Die Linke

Die Linkspartei hat keine Perspektive mehr

Alexander Neu über die Partei Die Linke: Neu war acht Jahre lang Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke. Von 2013 bis 2021 vertrat er die Partei im Parlament. Heute hat er einen deutlich kritischen Blick auf sie. Im Interview erklärt er die Gründe dafür.

Alexander Neu – hier auf einer Veranstaltung der Partei Die Linke zum Thema “Nein zur NATO” (im Juni 2018).
Foto: Fraktion Die Linke im Bundestag Lizenz: CC.BY 2.0, Mehr Infos

Hintergrund: Herr Dr. Neu, ist die Partei Die Linke noch eine linke Partei?

Alexander Neu: Die Partei Die Linke hat sich in den letzten Jahren zu einer Partei entwickelt, die immer weniger einen linken Anspruch hat. Ich unterscheide zwischen links und linksliberal. Sie ist tatsächlich zunehmend linksliberal geworden. Wir haben einen Zuwachs an jungen Mitgliedern in den letzten Jahren erhalten, unter der Führung von Katja Kipping und Bernd Riexinger. Aber diese jungen Leute haben nicht unbedingt das theoretische Fundament für ein linkes Denken. Sie haben wahrscheinlich noch nie in ein Buch von Karl Marx reingeschaut, ins „Kapital“ oder auch mal ein Buch von Lenin gelesen oder auch deutsche Klassiker. Das ist eher ein Denken auf der Ebene von „Ich fühl mich gut, wenn ich sagen kann, ich bin links und spende mal ein bisschen Geld und esse woke“. Das ist deren Denken von links. Und das hat leider in der Partei überhandgenommen, auch in den Schlüsselpositionen. Der Parteivorstand ist so überwiegend besetzt. Aber auch in der Bundestagsfraktion gibt es diese Leute. Das heißt, wir haben die Partei an eine linksliberale Ideologie verloren.

Hintergrund: Nun redet aber die jetzige Linkspartei, so wie sie ist, auch immer noch von Solidarität und von Gerechtigkeit. Das sind doch alte linke Werte.

Neu: Das ist richtig. Das wird so genannt, das steht im Grundsatzprogramm, das stand auch im Wahlprogramm. Aber es sind viele Themen dazugekommen und die urlinken Themen wie Solidarität, Frieden und so weiter und so fort gehen darin unter. Man kann nicht mit etwa dreihundert Themen und Positionen aufwarten und hoffen, dass die Gesellschaft darauf anspringt. Die Linkspartei wird zunehmend als eine Partei wahrgenommen, die eben nicht mehr die soziale Frage erkennbar in den Mittelpunkt stellt. Die eben nicht mehr die Friedensfrage, die auch noch neu interpretiert wird, in den Mittelpunkt stellt, sondern Themen, die Individuen oder kleine soziale Gruppen betreffen, aber nicht die Gesamtheit oder die Mehrheit der Bevölkerung. Das schlägt sich dann auch entsprechend in den Wahlergebnissen nieder.

Hintergrund: Es hat den Anschein und Ihre Worte bestätigen es, als würde sich diese Partei beziehungsweise ihre führenden Kräfte und Kreise von bisherigen Grundpositionen verabschieden: Frieden, das Verhältnis zur NATO, soziale Interessen der breiten Bevölkerung. Warum ist das so?

Neu: Es gibt da zwei verschiedene Aspekte. Der eine ist: Mit der Gründung der Linkspartei in den Nullerjahren kam die PDS, die sehr stark reformorientiert war und die für eine Regierungsbeteiligung stand, mit der WASG zusammen. Die daraus gebildete Partei Die Linke war erst mal sehr links. Dieser Kampf zwischen Reformern, die teilweise unter allen Umständen Regierungsbeteiligungen wollten, bis zur Selbstverleugnung der eigenen Programmatik, und den eher linken Kräften, zu denen ich mich zähle, dauerte viele Jahre an. Es gab jedoch einen Konsens: Die verschiedenen Flügel dürfen sich nie so weit schaden, dass wir nicht mehr gewählt werden. Dieser Konsens ist durch eine neue Generation aufgebrochen worden. Es gibt eine neue Welle von Mitgliedern, die ganz andere, nämlich linksliberale Schwerpunkte setzen. Das ist der Grund dafür, dass die Partei sich insgesamt in eine Richtung verändert hat, die eben nicht mehr den Großteil der Gesellschaft anspricht.

