Tunesien: Wahlsieg der Islamisten
(25.10.2011/dpa)
Nach den Wahlen in Tunesien am Sonntag zeichnet sich ein Sieg der islamischen Ennahdha-Bewegung ab. Am Abend wird die Verkündung des offiziellen Endergebnisses erwartet. Dann wird sich die Frage klären, ob die Ennahdha auch die absolute Mehrheit der Abgeordneten stellen wird.
Die als gemäßigt-islamistisch geltende Ennahdha war unter dem im Januar gestürzten Herrscher Zine el Abidine Ben Ali verboten. Befürchtungen liberaler Tunesier, dass sich ihr Heimatland nun in einen fundamentalistischen Gottesstaat verwandeln könnte, versuchte Ennahdha-Führer Raschid Ghannouchi zu beschwichtigen. Der Staat solle sich nicht in das Privatleben der Bürger einmischen und jede Frau solle selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen wolle oder nicht, zitiert ihn der ORF. (1)
Auch Parteiführungs-Mitglied Nourreddine Bhiri trat derartigen Befürchtungen entgegen: „Wir achten die Rechte der Frauen und die Gleichheit aller Tunesier unabhängig von ihrer Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer sozialen Herkunft“.(2) Als Vorbild gilt der Ennahdha die türkische Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Erdogan. Das türkische Beispiel zeige, dass Islamismus und moderne Demokratie vereinbar seien.
Als zweitstärkste politische Kraft ging nach vorläufigen Zählungen die gemäßigt linke Kongresspartei für die Republik (CRP) aus den Wahlen hervor. Deren Präsident Moncef Marzouki hatte die CRP 2001 gegründet. Ebenso wie die Ennahdha war sie unter der Herrschaft Ben Alis verboten. Marzouki wirkte daher aus dem Exil in Frankreich. Ihre Wählerbasis hat sie besonders unter den gebildeten und gut verdienenden Teilen der Bevölkerung. Ihr Einfluss unter den armen Tunesiern ist vergleichsweise gering, wohingegen die Ennahdha laut Schätzungen von rund 70 Prozent der ärmeren Tunesier gewählt wurde.
Großer Wahlverlierer ist die Fortschrittliche Demokratische Partei (PDP) von Ahmed Chebbi, die laut den vorläufigen Schätzungen auf nur wenige Prozent kommt. Die PDP gilt als Partei der Mitte und saß bereits unter dem alten Regime Ben Alis im Parlament.
Trotz zum Teil stundenlanger Wartezeiten in den Schlangen vor den Wahllokalen, wollte sich eine große Mehrheit der Bevölkerung nicht die Möglichkeit nehmen lassen, erstmals über die Zukunft des Landes mitbestimmen zu können. Die Wahlbeteiligung lag bei über 90 Prozent. Rund 40.000 Polizisten und Soldaten sorgten für die Sicherheit am Wahltag. Es wurden keine größeren Zwischenfälle vermeldet.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hatte mit eigenen Beobachtern die Wahlen überwacht und anschließen deren Verlauf gelobt. Neun Monate nach dem Sturz von Langzeitherrscher Ben Ali waren rund sieben Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, die 217 Mitglieder einer verfassungsgebenden Versammlung zu bestimmen. Sie soll einen neuen Übergangspräsidenten ernennen und ein Grundgesetz erarbeiten. Für die 217 Sitze in der Versammlung kandidierten insgesamt 11 618 Bewerber.
Die Revolte gegen Machthaber Ben Ali war der Auslöser des sogenannten arabischen Frühlings, in dessen Verlauf es zu Protesten in zahlreichen arabischen Ländern kam. Mit der gestern verkündeten Einführung der Scharia in Libyen, dem Wahlsieg der Ennahdha in Tunesien und einem sich abzeichnenden Wahlsieg der Muslimbrüder in Ägypten, könnte sich der arabische Frühling tatsächlich als „islamisches Erwachen“ heraus stellen. Unter diesem Schlagwort hatten die iranischen Machthaber die Proteste zusammen gefasst – und könnten damit Recht behalten.
Anmerkungen
(1) http://oe1.orf.at/artikel/289206
(2) http://derstandard.at/1319181148317/Nach-Wahl-Ennahda-will-Rechte-von-Frauen-und-Minderheiten-achten