Ein Mann spricht Klartext
Oskar Lafontaine findet immer deutlichere Worte. Auch in Richtung seiner einstigen politischen Heimat, der SPD. Sein neues Buch bietet verbalen Sprengstoff und er selbst meldet sich über diverse Kanäle vernehmlich zurück. Krieg, Deutschlands Rolle in der Welt, das Verhältnis zu Russland und die Vormachtstellung der USA – Lafontaine hat dezidierte Vorstellungen.
Aus Anlass der Vietnam-Reise von Kanzler Olaf Scholz kritisierte Oskar Lafontaine vor wenigen Tagen dessen schulmeisterliche Belehrungen, seine „Nachhilfe in Völkerrecht“ für die dortige Regierung. Sollte nicht vielmehr Olaf Scholz von jenen Ländern lernen, die von den USA in den letzten Jahrzehnten überfallen wurden? „Europa muss sich von den USA befreien. Ohne die USA in Europa gäbe es keinen Jugoslawien-Krieg und keinen Ukraine-Krieg. Europa muss sich selbst behaupten und seine Strukturen nach dem Vorbild des früheren französischen Präsidenten Charles de Gaulle so verändern, dass die militärischen Einrichtungen der USA in Europa Zug um Zug abgebaut werden und Europa seine Souveränität wiedererlangt“, kommentiert Lafontaine den Kanzler-Auftritt. („Der vergessliche Olaf“, nachdenkseiten, 14. 11. 2022)
Damit ist er mitten in „seinem Thema“, das ihn zurzeit umtreibt. Luft hat er sich in einem kleinen, nur 64 Seiten starkem Buch gemacht, das am kommenden Montag erscheint: Ami, it’s time to go. Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas. Lafontaine bedauert das Ende der Entspannungspolitik Willy Brandts und sieht sich und uns in einem neuen Zeitalter der Aufrüstung und Eskalation. Vorbei sind die Zeiten, in denen Brandts Worte „von deutschem Boden darf niemals wieder Krieg ausgehen“ galten. „Heute liefert die Bundesregierung schwere Waffen in die Ukraine und macht sich damit wieder einmal zum Vasallen der USA. In deutschen Leitmedien werden währenddessen vollkommen unkritisch die abenteuerlichen Äußerungen unserer Außenministerin, Annalena Baerbock, verbreitet, wonach deutsche Waffen in der Ukraine Menschenleben retten. Gleichzeitig kappt man die Geschäftsbeziehungen zu unserem größten Energielieferanten, verordnet nationales Frieren und stürzt uns in eine Rezession. Das Versagen der deutschen Außenpolitik ist beispiellos“, fasst der Klappentext Lafontaines Besorgnis und Kritik zusammen.
Als Saarländer mag Lafontaine eine engere Bindung zu Frankreich verspüren als viele andere Bürger der mittlerweile wieder bis an die Oder reichenden Republik. Denn immer wieder orientiert er sich an den politischen Visionen General de Gaulles, der als erster Präsident der von ihm initiierten Fünften Republik wie kein anderer den USA die Stirn bot. Frankreichs selbstbewusstes und souveränes Auftreten führte in den 1960er-Jahren zum Fast-Austritt aus der NATO.
