Fragen zur Epoche, Perspektiven auf den Ukraine-Krieg und Erinnerungen an die DDR
Mitte Mai trafen sich in Strausberg bei Berlin ehemalige DDR-Agenten und -Aufklärer – in ihrem Selbstverständnis „Kundschafter des Friedens“. Sie blickten nicht nur zurück auf ihre Arbeit, bei der es galt, einen Krieg zwischen Ost und West zu verhindern. Der nun tatsächlich vom Westen auf dem Territorium der Ukraine geführte Krieg gegen Russland beschäftigte sie ebenso wie die globalen Entwicklungen.
Die Gesellschaft in der Bundesrepublik ist durch den Krieg um die Ukraine wieder verstärkt gespalten, vor allem zwischen Ost und West. Das stellte Arnold Schölzel, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung junge Welt, fest, als er Mitte Mai in Straußberg vor einstigen Kundschaftern der DDR sprach. Umfragen zufolge würde sich eine Mehrheit der Ostdeutschen gegen Waffenlieferung an Kiew aussprechen, anders als im Westteil des Landes.
Schölzel, heute Redakteur beim linken Magazin Rotfuchs, sieht einen Grund für die ausgemachte Spaltung unter anderem in einem unterschiedlichen Kenntnisstand in Bezug auf die Geschichte. Entsprechende Mangelerscheinungen macht er auch in der bundesdeutschen Politik aus. Als Beispiel dafür nannte er einen Gastbeitrag des CDU-Außenpolitikers Norbert Röttgen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) am 3. Mai dieses Jahres.
Der hatte darin nicht nur gefordert, dass der Westen der Ukraine militärisch noch mehr helfen und das Land in die NATO aufnehmen müsse. Röttgen begründete das mit allerlei antirussischen Behauptungen, bis hin zur „durch Putin geschürten Mentalität eines imperialen Nationalismus“. Dieser müsse Russland ausgetrieben werden, meint der CDU-Politiker. Darin liege „die eigentliche Friedensfrage für ganz Europa“.
„Sicherheit für Investoren“
Er erklärte aber auch offen, worum es bei der westlichen militärischen Unterstützung für Kiew geht, die inzwischen auch Kampfjets einschließt: Nach dem Krieg müssten jene, die „gewaltige private Investitionen“ in der Ukraine tätigen, „auf die Sicherheit des Landes vertrauen können“. Schölzel kommentierte das bei den ehemaligen DDR-Kundschaftern folgendermaßen: „So denkt ein deutscher Kolonialoffizier.“
Der Journalist fasste es so zusammen: „Wir führen nie mehr alleine Krieg gegen Russland, aber wir sind bei jedem Krieg dabei. So würde ich sagen, kann man auch die Geschichte des westdeutschen Imperialismus seit 1945 zusammenfassen.“ Er verwies auf einen Leserbrief an die FAZ einige Tage später, in dem mit Jürgen Reichardt ein ehemaliger Bundeswehrgeneral auf Röttgen reagierte. Der Ex-Offizier bescheinigte darin dem CDU-Politiker „spekulative Unterstellungen und Wunschdenken“.
Und er warnte vor den Folgen einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auch für die Bundesrepublik: „Bei Ausbruch eines militärischen Konflikts – die Ursachen wären ja nicht beseitigt, solange Russland nicht militärisch vernichtet ist – wieder deutsche Soldaten am Dnjepr wie 1917 und 1941. Weiß Norbert Röttgen, wie viele deutsche Soldaten in ukrainischer Erde ruhen? Riesige Soldatenfriedhöfe zeugen davon.“
„Keine Ahnung von Geschichte“
Die Aussagen des CDU-Politikers sind für Schölzel Ausdruck einer Geschichtsunkenntnis und -vergessenheit. Das gelte auch für die Aussagen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) über die Parade in Moskau zum „Tag des Sieges“ über den Faschismus am 9. Mai. „Wir lassen uns nicht einschüchtern“, hatte der Kanzler dazu in einer Rede vor dem EU-Parlament in Straßburg erklärt. Und: „Die Botschaft dieses 9. Mai ist nicht das, was aus Moskau tönt.“
Schölzel bemerkte dazu: „Da kann ich nur sagen: Der hat keine Ahnung von Geschichte, der weiß nicht, was für Russland, was für russische Menschen, was für russische Familien dieser Tag bedeutet. Das ist unfassbar. Aber so sind sie.“ Der Rotfuchs-Redakteur beschäftigte sich in seinem Vortrag vor den einstigen Kundschaftern und Aufklärern der DDR auch mit der Frage nach dem Charakter der Epoche. Er zeigte sich optimistisch, da nicht nur Russland und China zunehmend zusammenarbeiten. Ebenso würden sich immer mehr Länder der bisherigen Dominanz des Westens widersetzen und so eine multipolare Weltordnung herausbilden.
