Ukraine: Hunderttausende Männer wegen Kriegsdienst untergetaucht
Ausschussvorsitzender: Rund 800.000 Wehrpflichtige leben „im Untergrund“ / Anzahl der Deserteure erreicht neuen Höchststand / Widerstand in Bevölkerung und Unternehmen
(Diese Meldung ist eine Übernahme von multipolar)
Rund 800.000 Männer sind laut Dmytro Natalukha, dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses des ukrainischen Parlaments, innerhalb der Ukraine untergetaucht, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Dies berichtet die US-Zeitung „Financial Times“ (4. August) und bezeichnet den Zustand als Leben „im Untergrund“. Die wehrpflichtigen Männer wechselten demnach ihren Wohnort und arbeiten nur inoffiziell gegen Barzahlung. Die ukrainischen Behörden hätten keinen Zugriff auf diese Männer.
Auch zeichnet sich verstärkter Widerstand gegen neue Rekrutierungen ab: In der nordwestukrainischen Stadt Kowel kam es Anfang August zu spontanen Protesten der Bevölkerung, nachdem mehrere junge Männer von der Polizei verhaftet und zur örtlichen Registrierungsstelle für den Militärdienst gebracht wurden. Die Behörden ließen die Eingezogenen daraufhin wieder frei. Zudem erreichte die Zahl der Deserteure im ersten Halbjahr 2024 mit 29.000 eingeleiteten Verfahren ein Rekordhoch. Zahlreiche Männer versuchen auch weiterhin, das Land zu verlassen. Regelmäßig kommt es zu Berichten über an der Grenze festgenommene, tödlich verunglückte oder erschossene Ukrainer.
Diese Entwicklungen stehen im Zusammenhang mit zwei neuen Mobilisierungsgesetzen, die im April von Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichnet wurden und im Mai in Kraft traten. Ende 2023 hatte Selenskyj bereits verkündet, dass die Ukraine 500.000 neue Soldaten brauche, um der russischen Armee standzuhalten. Laut amtlichen ukrainischen Zahlen ist bereits jeder achte wehrfähige Mann im Land Invalide.
Das erste Gesetz senkt das Mindestalter für den Einzug von Wehrpflichtigen von 27 auf 25 Jahre ab. Laut Angaben der New York Times betrug die Anzahl der 25- und 26-jährigen männlichen Ukrainer im Jahr 2022 jedoch lediglich 467.000, einschließlich derjenigen, die in den von Russland kontrollierten Gebieten oder im Ausland leben. Das zweite Gesetz verpflichtet alle ukrainischen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, sich bei den militärischen Registrierungsstellen zu melden und die entsprechenden Dokumente stets bei sich zu führen. Verstöße gegen das Gesetz werden mit Geldstrafen und dem Verlust des Führerscheins geahndet.
Auch ukrainische Männer im Ausland in dieser Altersspanne müssen sich bei den Registrierungsstellen melden, was nur in ihrem Heimatland möglich ist. Kommen sie dem nicht nach, stehen ihnen keine konsularischen Dienstleistungen wie die Verlängerung ihres Passes mehr zur Verfügung. Dies kann rechtliche Folgen haben, beispielsweise bei der Eröffnung eines Bankkontos im Ausland. Laut dem Statistischen Amt der Europäischen Union waren Ende 2023 mindestens 650.000 ukrainische Männer zwischen 18 und 64 Jahren in der EU, Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein als Flüchtlinge registriert, davon 247.000 im Alter zwischen 18 und 60 Jahren allein in Deutschland.
Eine anfangs diskutierte Begrenzung des Wehrdienstes in der Ukraine auf maximal 36 Monate hat das ukrainische Parlament hingegen nicht beschlossen – offenbar auf Druck des neuen Oberbefehlshabers der Streitkräfte Oleksandr Syrskyj. Laut der Deutschen Welle sind jedoch der Wunsch der Soldaten nach Erholung, ein schlechter psychologischer Zustand sowie Erschöpfung die Hauptgründe für die hohe Anzahl an Deserteuren. Die offizielle Wehrdienstzeit beträgt 18 Monate. Gegen das neue Mobilisierungsgesetz hatten ukrainische Fernfahrer bereits im Mai mit einer Blockade der Autobahn Kiew-Odessa protestiert.
Durch die neue Mobilisierungskampagne gerät auch die ukrainische Wirtschaft weiter unter Druck. Laut Informationen der Financial Times fordern die größten Unternehmen des Landes umfassende Ausnahmen für ihre Mitarbeiter vom Militärdienst, um das wirtschaftliche Überleben der Ukraine zu sichern. Die Firmen hatten vorgeschlagen, eine Schutzgebühr von 20.000 Griwna (440 Euro) für jeden Arbeiter an den Staat zu zahlen oder eine Gehaltsgrenze einzuführen, ab der man nicht mehr mobilisiert werden darf. Auch wegen der stark verbreiteten Korruption in der Ukraine, die es wohlhabenden Bürgern ermöglicht, sich vom Kriegsdienst freizukaufen, hat sich in dem Land eine Debatte über ein gerechtes Wehrpflichtsystem entzündet.