So antwortete Lafontaine kürzlich in einem Interview auf die Frage nach dem Titel seines Buches, warum er fordere, die USA sollten Deutschland verlassen, sie seien doch schließlich unsere Freunde: „Schon Charles de Gaulle, der einer der wichtigen Staatsmänner Europas im letzten Jahrhundert war, wusste immer: Staaten haben Interessen und keine Freunde. Und die Interessen der USA sind seit vielen Jahren andere als die Europas. Oft sind sie den Interessen Europas diametral entgegengesetzt und darauf muss man eben hinweisen in diesem Konflikt. Die USA wollen die einzige Weltmacht bleiben und um diese einzige Weltmacht bleiben zu können, versuchen sie, eventuelle Rivalen kleinzuhalten und zu schwächen.“ (Kontrafunk aktuell, 18.11.2022)
Was es dazu braucht, sich dem zu widersetzen? Nach Ansicht Lafontaines eine deutsche Regierung, die den USA die Gelbe und wenn nötig auch die Rote Karte zeigt. Er erinnert an die Amtszeit Helmut Schmidts, der, als es schon einmal um US-Interventionen bezüglich russischer Gaslieferungen nach Deutschland ging, sinngemäß lapidar antwortete: Sie können jetzt erzählen, was sie wollen. Wir machen das doch! „Die Amis“, so das politische Urgestein Lafontaine, machen so lange, was sie wollen, „bis ihnen einer ein ordentliches Stoppsignal entgegensetzt“. In dieser Rolle sieht er zum Teil auch Gerhard Schröder, trotz aller sonstigen politischen Differenzen. Schröder sei nicht bereit gewesen, als Befehlsempfänger der USA zu agieren – und das hält er ihm zugute. Sein Verdienst sei, „dass er Deutschland – grosso modo, muss man sagen, wenn man auf Details nicht achtet, aber was Truppen usw. angeht – aus dem Irakkrieg herausgehalten hat“. Im Jugoslawienkrieg sei Schröder noch den US-Vorgaben gefolgt, habe aber später erkannt, dass das ein völkerrechtswidriger Krieg war und sich selbst dessen bezichtigt.
Insgesamt lässt Lafontaine kein gutes Haar an den Vereinigten Staaten, besser gesagt an deren Führung. So äußerte er im Interview auch unverblümt seine Position bezüglich des Anschlags auf die russisch-deutschen Pipelines. „Ich sage immer, die Amis stecken dahinter. Und es ist keine Spekulation, denn Biden hat das ja gesagt. Er hat nur nicht gesagt, auf welche Art und Weise sie die Leitung erledigen werden. Aber wer die USA kennt und wer weiß, dass sie schon mal eine Leitung in Luft gejagt haben, der dürfte keinen Zweifel haben, dass sie dahinter stecken, dass sie letztendlich verantwortlich sind. Jeder, der das nicht glaubt, ist nicht nur einfach naiv.“ In seinem Buch nimmt Lafontaine Bezug auf die Sprengung der transsibirischen Pipeline im Jahr 1982. Die USA hatten unter der Präsidentschaft Ronald Reagans und mithilfe der CIA damals den Sowjets bewusst eine „falsche Software“ geliefert, die dazu führte, dass sich der Druck in der sibirischen Gasleitung immer weiter erhöhte, bis sie platzte – ein Cyber-Angriff mit verheerenden Folgen. Die Explosion gilt als die gewaltigste nicht-nukleare Detonation, die je stattfand. Aufgedeckt wurden die Hintergründe und Drahtzieher des Anschlags Jahre später durch die Washington Post. (Übrigens: Seit kurzem wird diese Agenda in den USA revidiert, Anm. Red.)
Und für all jene, denen diese Lafontain’schen Argumente nicht schon genügen, gibt der fast 80-Jährige die Antwort auf die wichtige Cui-bono-Frage: „Die Amerikaner haben jetzt schon mit diesem Krieg vieles erreicht, was sie immer wollten. Sie haben die Europäer und die Russen gegeneinander aufgebracht, insbesondere die Deutschen und die Russen. Sie haben das billige russische Erdgas jetzt mehr und mehr durch LNG-Gas der USA ersetzt, was sie auch immer wollten und unter vielen Drohungen bisher nicht erreicht hatten. Sie haben die Rüstungsindustrie in den USA mit goldenen Aufträgen versehen. Sie haben jetzt den Rücken frei – wie sie glauben – für die nächste Auseinandersetzung mit China. Also wer das alles nicht sieht und wer dem Präsidenten der USA nicht glaubt … Ich glaube dem Präsidenten der USA: Er hat gesagt, wir werden das tun.“ (Kontrafunk aktuell, 18.11.2022)