„Tatsache ist, dass die Sache des Friedens nicht von der Sache der Demokratisierung der internationalen Beziehungen trennbar ist“, so der Journalist. „Voraussetzung dafür ist, denke ich, der Umgang aller Staaten miteinander nach den Maßstäben des Rechts, nicht nach denen der Macht.“ Es gebe „eine epochale Zäsur, die man Revolution nennen kann, wenn erstmals seit fünfhundert Jahren Länder, die entweder kolonial ausgebeutet oder politisch unterdrückt wurden, ohne Ende mit Kriegen überzogen wurden und werden im sogenannten globalen Süden, wenn die zum ersten Mal nicht nur politisch formal Gleichheit erreichen, sondern jetzt auch ökonomisch.“
„Müssen Geschichte lebendig halten“
Schölzel sagte das auf einem Treffen der ehemaligen Kundschafter und Aufklärer der DDR, zu dem die „Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung“ (GRH) nach Strausberg bei Berlin eingeladen hatte. Anlass war das 30. Jubiläum der Gründung der GRH, die sich nach eigener Aussage „gegen politische Strafverfolgung und Kriminalisierung von DDR-Bürgern, für Rehabilitierung, Gerechtigkeit und historische Wahrheit“ einsetzt.
Gekommen waren etwa vierzig frühere Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und der Militäraufklärung der DDR-Armee NVA, die im westlichen Ausland im Einsatz gewesen waren. Im eigenen und offiziellen DDR-Verständnis waren sie „Kundschafter des Friedens“. Die GRH kämpfe heute gegen die Geschichtsverdrehungen an, beschrieb ihr Vorsitzender, der Rechtsanwalt Hans Bauer, das Anliegen: „Die Geschichte des heutigen Deutschlands besteht aus der Geschichte zweier Staaten, der BRD und der DDR, mit völlig unterschiedlichen Zielen, Inhalten und auch Ergebnissen. Das müssen wir lebendig halten.“
„Von den USA initiierter Krieg“
Die aktuelle Lage im Krieg um die Ukraine beschrieb während des Treffens in Strausberg Gerhard Giese. Der frühere Oberst der DDR-Luftverteidigung betonte: „Wir haben einen Krieg in Europa, und den hat die USA initiiert.“ Russland habe nur darauf reagiert, so Giese. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 habe sich das Geschehen „von einer Spezialoperation zum NATO-Russland-Krieg“ entwickelt.
„Mehr als 15 Monate tobt auf dem Territorium der Ukraine ein vom Westen initiierter militärischer Konflikt mit verheerenden personellen Verlusten und Zerstörungen, der sich von einer speziellen Operation der Russischen Föderation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine durch immer umfangreichere Eskalationsmaßnahmen von USA und NATO und auch Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg der USA und der EU gegen Russland entwickelte.“
Aus einem regionalen Verteilungskonflikt sei ein weltweiter gesellschaftssystemischer Konflikt geworden, schätzte Giese ein. Er beschrieb mit ausführlichen Daten und Fakten die Lage und die Entwicklung des Geschehens in der Ukraine. „Dabei setzen der kollektive Westen und die Ukraine auf einen totalen Sieg über Russland, der zunächst die Russische Föderation schwächen und letztlich nach jugoslawischem Muster zerstückeln soll.“
„Nach Bachmut kommt freie Steppe“
Der ehemalige DDR-Militär sprach auch Fehler der russischen Armee an, die nicht auf einen großen Konflikt vorbereitet gewesen sei. In Moskau sei fälschlicherweise erwartet worden, „dass das russisch-ukrainische Volk mit Brot und Salz die russischen Truppen empfangen wird“. Bisher sei auch nicht erreicht worden, den Beschuss der inzwischen zu Russland gehörenden Volksrepubliken Donezk und Lugansk durch ukrainische Truppen zu unterbinden.
Aus Sicht von Giese handelt es sich um einen „regelrechten Vernichtungskrieg“, weil die russische Armee gezielt ukrainische Truppen und Waffentechnik vernichte. Die anfänglich vorhandene Bewaffnung der Ukraine sei bisher zweieinhalbmal vernichtet worden. Die Höhe der Verluste an Soldaten auf beiden Seiten schätzte der Ex-Offizier auf ein Verhältnis von eins (Russland) zu vier (Ukraine). Für Letztere habe es bisher keinen vollen Ersatz für die verlorenen Waffen durch die westlichen Lieferungen gegeben.
