Wirtschaftsforscher fordern mehr Zuwanderung
DIW: Unternehmen brauchen mehr ausländische Arbeitskräfte / Bundesagentur für Arbeit: Deutsche Arbeitslosenzahlen auf höchstem Stand seit zehn Jahren / Bundesregierung: Gründe für Wirtschaftsflaute vor allem hohe Energiepreise, hohe Steuern und marode Infrastruktur
(Diese Meldung ist eine Übernahme von multipolar.)
Während derzeit im Wahlkampf politisch über eine Begrenzung der Migration debattiert wird, erklären Ökonomen, die deutsche Wirtschaft brauche langfristig mehr Zuwanderung. So heißt es in einem aktuellen Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, aufgrund des demografischen Wandels stehe Deutschland langfristig vor einem zunehmenden Arbeits- und Fachkräftemangel. Dieser werde das Produktionspotenzial der deutschen Wirtschaft erheblich einschränken.
Aus Sicht der Wirtschaftsforscher könnte mehr Migration die deutsche Wirtschaft „erheblich“ ankurbeln. Das inländische Arbeitskräftepotenzial sei nahezu ausgeschöpft und die „Babyboomer“ gingen demnächst in Rente. Eine niedrige Arbeitslosenquote und eine hohe Zahl an offenen Stellen seit etwa 2015 seien die Folgen dessen, dass die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1954 und 1969 aus dem Erwerbsleben nach und nach ausscheiden, schreiben die Autoren. Das führe dazu, dass die Zahl der inländischen Arbeitskräfte zwischen 2025 und 2029 voraussichtlich um etwa 300.000 Personen zurückgeht. Um das auszugleichen, wäre den DIW-Berechnungen zufolge bis 2029 eine Zuwanderung von 1,5 Millionen Erwerbspersonen notwendig.
Laut dem Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, den Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am 29. Januar vorstellte, liegen die Probleme deutscher Unternehmen jedoch vor allem in „höheren Energiepreisen und einer höheren Steuerlast, gestiegenen Sozialabgaben, zu viel Bürokratie und einer zum Teil maroden Infrastruktur“ begründet. Die Zahl der Firmenpleiten nimmt zu, ebenso wie die daraus resultierende Arbeitslosigkeit. Diese ist auf fast drei Millionen Betroffene angewachsen, wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) Ende Januar meldete. Dies ist der höchste Stand seit Februar 2015. Das Beschäftigungswachstum verliere „mehr und mehr an Kraft“, erläuterte BA-Chefin Andrea Nahles.
Laut DIW sei das Wachstum der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in Deutschland seit Anfang 2023 ausschließlich auf ausländische Arbeitskräfte zurückzuführen. Demnach stieg im dritten Quartal 2024 die Zahl der ausländischen Beschäftigten im Vergleich zum Vorjahr um rund 277.000 Personen. Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der deutschen Beschäftigten um etwa 125.000 Personen. „Das inländische Steigerungspotenzial zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs ist nur gering, so dass der Migration eine zentrale Rolle zufällt“, erklären die Autoren des DIW-Berichts.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hatte hingegen Ende 2023 erklärt, von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel könne derzeit nicht die Rede sein. Es gebe zwar weiterhin Fachkräfteengpässe „in einer erheblichen Zahl von Berufsgruppen“, zum Beispiel Gesundheits- und Pflegeberufe, Berufskraftfahrer, Gastronomieservice und Berufe in der Kindererziehung. Diese und einige weitere Engpassberufe seien aber „durch problematische Arbeitsbedingungen oder niedrige Arbeitsentgelte geprägt“. Das DGB-Positionspapier fordert, zuerst das inländische Fachkräftepotenzial zu aktivieren und zu nutzen. „Die pauschal intensivierte Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland kann nicht die Lösung sein.“
Die deutsche Wirtschaft habe schon immer Zuwanderung gefördert und gefordert, „um auf ein breites Arbeitskräfteangebot mit entsprechender Konkurrenz zurückgreifen zu können“, heißt es in einer Analyse des Portals „Gewerkschaftsforum“. Zuwanderung habe die wichtige Funktion, die klassischen Niedriglohnsektoren zu stabilisieren und mit Arbeitskräften zu versorgen, welche nachteilige Arbeits- und Lebensbedingungen in Kauf nehmen müssen, um überhaupt existieren zu können. Deutschland verspreche sich von der Zuwanderung junger mobiler Menschen „einen großen wirtschaftlichen Vorsprung vor den anderen EU-Ländern, als Voraussetzung für den weiteren Ausbau der Wirtschaftsmacht und der Arbeitskräftereserve, bei möglichst freiem Waren- und Personenverkehr“.
Der Ökonom Heiner Flassbeck hatte im Dezember 2024 die Debatte um die Migration und den Arbeitskräftemangel kritisiert und als „schizophren“ bezeichnet: Migration aus wirtschaftlichen Gründen aus Entwicklungsländern werde „verteufelt“, während Zuwanderung wegen wirtschaftlicher Notwendigkeiten in Deutschland als „Königsweg“ bei der Lösung hiesiger „demographischer Probleme“ gelte. Zum Thema Fachkräftemangel in Deutschland erinnerte er daran, dass gegenwärtig „zehntausende von Fachkräften von den Unternehmen mir nichts dir nichts auf die Straße gesetzt werden, weil die Politik die wirtschaftliche Talfahrt einfach verschlafen hat“.