Industrie betrachtet Militarisierung zunehmend als Ausweg aus der Wirtschaftskrise
Beratungsunternehmen: Interesse an Transformation „sehr hoch“ / Für mehr Aufrüstung: Bundesverband der Deutschen Industrie fordert Beeinflussung des „Meinungsklimas“ / Politologe: Freiwilliger Einstieg vieler Firmen in Rüstungssektor „erschreckend“
(Diese Meldung ist eine Übernahme von multipolar.)
Viele Branchen erhoffen sich laut einem ZDF-Bericht einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise durch steigende Rüstungsausgaben der Regierung. So informierte etwa die Würzburger Industrie- und Handelskammer (IHK) Firmenvertreter am Mittwoch (12. März) bei einer Veranstaltung in Schweinfurt wie das eigene Geschäftsmodell auf den Verteidigungssektor umgestellt werden kann. Bei der IHK für München und Oberbayern wurde deshalb im Sommer die Stelle eines Referenten für Verteidigungswirtschaft neu geschaffen. Maximilian Epp, der die Stelle innehat, trat auch in Schweinfurt auf. „Da der Bereich der Verteidigungsindustrie aufgrund der aktuellen geopolitischen Situation vermehrt an Aufmerksamkeit gewinnt, wird dieser für unsere Unternehmen interessanter“, sagt er gegenüber Multipolar.
Matthias Witt, Inhaber der bei der Veranstaltung beteiligten WIMCOM GmbH, erklärt auf Nachfrage von Multipolar, das Interesse von Unternehmen, sich Richtung Verteidigungswirtschaft zu transformieren, sei seit Oktober 2024 „sehr hoch“. Seit 2014 hilft das Consulting-Unternehmen bei Geschäftsanbahnungen im „Military Business“. In Schweinfurt informierte es über Kooperationen mit der Bundeswehr. Das größte Interesse an Schulung und Beratung haben Matthias Witt zufolge aktuell nationale und internationale Investoren sowie die Automobilindustrie. Ein Sprecher des Verbands der Automobilindustrie bestätigt auf Anfrage von Multipolar: Grundsätzlich könnten bestehende Fabriken der Automobilindustrie „neue Aufgaben übernehmen“.
Auf Multipolar-Nachfrage, wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zur Militarisierung der Wirtschaft steht, verweist Pressesprecherin Andrea Stahl auf die Aussagen von Wolfgang Niedermark, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung, zum EU-Verteidigungsgipfel. „Europa muss so schnell wie möglich verteidigungsfähig werden“, hatte er am 7. März gefordert. Die europäische Industrie sei „in der Lage und bereit, die Produktion rasch weiter zu steigern, schnell zu liefern und den europäischen Bedarf für jedes Szenario zu decken, sobald Aufträge erteilt werden“.
Weiter verwies Stahl auf die Rede von BDI-Präsident Peter Leibinger bei der Auftaktveranstaltung zur Münchner Sicherheitskonferenz. Leibinger forderte, man müsse „das große Potenzial unserer Industrie, unser Land wehrhaft zu machen, viel stärker ausschöpfen“. Außerdem appellierte er, besser in der Bevölkerung „für die Notwendigkeit der Wiederaufrüstung“ zu werben. Dazu müsse ein „Meinungsklima“ und ein „Sog“ erzeugt werden, „der alle Lebensbereiche erfasst“. Leibinger verwies in seiner Rede auf die Autorin Anne Applebaum, die im Vorstand des National Endowment for Democracy (NED) sitzt. Wer sich „für zu fein“ oder „für zu pazifistisch“ halte, um die Wiederaufrüstung zu bejahen, der habe „rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt“, zitiert er Applebaum. Auf die Nachfrage, ob der BDI auch Gefahren einer Militarisierung sieht, wollte sich der Verband nicht äußern.
Der Verband der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI) erhofft sich ebenfalls Wachstumsimpulse durch den Ausbau der Verteidigungsindustrie. Eine Sprecherin teilte auf Multipolar-Anfrage mit: „Vor allem bei unterausgelasteten volkswirtschaftlichen Kapazitäten” sei dies eine Möglichkeit. Der Transformationsaufwand sei je nach Produkt unterschiedlich hoch. „Seitens der EU und der Bundesregierung gibt es das Bestreben, die Regularien entsprechend pragmatisch zu gestalten, um die Bedarfe der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie mit den Möglichkeiten der Firmen möglichst bürokratiearm zusammenzubringen“, erklärt sie. Was mögliche Gefahren einer Militarisierung anbelangt, müsse jedes Unternehmen selbst entscheiden und sich „in Abstimmung mit den eigenen Stakeholdern dazu positionieren“.
Andreas Seifert vom Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) verweist auf Multipolar-Nachfrage darauf, dass es inzwischen zahlreiche Veranstaltungen wie jene in Schweinfurt zur Vernetzung von Wirtschaft und Verteidigung gibt. So führe das Bundeswehrbeschaffungsamt solche Veranstaltungen durch. Bei der Mittelstandvereinigung gebe es eine „Kommission Bundeswehr und BOS“. BOS steht für „Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben“. Weitere Veranstaltungen werden von der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik organisiert. So findet am 25. und 26. März in Bonn eine Tagung mit dem Titel „Unbemannte Systeme X” statt. Dabei geht es unter anderem um „Perspektiven für Industrie, Forschung und Streitkräfte zur Entwicklung einer schlagkräftigen und effektiven Drohnenabwehr in Deutschland“.
Neu an den Infoveranstaltungen sei die Rahmung als „Weg aus der Krise“, sagt Andreas Seifert. „Das soll offensichtlich gegebenenfalls vorhandene moralische Bedenken minimieren.“ Davon erzählt ein SWR-Beitrag vom 4. März. Selbst die Ditzinger Laserfirma Trumpf des 2018 gestorbenen christlichen Unternehmers Berthold Leibinger erwäge, Laser zur Drohnenabwehr zu entwickeln. Bislang war eine Beteiligung an Waffenproduktion laut Gesellschaftervertrag verboten.
Vor allem in Bayern und Baden-Württemberg seien inzwischen eine Reihe von größeren, aber auch kleineren Unternehmen im Nebengeschäft für die Bundeswehr oder die Wehrtechnische Industrie aktiv, unterstreicht Andreas Seifert. Wie freiwillig Industrieunternehmen in die Rüstungswirtschaft einsteigen, sei erschreckend: „Hier reicht auch das Erklärungsmuster des ökonomischen Drucks nicht aus.“ Lange habe die kritische Einstellung vieler Beschäftigten gegenüber einem Rüstungsengagement Unternehmen gehindert, aktiv zu werden. „Das hat sich mit der medialen und politischen Dauerberieselung einer ‚notwendigen‘ Verteidigung verschoben“, betont der Tübinger Politikwissenschaftler. Das permanente Reden vom „Krieg“ habe friedfertige Wege der Konfliktlösung verdrängt.