Ukraine erhöht Druck auf wehrfähige Staatsbürger im Ausland
Wehrpflichtige Männer erhalten ohne Militärpass keine konsularischen Leistungen mehr / Polen und Litauen wollen Ukrainer rückführen / Russischer Durchbruch und ukrainische Personalnot an der Front
(Diese Meldung ist eine Übernahme von multipolar)
Die ukrainische Regierung verschärft ihre Bemühungen, männliche Staatsbürger, die im Ausland leben, für den Kriegsdienst zu rekrutieren. Laut dem neuen Mobilisierungsgesetz erhalten Exil-Ukrainer im Alter von 18 bis 60 Jahren nur noch dann amtliche Dokumente, wenn sie diese persönlich in der Ukraine beantragen oder bei einem ukrainischen Konsulat einen gültigen „Wehrpass“ vorlegen können. Außenminister Dmytro Kuleba teilte mit: „Wenn diese Leute meinen, dass weit weg jemand an der Front kämpft und sein Leben für diesen Staat opfert und ein anderer sitzt im Ausland und erhält dabei Dienstleistungen dieses Staates, so funktioniert das nicht.“ Männer im wehrfähigen Alter, die ins Ausland gegangen sind, hätten ihrem Land damit gezeigt, dass sie sich nicht um dessen Überleben kümmern, schrieb Kuleba. Ein Auslandsaufenthalt entbinde Ukrainer nicht von ihren Pflichten gegenüber dem Heimatland.
Ein neues, politisch lang umkämpftes Mobilisierungsgesetz, das im April vom Parlament in Kiew verabschiedet wurde, tritt am 18. Mai in Kraft und verpflichtet alle ukrainischen Männer im wehrfähigen Alter sich von da an binnen 60 Tagen bei Einberufungsämtern zu melden. Die Ausstellung von Dokumenten in ukrainischen Konsulaten ist allerdings schon seit dem 23. April auf Anordnung des Außenministeriums untersagt worden, berichtete das ukrainische Magazin „Dzerkalo Tischnja“ (Wochenspiegel). Mit der Einstellung konsularischer Dienstleistungen soll die Rückkehr der betroffenen Männer in die Ukraine forciert werden. Für die Front eingezogen werden sollen laut dem Mobilisierungsgesetz Männer ab 25 Jahren, während die Jüngeren eine dreimonatige Militärausbildung absolvieren.
Mehrere osteuropäische Regierungen haben bereits angekündigt, wehrpflichtige Ukrainer in ihr Heimatland abschieben zu wollen. So teilte der polnische Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz mit, „alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um Zehntausende von Männern im wehrfähigen Alter in die Ukraine zurückzubringen“, heißt es in einem Bericht der britischen Zeitung „The Telegraph“. (25. April) Von den knapp eine Million registrierten ukrainischen Flüchtlingen in Polen seien rund 16 Prozent Männer im wehrpflichtigen Alter. Viele weitere Ukrainer waren bereits vor dem Krieg in Polen berufstätig. „The Telegraph“ bezeichnet die angekündigte Abschiebung genauso wie das deutsche Magazin „Focus“ als „Deportation“.
Der litauische Verteidigungsminister Laurynas Kasčiūnas sagte, auch seine Regierung sei bereit, wehrpflichtige Ukrainer in Litauen ausfindig zu machen und zurück in ihr Heimatland zu schicken. Der estnische Innenminister Lauri Läänemets hatte ein entsprechendes Angebot bereits im vergangenen Dezember ausgesprochen. Der deutsche Justizminister Marco Buschmann (FDP) hatte damals jedoch erklärt, die Bundesrepublik werde hierzulande lebende Ukrainer nicht „zu einer Wehrpflicht oder zu einem Kriegsdienst zwingen“.
Die verstärkten Versuche wehrpflichtige Männer zu rekrutieren, gehen auf die akute Personalknappheit des ukrainischen Militärs zurück. Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij sind in den beiden Jahren seit dem russischen Einmarsch 31.000 ukrainische Soldaten gestorben. Dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu zufolge hat die ukrainische Armee hingegen bereits fast eine halbe Million Soldaten verloren. Die ukrainische Armeeführung hatte bereits im Dezember 2023 die Mobilisierung von 500.000 neuen Soldaten gefordert.
Zu den weiteren Verlusten zählen auch hunderttausende schwer verwundete Soldaten: Der ukrainische Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko bezifferte im Februar 2024 die Zahl der Soldaten, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten auf mehr als 100.000. Die Zahl der Ukrainer mit schweren Behinderungen sei seit Kriegsbeginn um mehr als 300.000 angestiegen. Zudem seien inzwischen rund 100.000 ukrainische Soldaten desertiert, erklärte der ukrainische Anwalt Rostislaw Kravets in einem TV-Interview. (23. April)
Derweil hat die russische Armee in den vergangenen Wochen bei Angriffen im Donbass umfangreiche Geländegewinne erzielt. Nachdem im Februar bereits die stark befestigte Kleinstadt Awdijiwka, westlich von Donezk erobert wurde, besetzten russische Soldaten Ende April neben mehreren Dörfern und zahlreichen Verteidigungsanlagen auch die Ortschaft Otscherytne. Die Siedlung rund zehn Kilometer nordwestlich von Awdijiwka galt zuvor als logistischer Knotenpunkt der ukrainischen Armee. Die Zeitung „Kyiv Post“ schreibt, der russische Vormarsch sei so rapide wie zuletzt in den ersten Wochen des Krieges. Die russische Armee nutze hierzu ihre nahezu vollständige Luftüberlegenheit und den ukrainischen Personalmangel aus.