Unklarheit nach Selenskijs Aussagen zur atomaren Bewaffnung der Ukraine
Ukrainischer Präsident verlangt Nato-Mitgliedschaft oder Atomwaffen / Im Anschluss: Selenskij dementiert eigene Aussage / Exil-Politiker: Selenskij berief bereits 2019 Rat zur atomaren Bewaffnung der Ukraine ein
(Diese Meldung ist eine Übernahme von multipolar.)
Die Ankündigung des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij sein Land im Falle einer ausbleibenden Nato-Mitgliedschaft atomar zu bewaffnen, hat Spekulationen über die militärtechnischen Möglichkeiten der Ukraine hervorgerufen. „Entweder wird die Ukraine Atomwaffen haben oder wir müssen in irgendeiner Allianz sein“, hatte Selenskij bei einer Pressekonferenz nach der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel gesagt. (17. Oktober) Außer der Nato gebe es keine funktionierenden Sicherheitsallianzen, ergänzte er. Am Tag zuvor hatte Selenskij bei der Vorstellung seines „Siegesplans“ im ukrainischen Parlament eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine als ersten und zentralen Punkt für einen „Frieden“ genannt.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte Selenskijs Aussage zu möglichen Atomwaffen als „gefährliche Provokation“ bezeichnet, die eine „angemessene Reaktion“ Russlands nach sich ziehen werde. Russland lasse keine ukrainischem Atomwaffen zu. Westliche Politiker hatten sich nicht öffentlich zu Selenskijs Atomwaffen-Erklärungen geäußert. General a. D. Harald Kujat, der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, kritisierte: Selenskijs Aussage sei „eine Drohung, die eine harte Reaktion des Westens erfordert hätte“ und zeige die „Unberechenbarkeit“ des ukrainischen Präsidenten.
Selenskij selbst hatte noch am 17. Oktober Abstand von seinen Aussagen genommen. „Wir bauen keine Atombomben.“ Der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andrii Jermak, erklärte, Selenskijs Aussage sei „falsch interpretiert“ worden. Jedoch hatte die Bild-Zeitung am selben Tag mit Bezug auf einen anonymen hochrangigen ukrainischen Beamten geschrieben, die Ukraine verfüge über genügend Ressourcen und Wissen um innerhalb weniger Wochen Atomwaffen zu bauen. Der Beamte, mit dem das Springer-Blatt schon vor Selenkijs Aussage gesprochen habe, sei auf die Beschaffung von Waffen spezialisiert, hieß es in dem Artikel. Das ukrainische Außenministerium wies den Bild-Bericht zurück.
Über die tatsächlichen Möglichkeiten der Ukraine, Atomwaffen zu konstruieren, wird seitdem international debattiert. Wladimir Putin sagte, in der modernen Welt sei es grundsätzlich nicht schwer, Kernwaffen herzustellen, allerdings wäre dies für die Ukraine in ihrem heutigen Zustand auch nicht einfach. Der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimov erklärte in der Neuen Zürcher Zeitung (28. Oktober), die Ukraine besitze alles Notwendige außer einer Urananreicherungsanlage. „Es würde mindestens zehn Jahre brauchen und hundert Milliarden Dollar kosten, eine solche von Grund auf zu bauen, um waffenfähiges Uran zu produzieren.“
Der ukrainische Politiker und frühere Vize-Fraktionsvorsitzende der Partei der Regionen, Oleg Zarjow, erinnerte in einem Zeitungsinterview (19. Oktober) daran, dass es keines Urans Bedarf, um eine Atombombe zu bauen. Die Ukraine verfüge über „mehr als genug“ Plutonium aus Abfällen von Kernreaktoren, um die für eine Explosion erforderliche kritische Masse zu erreichen. Zarjow, der ausgebildeter Physiker ist, berichtete zudem darüber, dass Selenskij bereits im Jahr 2019 eine Sitzung zur Beschaffung von Atomwaffen einberufen hatte. Der dort vortragende Vizepräsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Wladimir Gorbulin, habe geschätzt, dass die Ukraine innerhalb von sechs Monaten in den Besitz von Atomwaffen gelangen könnte. Außerdem habe Gorbulin empfohlen, eine streng geheime Kommission einzurichten, die die atomare Bewaffnung der Ukraine vorantreibe.
Ein Vertrauter Zarjows, der ein physikalisches Institut in der Ukraine leitet und mit dem Rat in Verbindung stand, glaube sogar dass die Versuche, eine atomare Bewaffnung der Ukraine „wiederherzustellen“, der Grund für den russischen Einmarsch im Februar 2022 war, sagte Zarjow. Dem früheren ukrainischen Parlamentsabgeordneten zufolge seien wiederholte Angriffe der russischen Luftwaffe auf bestimmte Rüstungsbetriebe in den ukrainischen Städten Pawlograd und Dnipro (Russisch: Dnjepropetrowsk) starke Indizien dafür, dass auch das russische Militär die Möglichkeit einer ukrainischen Atombombe „sehr ernst“ nehme. In den Werken lagerten die Trägerraketen beziehungsweise werde der notwendige Raketentreibstoff hergestellt. Die Möglichkeit, dass Kiew Atomwaffen herstellt, sei „kein Bluff“ sondern eine „ernsthafte Bedrohung“, unterstrich Zarjow.
Ebenfalls debattiert wird die Möglichkeit der Ukraine, eine sogenannte „schmutzige Bombe“ zu schaffen. Für diese ist weder spaltbares Material erforderlich, das auf Kernwaffenqualität angereichert ist, noch eine spezielle Technologie. Eine „schmutzige Bombe“ enthält radioaktive Stoffe – etwa Abfälle aus Atomkraftwerken oder Forschungslaboren – und setzt diese durch die Zündung von konventionellem Sprengstoff in der Umgebung frei.
Wolodimir Selenskij hatte in Brüssel gesagt, die Ukraine befinde sich heute im Krieg, weil sie 1994 „ihre“ Atomwaffen aufgegeben habe. Er bezog sich dabei auf das sowjetische Atomarsenal, das zum Teil in der Ukrainischen Sowjetrepublik stationiert war und nach der Unabhängigkeit des Landes von Moskau 1991 auf dem Territorium der Ukraine verblieben war. Neben Russland waren auch in Kasachstan und Weißrussland sowjetische Atomwaffen gelagert worden. Beide Länder sowie die Ukraine, in der 176 ballistische Interkontinentalraketen, 33 strategische Bomberflugzeuge und rund 1700 Atomsprengköpfe stationiert waren, gaben das atomare Waffenarsenal an Moskau zurück, nachdem alle Beteiligten sowie die USA und Großbritannien 1994 das „Budapester Memorandum“ auf dem OSZE-Gipfel in der ungarischen Hauptstadt unterzeichnet hatten.
Darin verpflichtete sich die Ukraine, dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) als Staat ohne Nuklearwaffen beizutreten und die sowjetischen Kernwaffen zurückzugeben. Die Großmächte hatten sich darin unter anderem verpflichtet, auf die Anwendung von Gewalt gegen die Ukraine zu verzichten und ihre Souveränität zu achten. Westliche Staaten werfen Russland vor, durch den Einmarsch im Februar 2022 gegen seine Verpflichtungen aus dem Memorandum zu verstoßen. Russland wiederum wirft den westlichen Mächten vor, schon lange zuvor gegen den Inhalt des Memorandums verstoßen zu haben, indem sie 2014 innerukrainische Proteste anfachten („Maidan“) und eine verfassungswidrige Machtübernahme in Kiew orchestrierten.