Ukraine-Krieg

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Ukraine

Passives Verhalten der Behörden bei Ausschreitungen im Mai 2014 in Odessa verstößt gegen Europäische Menschenrechtskonvention / Aufarbeitung der ukrainischen Behörden mangelhaft / Deutsche Medien berichten kaum über Urteil

(Diese Meldung ist eine Übernahme von multipolar.)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Ukraine für Versäumnisse im Zusammenhang mit den tödlichen Unruhen in Odessa am 2. Mai 2014 verurteilt. Das passive Verhalten der ukrainischen Behörden stelle einen Verstoß gegen das Recht auf Leben (Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention) dar, heißt es im Urteil vom 13. März. Die zugehörige Pressemitteilung erläutert, die für die Sicherheit der Bevölkerung zuständigen Behörden wie Polizei und Feuerwehr hätten „nicht alles getan“, um die Gewalt zwischen Protestierenden der Pro- und Anti-Maidan-Bewegung zu verhindern und sie nach ihrem Ausbruch zu stoppen. Rettungsmaßnahmen für die bei einem Brand in einem Gewerkschaftshaus eingeschlossenen Anti-Maidan-Aktivisten seien zu spät eingeleitet worden. Des Weiteren kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die zuständigen Behörden keine „wirksame Untersuchung“ der Ereignisse in Odessa eingeleitet und durchgeführt hätten.

Der EGMR verurteilte den ukrainischen Staat zur Zahlung von Entschädigungssummen zwischen 4.500 und 17.000 Euro an Angehörige der Opfer. Mehr als zwei Dutzend Hinterbliebene hatten seit 2016 Klagen beim EGMR eingereicht. Der Gerichtshof hat in seiner Urteilsverkündung auch die Hintergründe und den Ablauf der Ausschreitungen näher beleuchtet. Wie andere Regionen in der Ukraine habe die Stadt Odessa im Rahmen der Maidan-Proteste, des Sturzes der Regierung in Kiew sowie der Angliederung der Krim an die Russische Föderation eine „mehrmonatige Periode sozialer Spannungen“ erlebt. Vor dem Hintergrund eines Fußballspiels sei es dann im Mai 2014 zu Zusammenstößen zwischen Pro- und Anti-Maidan-Anhängern gekommen. Der EGMR stellt fest, dass die Polizei nicht versucht habe, eine erste Welle der Gewalt gegen die Pro-Maidan-Aktivsten „ernsthaft zu stoppen“. Zusammen mit klaren Hinweisen auf eine „mögliche Zusammenarbeit zwischen der Polizei und Anti-Maidan-Aktivisten“ sei dies einer der Gründe – „wenn nicht sogar der Hauptgrund“ – für die anschließende Vergeltungsgewalt gewesen.

Nach den ersten Zusammenstößen hätten sich die Anti-Maidan-Aktivisten in einem nahegelegenen Gewerkschaftshaus verbarrikadiert und vom Dach des Gebäudes Molotowcocktails auf ihre Gegner geworfen, erklärte der EGMR. Pro-Maidan-Aktivisten hätten wiederum das Gebäude an mehreren Stellen in Brand gesetzt. Zudem sollen von beiden Seiten Schüsse gefallen sein. Trotz zahlreicher Anrufe bei der weniger als einen Kilometer entfernten Feuerwehr – unter anderem auch von der Polizei – habe der Bezirksleiter der Feuerwehr seine Mitarbeiter angewiesen, keine Fahrzeuge zum Einsatzort zu schicken.

Bei der Belagerung seien insgesamt 42 Anti-Maidan-Aktivisten durch Rauchvergiftung, Verbrennungen sowie Sprüngen aus den Fenstern des Gebäudes ums Leben gekommen. Videoaufnahmen zeigten, wie einige Maidan-Anhänger versucht hätten, die Eingeschlossenen zu retten; während andere Maidan-Anhänger verletzte Menschen angriffen, die aus den Fenstern gestürzt waren, heißt es vonseiten des EGMR. Erst 45 Minuten nach dem Ausbruch des Feuers sei die Feuerwehr eingetroffen, habe den Brand gelöscht und die verbliebenen Eingeschlossenen gerettet.

Die Aufarbeitung der Vorgänge sei nach Ansicht des Gerichts unkoordiniert verlaufen und habe „gravierende Mängel“ aufgewiesen. Die Behörden hätten „untragbare Verzögerungen“ verursacht und „erhebliche Phasen unerklärlicher Inaktivität und Stagnation“ zugelassen. „Wesentliche Beweismittel“ seien zum Teil nie untersucht worden. Das Ermittlungsverfahren gegen einen Pro-Maidan-Aktivisten, der verdächtigt wurde, auf Anti-Maidan-Aktivisten geschossen zu haben, sei viermal aus identischen Gründen eingestellt worden, ungeachtet der früheren Kritik. Gegen den Bezirksleiter der Feuerwehr seien keine strafrechtlichen Ermittlungen eingeleitet worden. Sowohl der stellvertretende Leiter der lokalen Polizei als auch der Bezirksleiter der Feuerwehr hätten sich mittlerweile in die Russische Föderation abgesetzt.

Das Urteil des EGMR traf auf ein verhaltenes Echo in der deutschen Medienlandschaft. ARD und ZDF berichteten überhaupt nicht darüber. Die Frankfurter Allgemeine betonte, dass die prorussischen Anhänger „mutmaßlich von Moskau finanziert“ worden seien, obwohl diese Behauptung nicht in der Urteilsverkündung des Gerichts enthalten ist. Die „Nachdenkseiten“ kritisieren, dass das Gericht die Verantwortung der damaligen ukrainischen Regierung völlig unerwähnt lasse. Die Regierung in Kiew wollte Anti-Maidan-Aktivisten, die in den Monaten zuvor auch öffentliche Gebäude in anderen ukrainischen Städten besetzt hatten, „mit allen Mitteln stoppen“. Dazu seien militante Maidan-Aktivisten rund um Odessa einquartiert und ausgerüstet worden, heißt es in dem Artikel. Vieles deute darauf hin, dass nationalistische Fußball-Hooligans und Maidan-Hundertschaften die „vorwiegend prorussische Bevölkerung“ in Odessa durch eine „brutale Aktion“ einschüchtern sollten.

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