Demokratie in Deutschland

Große Unzufriedenheit mit „Alltagsdemokratie“

Autoritarismus-Studie: Zufriedenheit mit Demokratie in Deutschland auf Rekordtief / Studienautoren: Einbruch der Zahlen „drastisch und besorgniserregend“ / Politikwissenschaftler: Autoritäre Corona-Politik bleibt blinder Fleck der Studie

(Diese Meldung ist eine Übernahme von multipolar.)

Nur 42 Prozent aller Bürger sehen ihre Vorstellungen von dem, was Demokratie sein soll, im Einklang mit dem in Deutschland praktizierten politischen System. Dies geht aus der am 13. November vorgestellten „Leipziger Autoritarismus-Studie 2024“ mit dem Titel „Vereint im Ressentiment“ hervor. Der seit 2006 abgefragte Wert nach der Zufriedenheit mit der Funktionsfähigkeit der Demokratie war noch nie so niedrig und liegt erstmals seit 2010 wieder unter 50 Prozent. Der Studie zufolge sind viele Bürger unzufrieden sowohl mit der Regierung, als auch mit Politikern und Parteien. Politikern wird demnach am häufigsten „Gier, Arroganz, Inkompetenz“ vorgeworfen, aber auch „nicht die Interessen der Bevölkerung“ zu vertreten. Die seit dem Jahr 2002 zum zwölften Mal durchgeführte Studie wird von Sozialwissenschaftlern der Universität Leipzig und von der Heinrich-Böll-Stiftung sowie der Otto Brenner Stiftung verantwortet.

In Ostdeutschland stimmen nur noch 29,7 Prozent der Bürger der „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“, zu. Dieser Wert war zuvor von 27,2 Prozent (2006) kontinuierlich bis zum Höchstwert von 53,5 Prozent (2022) angestiegen. Einen drastischen Sprung nach unten, wie aktuell um minus 23,8 Prozentpunkte, gab es noch nie. Die stark gestiegene Unzufriedenheit mit der „Alltagsdemokratie“ hänge – so vermuten die Studienautoren – mit den Konflikten innerhalb der Regierungskoalition zusammen. Allerdings seien diese Konflikte „auch Ausdruck einer allgemeinen Fragmentierung der Gesellschaft“. Deshalb müsse es weitere Erklärungen geben. So könnten sich immer mehr Bürger „für Systemalternativen“ erwärmen.

Hier müssten zwei zentrale Themen berücksichtigt werden, erklärt der Berliner Politikwissenschaftler Clemens Heni auf Nachfrage von Multipolar: „Der Ukraine-Krieg und die Corona-Pandemie.” Zu diesen beiden Großthemen sage die Studie zu wenig Kritisches. „Fragen nach einem autoritären Führer sind insofern hinfällig, als wir bei Corona gesehen haben, dass die Demokratie selbst antidemokratisch agieren kann“, gibt er zu bedenken. Nie habe es ein „solches autoritäres Verhalten wie von Merkel und später Scholz während der äußerst brutalen Coronapolitik von März 2020 bis April 2023 gegeben“. Zu erinnern sei an die Autoritarismus-Studie 2022, bei der „noch nicht mal auf die skandalöse 2G-Politik im Winter 2021/22“ eingegangen worden sei. „Dabei war das die größte autoritäre Politik in der Geschichte der Bundesrepublik“, kritisiert Heni. Zumindest die rund zehn Millionen nicht gegen das Corona-Virus geimpften und deshalb während der Corona-Krise öffentlich ausgegrenzten und regelmäßig verbal angegriffenen Bürger sind nach Henis Ansicht für die praktizierte Demokratie verloren.

Nur noch 73 Prozent der Bevölkerung empfinden die Demokratie in Deutschland der Studie zufolge als „legitim“. 95 Prozent der befragten Ostdeutschen stehen prinzipiell hinter der „Idee der Demokratie“. Im Westen sind es lediglich 89 Prozent. „Die Menschen in den ostdeutschen Bundesländern sehen offenbar die deutsche Demokratie, so wie sie im Grundgesetz festgelegt ist, als schlechter umgesetzt“, schreiben die Autoren. Den erhobenen Daten zufolge fühlen sich Ostdeutsche der Politik im Vergleich zu Menschen in Westdeutschland viel hilfloser ausgesetzt. Weiter verbreitet als im Westen ist auch der Glaube, politisch ohne Einfluss zu sein. Weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung (63,7 Prozent) hält es der Autoritarismus-Studie zufolge für sinnlos, sich politisch zu engagieren. Das ist seit 2006 unverändert so, und zwar im Osten als auch im Westen. 2018 allerdings gaben erst 56,1 Prozent der westdeutschen Bevölkerung an, politisches Engagement sei sinnlos. Aktuell liegt dieser Wert bei 61,7 Prozent. In Ostdeutschland waren stets mindestens knapp 65 Prozent der Befragten überzeugt von der Sinnlosigkeit eines politischen Engagements. Bei der aktuellen Befragung erklärten dies 71,8 Prozent.

Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt erklärt auf Anfrage von Multipolar: „Dass ein sehr großer Teil der Bürger es für sinnlos hält, sich politisch zu engagieren, ist rational.“ Die meisten Bürger wünschen ihm zufolge niedrigschwellige, wenig zeitaufwendige Angebote zur politischen Beteiligung. „Volksabstimmungen, mit denen man vom Parlament beschlossene Gesetze am Inkrafttreten hindern kann, wären da viel besser als die Aufforderung, sich häufiger an europa- und bundespolitisch folgenlosen Bürgerdialogen zu beteiligen“, erläutert der frühere Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen Universität Dresden.

Vor allem in Ostdeutschland erleben Bürger auch immer seltener, dass sie Einfluss am Arbeitsplatz haben. Nur noch 28,8 Prozent denken, sie könnten im Betrieb „etwas zum Positiven verändern“. 2020 waren es noch 55 Prozent. Knapp die Hälfte der Befragten ist der Ansicht, dass „wirkliche Demokratie“ erst möglich sei, „wenn es keinen Kapitalismus mehr gibt“. Über 60 Prozent denken, dass von der Globalisierung „nur die mächtigen Wirtschaftsinteressen“ profitieren. Die Studienautoren interpretieren dies als wachsenden „Antiamerikanismus“.

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