Hintergrund: Gregor Gysi und Dietmar Bartsch warnten kürzlich sogar vor der Selbstzerstörung der Linkspartei. Wie sehen Sie das?

Neu: Ich glaube, diese Warnung per Brief ist zu spät gekommen. Dieser Brief ist richtig. Aber er hätte einige Jahre früher kommen müssen. Wenn diese Partei noch eine Chance haben will, dann müsste es im Prinzip ein Duo geben: Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht, die mit der Faust auf den Tisch hauen. Es müsste einen Sonderparteitag geben. Sie müssten sich zur Wahl stellen und gewählt werden, – was bei den jetzigen Mehrheitsverhältnissen von Delegierten eher unwahrscheinlich ist –, und die Partei wieder auf den richtigen Kurs bringen. Auf den alten Kurs. Denn der alte Kurs ist ja nicht ad acta gelegt. Die gleichen Probleme haben wir immer, die Friedensfrage sogar noch virulenter als nie zuvor.

Diese beiden als Duo könnten es schaffen. Aber Gregor Gysi ist Mitte 70, Sahra Wagenknecht Mitte 50. Es gab da auch mal Spannungen zwischen den beiden, aber ich glaube, beide sehen die Notwendigkeit, dass man es tun müsste. Doch ich denke nicht, dass es passieren wird. Das wäre die einzige Chance, die Linkspartei noch mal zu retten. Und da das mit Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht aus vielfältigen Gründen nicht stattfinden wird, sehe ich nicht mehr, dass diese Partei eine Perspektive hat.

Hintergrund: Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht Sahra Wagenknecht in dem ganzen Prozess?

Neu: Sahra Wagenknecht wird gerne vorgeworfen, dass sie eine extravagante Rolle spielt, dass sie das Parteiprogramm verlasse. Was einfach nicht zutrifft, wenn man sich ihre Aussagen anschaut. Die sind zu 100 Prozent kompatibel mit dem Parteiprogramm von 2012, auch mit dem letzten Wahlprogramm. Wenn jemand das Grundsatzprogramm verlassen hat, dann sind es Leute aus Thüringen oder aus Berlin, die Waffen liefern wollen, die plötzlich die NATO neu interpretieren wollen, die also letztendlich eine ganz andere Linkspartei wollen. Sie sind dabei sehr erfolgreich mit ihren Vorstößen. Wenn ein Ministerpräsident Bodo Ramelow sagt, Putin vollzieht das, was Hitler noch nicht geschafft hat. Das zeugt ja nicht nur von Geschichtsrelativierung. Das heißt, ein Ramelow hat überhaupt keine Ahnung, von was er überhaupt redet. Aber er nimmt solche Begriffe in den Mund. Das wirkt, es kommt an. Auch Teile der Partei und vor allem die Medien nehmen es besonders gerne auf, da es dem antiaufklärerischen Zeitgeist entspricht.

Hintergrund: Der Rückzug der Linkspartei und ihrer Vorgängerin PDS aus dem Engagement für konkrete soziale Interessen der breiten Bevölkerung vor allem in Ostdeutschland war auch mit den Regierungsbeteiligungen begründet worden. Schon in den Neunzigern hat das dafür gesorgt, dass rechte Kräfte den sozialen Bereich übernahmen, bis hin zu tatsächlich rechten, rechtsradikalen Kräften. Darauf haben Sozialwissenschaftler schon Anfang der 2000er Jahre aufmerksam gemacht. Das scheint sich aber fortzusetzen. Warum ist da nichts getan worden seitens der Partei?

Neu: Ich bin ja Mitglied im Westen, im Rhein-Sieg-Kreis in Nordrhein-Westfalen gewesen. Da hatte man naturgemäß weniger Einblick in die Ost-Landesverbände und -Kreisverbände. Es gibt aber zwei Entwicklungen: Zum einen die Genossinnen und Genossen, die eine Kümmerer-Partei in den 90er Jahren darstellten, sind mittlerweile zwanzig, dreißig Jahre älter. Das heißt, sie sind teilweise gar nicht mehr in der Lage, diese Leistung, das Kümmern um den Nachbarn, für die Gesellschaft vor Ort zu erbringen. Das Zweite ist gerade der Anspruch, eine Regierungspartei zu sein und nur noch im Parlament zu sitzen. Das trägt dazu bei, dass viele gar nicht mehr auf die Straße gehen wollen, man könnte ja als Protestpartei missverstanden werden. Und dass viele gar nicht mehr diese kleinteilige Arbeit der Kümmerer-Partei übernehmen möchten. Es gab da von einem Mitglied der Bundestagsfraktion aus Berlin die Aussage vor einigen Jahren: Er sitzt im Parlament, um im Parlament zu sitzen und nicht auf der Straße zu arbeiten. Ich denke, das sagt alles aus.

