszusprechen und Friedensverhandlungen anzuberaumen. In diesen Friedensverhandlungen muss es aber nicht nur um einen Friedensschluss für die Ukraine gehen, sondern um eine europäische Grand Strategy, einen neuen, großen Entwurf für Europa im 21. Jahrhundert. Die USA sollten von diesen Verhandlungen eigentlich ausgeschlossen werden. Zwischen Europa und Russland müsste es möglich sein, sich auf eine neutrale Ukraine innerhalb einer föderalen Ordnung zu einigen, damit zu den Zielen des Minsker Abkommens (Minsk II) zurückzukehren und zugleich eine Sicherheitsordnung anzustreben, in der keiner sich bedroht fühlt. Dies würde genau der Idee einer kooperativen föderalen Ordnung für den gesamten Kontinent entsprechen, wie sie 1989 nach dem Mauerfall angestrebt wurde. Gleichzeitig müsste Europa wieder lernen, realpolitisch zu denken und zum Beispiel akzeptieren, dass die Krim nicht mehr zur Ukraine zurückkehren wird.“ (S. 144)
Die „Grand Strategy“, die im Schlusskapitel des Buches dann vorgestellt wird, lässt sich in zwei Kernpunkten zusammenfassen:
– Übergang eines nationalstaatlich organisierten Europas zu einem Europa der Regionen, die in einer politischen Union verwaltungstechnisch föderal zusammenwirken.
– Bildung einer Europa und Russland „überwölbenden“ Konföderation.
Der Krieg in der Ukraine, schreiben die Autoren im letzten Kapitel, in dem sie ihre Alternativen zum Krieg in der Ukraine ausführen, könne in diesem Sinne zu einer „europäischen Katharsis“ werden, zu einem „historischen Auslöser, Europa tatsächlich neu zu denken, staatlich, aber nicht nationalstaatlich, von einer europäischen Bürgerschaft her.“ (S. 173) Es gelte zu überdenken, so ihr Resümee, „ob es für Europa nicht ganz grundsätzlich andere Möglichkeiten gibt, mit dem Krieg in der Ukraine umzugehen, als sich Hals über Kopf in amerikanische Hände zu werfen: nämlich die, den Krieg in und um die Ukraine als Katalysator zu nehmen, um alles zu überdenken, was in den letzten Jahrzehnten an europäischer Entwicklung schiefgelaufen ist. Und sich dabei an den Wesenskern Europas, – nämlich ein föderales Friedensprojekt zur Überwindung des Nationalstaates zu sein –, zu erinnern. Und an die Karte von sich selbst, an die Europa von 1534 und daran, was sie uns sagen möchte. Bis zum 500. Geburtstag dieser Karte wäre noch ein paar Jahre Zeit, sich an die Heilung der Europa zu machen, diese wieder ganz werden und wieder mit den Füßen auf dem russischen Boden stehen zu lassen.“ (S. 179) Mit diesen Wünschen endet das Buch.
Wer jetzt den Autoren vorhält zu träumen, tut ihnen nicht unrecht. Sie selbst haben ihr Schlusskapitel unter die Überschrift gestellt: „Falls Europa erwacht – wie wieder von Europa träumen?“ Tatsache ist leider, dass Europa zurzeit nicht erwacht, wie von ihnen klar nachgezeichnet, und alle Ansätze zur Entwicklung eines Friedenstraumes eines konföderierten Großeuropas unter Einschluss von Russland an der Vasallentreue der EU gegenüber einer um ihre Dominanz kämpfenden USA und dem Selbstbehauptungswillen Russlands abprallen. Das wird so lange so sein, wie Europa, genauer die EU, noch genauer die zurzeit etablierten „Eliten“ der EU befürchten, dass ein Niedergang der USA in der sich verändernden Weltlage sie in den Niedergang mit hineinziehen würde.
Zu welchen Eskalationen das noch führen kann, darüber muss nicht spekuliert werden. Für die Völker, genauer jeden einzelnen Menschen Eurasiens, die in diesen Sog nicht mithineingezogen werden wollen, bedeutet dies jedoch, Wege zu finden, unterhalb der aggressiven Blockbildungen und bürokratischen, tendenziell autoritären Verhärtungen der herrschenden Politik direkte Beziehungen von unten her aufzubauen. Hierin liegt, ungeachtet einiger Verklärungen der historischen Rolle Europas, der aus dem Buch von Ulrike Guerot und Hauke Ritz hervorgehende aktuelle Impuls für eine friedliche Lösung des gegenwärtigen Konfliktes zwischen Europa und Russland.
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de