Giese ging auch auf die Frage ein, warum so lange und so verbittert um die Stadt Bachmut (russisch: Artjomowsk) gekämpft wurde. Die Stadt liege in einem Halbkessel mit Mittelgebirgszug drumherum, der von den ukrainischen Truppen innen ausgehöhlt und mit Betonbunkern ausgebaut worden sei. Das habe es für die russischen Einheiten erschwert, gegen die vorrangig Asow- und andere Nazi-Einheiten vorzugehen. „Danach ist freie Steppe“, erklärte der Ex-Militär die strategische Bedeutung des Ortes. Danach gebe es für die ukrainischen Truppen keine Möglichkeit mehr, sich so wie in Bachmut zu verstecken.
„Die Stärke liegt in der Wahrheit“
Es gebe in Russland zwei wesentliche gesellschaftliche Kräfte, die mit ihren vollkommen unterschiedlichen Positionen zum Ukraine-Krieg im Streit lägen: Zum einen die Globalisten, die derzeit nicht das Sagen hätten, und zum anderen die Patrioten mit einer leichten Mehrheit gegenwärtig. Es gebe Verrat und Sabotage durch diejenigen, die Russland zurück in Richtung Westen bringen wollten, sagte Giese. Das betreffe alle gesellschaftlichen Bereiche bis ins Militär, fügte er hinzu. „Normalerweise kann man nicht siegen, wenn man so gespalten ist.“
Der ehemalige DDR-Offizier rechnet damit, dass die russische Armee im weiteren Verlauf eine Strategie wie einst 1943 in Kursk anwendet: Den Gegner angreifen lassen und dann zuschlagen. Bei der Veranstaltung in Strausberg war als Gast auch der Militärattaché der russischen Botschaft in Deutschland. Er äußerte sich aber nicht konkret zum Kriegsverlauf, sagte aber: „Die NATO kämpft mit allen Mitteln, mit Waffen, Geld, Geheimdiensten und Diplomaten gegen Russland, auch mit dem Leben der ukrainischen Soldaten.“
Russland wolle die Ukraine nicht vernichten, sondern das Ziel sei ein unabhängiger, friedlicher Nachbarstaat. Der russische Attaché verwies auf die engen und jahrhundertelangen Verbindungen zwischen beiden Ländern. „Deshalb sehen und hören wir, was in der Ukraine passiert mit Schmerzen im Herzen.“ Die Verhältnisse zwischen beiden Ländern seien innerhalb von fast zehn Jahren auf den Kopf gestellt worden. Das wieder zu korrigieren brauche sehr viel Zeit. „Aber die Stärke liegt in der Wahrheit und die Wahrheit soll und wird gewinnen.“
Erinnerungen von „007“ aus der DDR
Der russische Militärattaché hatte zuvor den einstigen DDR-Kundschaftern und -Aufklärern dafür gedankt, dass sie ihre Traditionen und das Engagement für den Frieden nicht aufgegeben haben. Einer von ihnen stellte bei der Veranstaltung sein kürzlich erschienenes Buch „Doppelnullagent Nr. 7 Ost – Im Dienst der Militärspionage des MfS“ vor. Günter Grässler hatte nach seinen Worten 1990 noch einen Hausausweis der neu geschaffenen DDR-Aufklärung mit der Nummer 007 bekommen. Aber sonst hatte das, was er tat, nichts mit dem Fantasieagenten James Bond zu tun.
Es sei kein Rechtfertigungsbuch, nachdem er sich dreißig Jahre lang nicht öffentlich zu seiner Arbeit beim MfS geäußert habe, sagte Grässler über seine Autobiografie. Sie sei aus der Perspektive eines einfachen Mitarbeiters geschrieben, anders als zuvor die zahlreichen Bücher hochrangiger Funktionäre und Militärs aus der DDR. „Wir haben eine sehr angestrengte und aus meiner Sicht auch sehr niveauvolle Arbeit geleistet. Und wir sind nach wie vor der Überzeugung, dass das sinnvoll war.“
Das stehe auch sehr deutlich im Buch, betonte der Autor und Ex-Führungsoffizier in der militärischen Aufklärung. „Ich habe keinen Grund, mich zu rechtfertigen“, erklärte er in Strausberg, sondern er wolle an die Menschen erinnern, mit denen er viele Jahre zusammengearbeitet habe und über die kaum gesprochen werde. Grässler will jene erreichen, die unvoreingenommen an die Geschichte herangehen und sich dafür interessieren, was in der DDR alles geschah.