Hintergrund: Die PDS hatte einst eine wichtige Rolle als Protestpartei, vor allem in Ostdeutschland. Die PDS und dann später auch die Linkspartei haben anscheinend den Protest den rechten Kräften wie der AfD überlassen. Die bekommt weiterhin hohe Zustimmung, gerade in Ostdeutschland, weil sie eben als vermeintliche Protestpartei immer noch wahrgenommen wird, obwohl sie eigentlich eine Systempartei ist wie alle anderen. Warum wird Protest politisch nicht mehr von links vertreten?

Neu: Er wird nicht mehr von links vertreten, weil man einen sogenannten Paradigmenwechsel vollzieht. Man möchte eher linksliberal sein als links. Das macht sich bemerkbar in Themen, die man skandalisiert oder auch nicht mehr skandalisiert. Das heißt, man holt die Mehrheit der Menschen dort nicht mehr ab, wo sie stehen. Man möchte mit der Basis nicht mehr besonders stark kooperieren. Die alten Genossen waren gut genug, im Wahlkampf zu plakatieren. Dann war es das auch. Ansonsten sollen sie sich raushalten. Das soziale Milieu von arbeitenden Menschen ist ja nicht so ganz woke, machen seltsame Witze oder haben ein tradiertes Familienverständnis, was natürlich auch alles irgendwie „rechtsoffen“ sein muss, weil es eben nicht linksliberal ist. Der Proletarier ist halt von Grund auf ein „rechtsoffenes“ Wesen – igitt (Satire aus). Damit will man auch nichts zu tun haben.

Zum Stichwort Protestpartei. Mich hat in meiner Fraktionsarbeit erstaunt, dass zwei, drei Mal versucht wurde, mich zu disziplinieren: Ich möge bitte nicht so hart auftreten im Plenum, wenn ich rede. Was mich verwundert hat, denn genau das spricht ja die Protestwelle an, dass Politiker im Bundestag oder in den Medien auch mal bewusst etwas poltern, mit Substanz poltern, um zu zeigen: Hier gibt es Protestpotenzial und wir repräsentieren das. Aber da bin ich zurückgepfiffen worden. Das Ergebnis ist, dass man etwas blass wird als Partei, als Fraktion. Und das Ergebnis dessen ist wiederum, dass man weniger attraktiv ist, vor allem als Protestpartei nicht mehr attraktiv ist.

Hintergrund: Warum ist das so? Aus welchen Motiven heraus passiert so etwas, dass eine Partei, die eigentlich schon von ihrem sozialistischen Anspruch her Protest, Kritik immer am deutlichsten zur Sprache bringen müsste, das nicht tut?

Neu: Weil der sozialistische Anspruch der Partei teilweise nur noch auf dem Papier gültig ist. Im Denken vieler Funktionäre ist das überhaupt kein Thema mehr. Ähnlich wie der demokratische Sozialismus bei der SPD keine Rolle mehr spielt. Man geht darüber hinweg in die Realpolitik. Das zeigten die verschiedenen Regierungsbeteiligungen der Linkspartei. Man möchte nicht so sehr Protestpartei sein, denn dann würde man sich ja gegen seinen potenziellen künftigen Koalitionspartner zu sehr profilieren. Der wäre dann vielleicht böse, dass man sich zu weit aus dem Fenster hängt. Das würde Koalitionsverhandlungen erschweren, eventuell zum Scheitern bringen. Also mit anderen Worten: angezogene Handbremse in der Hoffnung, dass man gewählt und an einer Regierung beteiligt wird.
Das beste Beispiel war eben die Bundestagswahl 2021, bei der von Woche zu Woche immer angepasster argumentiert wurde. Es wurden Konzessionen gemacht, die überhaupt nicht mit dem Wahlprogramm in Einklang standen, nur um der SPD und den Grünen zu zeigen: Wir wollen doch, wir können doch, wir sind doch da, wir liegen doch schon flach, Ihr müsst uns nur noch nehmen, sozusagen. Und trotzdem war die Linkspartei nicht von SPD und Grüne
n gewollt. Entschuldigung für die platte Formulierung meinerseits, aber diese Plattheit spiegelt nur die platte Anbiederung der Partei im Wahlkampf wider. Kurzum: Wer keinen Selbstrespekt hat, kann auch keinen Respekt von anderen erwarten. Und so sah das erbärmliche Wahlergebnis dann auch aus.