Man mag sich fragen, was einen Mann seines Alters so entschlossen und geradezu kämpferisch werden lässt. Der Westend Verlag, bei dem Lafontaines Buch erscheint, veröffentlichte kürzlich unter dem Titel „Gedanken zum Krieg“ einen eindrucksvollen Kommentar des Autors. Darin wird das Movens des unermüdlichen Mahners deutlich. Nachdem Lafontaine kurz auf seine eigene Familiengeschichte eingeht – der Onkel war 1941 200 Kilometer vor Moskau gefallen, sein Vater im April 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges von einem US-Soldaten erschossen worden, als er auf dem Weg zu seiner Familie war –, stellt er sich und seinen Lesern die grundsätzliche Frage nach Sinn und Ursache all der Kriege: „Der Vietnamkrieg prägte meine Einstellung zum Krieg nachhaltig: die Verbrechen, die dort begangen worden sind, der Einsatz chemischer Waffen, drei Millionen Tote! Damals ging eine ganze Generation auf die Straße, um gegen diesen Krieg zu protestieren! In diesem Zusammenhang drängte sich meiner Generation die Frage auf: Wer will denn eigentlich Krieg? Es ist eine entscheidende Frage, denn ich bin ganz sicher, dass kein sibirischer Bauer mit einem ukrainischen Bauern Krieg führen will – warum sollte er auch? Wir lernten sehr schnell, dass es nicht die Völker der Welt sind, die Krieg wollen, sondern stets eine kleine Minderheit. Das gilt auch heute noch für den Ukraine-Krieg.“
Als weiteres aktuelles Beispiel benennt Lafontaine den langjährigen Krieg im Jemen. Auch dort empfinde er Mitleid und Zorn. Mitleid mit den Menschen, Zorn auf die Kriegsherren. „Ich kann mich nur wundern, dass jetzt darüber nachgedacht wird, Energie nicht etwa von Russland zu beziehen – Russland wird Putin überleben und dann immer noch unser Nachbar sein –, sondern dass man jetzt von den Golfstaaten Energie beziehen will, die diesen verbrecherischen Krieg seit Jahren mit Unterstützung der USA führen. Über 300.000 Menschen sind dort bereits ums Leben gekommen, darunter 80.000 Kinder“, schreibt er im selben Kommentar.
Kein Wunder, wenn Lafontaine jegliche Form von Verhandlungen einfordert, die zu einem Waffenstillstand und schließlich zu Frieden in der Ukraine führen. Und doch bleibt er heute damit eine Stimme unter wenigen, die öffentlich nur sehr leise zu vernehmen sind, schlimmstenfalls von Mikrofonen und medialen Plattformen verdrängt oder als Personae non gratae angegangen werden. Woran das liegt? Woher kommt dieser gesellschaftliche Sinneswandel?
Lafontaine nennt in dem Kontrafunk-Interview als jüngstes Beispiel der – seiner Ansicht nach – verheerenden Auswirkungen und Entwicklungen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Dort wurde der Autor Serhij Zhadan geehrt, „der im Grunde genommen eine faschistische Sprache pflegt und die Russen als Ungeziefer und Tiere bezeichnet und Schweine, die in der Hölle brennen sollen. Und da sitzen dann Frau Esken und Frau Roth und Frau Göring-Eckardt und applaudieren. Man fasst sich nur noch an den Kopf, wie sich die Gesellschaft fehlentwickelt hat“.
Eine abschließende Erklärung dafür habe er nicht. Was jedoch die Kriegsbereitschaft angehe, liegt seiner Ansicht nach der Grund unter anderem darin begründet, „dass heute eine Generation in Politik und Journalismus tätig ist, die über die Erfahrungen nicht mehr verfügt, die diejenigen noch hatten, die als Nachkriegsgeneration – zu der ich auch gehöre – in den 80er-Jahren die Politik gestaltet haben. Insbesondere die, die wie Willy Brandt und die anderen Politiker den Krieg noch erlebt hatten und sich mit dem Nazi-Regime auseinandersetzen mussten. Über diese Erfahrung verfügen die ja alle nicht mehr. Ich habe manchmal den Eindruck, die glauben, ein Krieg sie ein Videospiel…“.
Für kommenden Dienstag (22.11.2022) hat Bremen Zwei, ein Radioprogramm aus der Gruppe der Öffentlich-Rechtlichen, ein Interview mit Oskar Lafontaine angekündigt. Es soll im Rahmen des Magazins „Der Tag“ um 15.10 Uhr starten. Die Hörer dürfen gespannt sein, wie viel Redefreiheit dem entschiedenen Kriegsgegner eingeräumt wird.
Das Buch – Erscheinungsdatum 21.11.2022:
Oskar Lafontaine, Ami, it’s time to go. Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas, Westend Frankfurt/Main 2022, 12 Euro