Experten: Unruhen in England haben Ursprung in Klassenkonflikt, nicht in ethnischen Differenzen
(12.08.2011/dpa)
Nach dem Tod eines fünften Opfers der seit vergangenem Samstag anhaltenden Unruhen in englischen Großstädten hat die Polizei einen 22 Jahre alten Mann unter Mordverdacht festgenommen. Der in der Nacht zum Freitag gestorbene 68-Jährige Rentner hatte nach Zeugenberichten am Montagabend während der Randale im Londoner Stadtteil Ealing versucht, ein Feuer auszutreten, das vom Mülleimer eines Supermarktes ausging. Dabei soll er angegriffen und schwer am Kopf verletzt worden sein. Eine Obduktion solle „zu gegebener Zeit“ die genaue Todesursache klären, hieß es von der Polizei.
In der Nacht zum Freitag waren erneut rund 16.000 Polizisten alleine in der britischen Hauptstadt im Einsatz. Mehrere Gerichte legten zum wiederholten Male Nachtschichten ein, um die seit Beginn der Unruhen festgenommenen Randalierer in Schnellverfahren zur Verantwortung zu ziehen. Über Nacht kam es zu zahlreichen neuen Festnahmen, insgesamt liegt die Zahl der Festgenommenen bei mehr als 1.500. Premierminister David Cameron wollte am Freitag erneut sein Krisenkabinett zusammenrufen, nachdem er am Tag zuvor bei einer Sondersitzung des Parlaments erklärt hatte, man werde weiterhin mit harter Hand gegen Randalierer vorgehen.
Unterdessen weisen immer mehr Experten darauf hin, dass es sich bei den Unruhen nicht um Konflikte zwischen ethnischen Gruppen, sondern um den Ausdruck eines seit vielen Jahren schwelenden Klassenkonflikts handelt. Der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer sagte, in Großbritannien sei die soziale Spaltung sehr viel tiefer als in Deutschland. In Orten wie den Londoner Stadtteilen Tottenham oder Brixton gebe es Armut und Ausgrenzung, eine hohe Konzentration von Arbeitslosen, Ausländern, Alleinerziehenden und älteren Menschen. „Diese Faktoren sorgen vor dem Hintergrund einer bestimmten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik für eine latente Konfliktstimmung.“
„Die Krawalle werden von einer jungen enteigneten Klasse getragen, die keinen Anker mehr in der Gesellschaft hat, ihr völlig entfremdet ist und deren Angehörige eines teilen: Den Hass auf die Polizei. Das ist ein sozialer Protest, der nicht an Ethnien gebunden ist“, sagte Liz Fekete, Leiterin des Institute of Race Relations in London gegenüber HINTERGRUND. „Schwarze, Weiße, Menschen aller möglichen Ethnien, die keine Aufstiegsmöglichkeit haben, rasten aus. Aber unglücklicherweise in sozial schwachen Stadtteilen, wo die Armen unter der angerichteten Zerstörung zu leiden haben.“
Die Sozialwissenschaftlerin wies darauf hin, dass sich die Staatsmacht als unfähig erweisen habe, die Menschen, vor allem die Betreiber kleiner Läden, in den armen Stadtteilen zu beschützen. „Die Bewohner sagen, dass sich die Polizei nur um große Geschäfte gekümmert hat, für die kleinen habe sie nichts unternommen. Viele der betroffenen Ladenbesitzer sind Asiaten oder gehören ethnischen Minderheiten an. Ihnen, aber auch den Muslimen in den Moscheen, schlägt eine Welle der Sympathie entgegen. Besonders seit der sehr respektablen Intervention der Familie von Harun Jahan – jenem jungen Muslim, der in Birmingham von Randalierern getötet wurde –, die ruhig geblieben ist, nach Gerechtigkeit, aber nicht nach Rache verlangt.“