Hintergrund: Es heißt, Sahra Wagenknecht und andere würden eventuell eine neue Partei gründen. Das ist schon länger im Gespräch. Was ist da dran und wie beurteilen Sie das?

Neu: Ich habe auch davon gehört. Ich bin aber nicht in diesem engeren Kreis. So kann ich kein Urteil darüber abgeben, ob es tatsächlich diesbezüglich Entwicklungen gibt oder nicht. Ich glaube, da könnte auch was dran sein, aber ich weiß es nicht. Es gibt in der Basis der Linkspartei zunehmend den Willen, Strukturen aufzubauen für den Tag X. Das ist zunächst unabhängig von Sahra Wagenknecht. Es gibt in der Basis vielfältige Aktivitäten und Vorbereitungen für den Tag X, sollte tatsächlich eine neue Partei unter ihrer Führung kommen und dann erst mal ein strukturelles Vakuum bestehen. Dass das Vakuum durch Strukturen aus den diversen Kreisverbänden mit einer erheblichen Zahl von Mitgliedern direkt gefüllt wird. Aber es gibt ebenso auch viele Menschen, die noch an der Linkspartei hängen. Ich denke mal, die Ernüchterung wird weiter wachsen. Die Menschen in dieser Partei müssen begreifen, man sollte nicht einer Institution gegenüber loyal sein, sondern einem Programm, einer ideologischen und ideellen Orientierung. Und wenn man das ist, dann ist es schwer mit dieser Partei, die Die Linke jetzt darstellt, noch konform zu gehen.

Hintergrund: Das ist auch schon die Antwort auf die letzte Frage, die ich stellen wollte, wie es aus Ihrer Sicht mit dieser Partei Die Linke weitergeht. Ist eine Parteineugründung die einzig mögliche Antwort auf die Probleme dieser Partei?

Neu: Sahra Wagenknecht hat kürzlich gesagt, es müsste eine massive Kurskorrektur dieser Partei geben, damit sie zu retten sei. Diese Kurskorrektur sehe ich nicht, weil diejenigen, die diese Partei führen, komplett von ihrem linksliberalen, woken Handeln überzeugt sind. Die ganzen Wahlniederlagen der letzten zehn Jahre, die zugenommen haben, wurden nie ernsthaft aufgearbeitet und aufbereitet. Warum nicht? Weil man keinerlei Interesse daran hatte, zu analysieren, dass der eingeschlagene linksliberale Weg der Fehler ist. Die Fehleranalysen hätten nämlich eine Kurskorrektur erzwungen. Also hat man es mit der Fehleranalyse besser ganz sein lassen.
Ich sehe tatsächlich in dieser Partei keine Perspektive mehr. Wenn die Linkspartei 2025 aus dem Bundestag fliegen wird – und vieles spricht dafür –, dann wird das überall sukzessive weiter runtergehen. Und auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung wird dann in einigen Jahren Geschichte sein. Die Linkspartei ist ein wunderbares Beispiel, wie man eine einst vielversprechende Partei zugrunde richten kann. Sie hinterlässt eine Lücke, denn es besteht Bedarf für eine echte linke Partei.

Hintergrund: Eine allerletzte Frage: Hat das nur innere Ursachen?

Neu: Es hat sicherlich zuerst innere Ursachen. Ich will es mal so sagen: Es mag auch Kräfte geben, die von außen darauf hinwirken. Dazu gehören natürlich die Medien. Wir waren nie das Lieblingskind der Medien, sind sehr stark attackiert worden. Wichtige Positionen und Botschaften, die wir hatten, sind ignoriert oder diffamiert worden. Aber wenn im Inneren ein Zusammenhalt und eine Solidarität bestünden, sowie der Glaube daran, dass wir gemeinsam stark sind, würden Angriffe von außen abprallen. Wenn aber der Laden von innen faul ist, dann sind die Angriffe von außen nur der Rest, dessen es bedarf, um den Laden zugrunde zu richten.

Das Interview führte Tilo Gräser.

Dr. Alexander S. Neu, Jahrgang 1969, ist promovierter Politikwissenschaftler. Praktische politische Erfahrungen sammelte er als Mitarbeiter der OSZE im ehemaligen Jugoslawien. Von 2013 bis 2021 war er Mitglied der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke und deren Obmann im Verteidigungsausschuss sowie stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Zuvor war er acht Jahre Referent für Sicherheitspolitik der Linksfraktion.

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