Starre Fronten bei Geißlers „Demokratieexperiment“

(22.10.2010/dpa)

Schlichtung live: Heiner Geißler moderiert, der Grüne Palmer greift an, Ministerpräsident Mappus schweigt. Der Runde Tisch zu Stuttgart21 ist ein „Demokratieexperiment“. Aber die Fronten bleiben verhärtet.

Heiner Geißler lockert die Atmosphäre bei der ersten Live-Schlichtung zum Bahnhofsumbau Stuttgart21 gleich zu Beginn mit einem Fauxpas auf: Der 80-jährige, frühere CDU- Generalsekretär versäumt es, Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) vorzustellen. Das Pro- und das Kontra-Lager quittieren es mit Lachen, und auch Mappus nimmt es mit Humor: „Ich bin als Experte da.“

Doch wer die erste Runde am Vormittag am Runden Tisch im Stuttgarter Rathaus verfolgt, der kann den Eindruck bekommen, dass Mappus gar nicht anwesend ist. Während der Wortführer der Gegenseite, der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, gegen das Milliardenprojekt zu Felde zieht, hält sich der eigentlich als impulsiv bekannte Regierungschef komplett zurück.

Palmer liefert ein Feuerwerk an Argumenten und Anschuldigungen. Tenor: Stuttgart21 sei ein völlig überteuertes und sinnloses Prestigeprojekt, an dem Mappus und die Bahn nur festhielten, weil es einmal beschlossen wurde. Doch durch die Kostensteigerungen sei die Grundlage für die Beschlüsse brüchig geworden.

„Wenn ein Parlament einen ICE bestellt und dann zum doppelten Preis eine Dampflok geliefert bekommt, dann darf man noch mal fragen, ob man die Bestellung rückgängig machen darf“, sagt der 38-jährige Palmer, der nach eigenen Worten hunderttausende Demonstranten vertrat. Sein Fazit: Bahn und Land seien mit ihrer Strategie gescheitert.

Doch die Befürworter lassen sich nicht provozieren und schicken Bahn-Technikvorstand Volker Kefer an die Front. Er wirbt sachlich für den Tiefbahnhof und die Neubaustrecke nach Ulm, mit der man zwei Millionen mehr Fahrgäste gewinnen könne. „Jeder muss wissen, welchen Weg er beschreitet“, kommentiert Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) den Auftritt von Palmer in einer Pause.

Die Gegner versuchen mit einer „Mischung aus politisch-polemisch und sachlicher Argumentation“ zu punkten. Erst am späten Nachmittag greift Gönner einmal ein und mahnt Palmer, den Experten der Gegenseite nicht von vornherein jegliche Glaubwürdigkeit abzusprechen. Tatsächlich überschreitet der Tübinger Oberbürgermeister in seinem Eingangsreferat mehrmals die von Geißler gezogene Grenze: keine parteipolitische Auseinandersetzung. „Wir machen kein historisches Seminar“, hatte der Schlichter gemahnt. Es solle nicht ständig auf frühere Aussagen der Gegenseite verwiesen werden. Palmer führt jedoch Zitate unter anderem von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Wirtschaftsminister Ernst Pfister (FDP) auf, um wortreich zu versuchen, sie zu widerlegen.

Der Auftritt von Palmer wird auch auf Regierungsseite mit Argusaugen beobachtet. Schließlich gilt er als Anwärter auf höhere Weihen, sollten die Grünen tatsächlich bei der Landtagswahl am 27. März 2011 die schwarz-gelbe Regierung knacken – auch als potenzieller Nachfolger von Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU), der mit am Tisch sitzt, wird er immer wieder gehandelt. Bei der Schlichtungsrunde vertritt Palmer Fraktionschef und Spitzenkandidat Winfried Kretschmann, weil er sich als Verkehrsexperte seit zehn Jahren mit dem Projekt fachlich beschäftigt habe.

Am Runden Tisch geht es vor allem dank der souveränen Leitung von Geißler gesittet zu. Immer wieder grätscht er dazwischen, wenn Redner Abkürzungen, Fach- oder Fremdwörter benutzen. „Was verstehen Sie unter…“, fragt er. Geißler, der sich als „Anwalt des Zuschauers“ versteht, spricht anschließend von einem ganz guten Anfang des „Demokratieexperiments“, bei dem sich die Bürger von ihrer „Unmündigkeit“ befreien könnten.

Mappus war dann am Nachmittag wirklich nicht mehr da. Begründung: Andere Termine. Dies sei aber mit Geißler abgesprochen gewesen.

Drucken

Drucken

Teilen