Konfliktherd

Droht eine ukrainische Invasion Transnistriens und wem würde sie nutzen?

Die Ukraine verlegt offenbar Truppen an die Grenze zu Transnistrien. Seither bezichtigt Russland die Ukraine der Provokation und warnt vor einer bevorstehenden Invasion der abtrünnigen Region. Die ukrainische Seite unterstellt Russland, nicht nur die Ukraine, sondern ganz Osteuropa einnehmen zu wollen. Doch wer hätte etwas von der Einnahme des kleinen Separatistengebietes zwischen Moldau und der Ukraine?

Keine Chance zur Selbstverteidigung: Die Transnistrische Armee. Soldaten salutieren vor Präsident Vadim Krasnoselsky (ganz links), November 2021.
Foto: Präsidialamt Transnistrien Lizenz: CC BY 4.0, Mehr Infos

Die Ukraine hat damit begonnen, Truppen an die Grenze zu Transnistrien zu verlegen. Das teilte Wladimir Rogow, Vorsitzender der transnistrischen Bewegung „Wir sind mit Russland“, am Sonntag mit. „Nach der erhaltenen operativen Information hat das Selenskyj-Regime den Befehl gegeben, Truppen an die transnistrische Grenze zu verlegen. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit kann man sagen, dass Selenskyj einen Angriff auf Transnistrien vorbereitet“, zitieren ihn Ria Novosti. Zuvor hatte das russische Verteidigungsministerium gemeldet, die Ukraine plane eine militärische Provokation gegen Transnistrien. Demzufolge wolle Kiew dafür seine Streitkräfte, inklusive des Asow-Regiments, das in Russland als Terrororganisation eingestuft wird, einsetzen. Als Vorwand für die Invasion wolle Kiew eine „False-Flag-Operation“ durchführen, indem es einen vermeintlich russischen Angriff auf Transnistrien inszeniert. 1 Manche vermuten, der Westen wisse von der geplanten Invasion und unterstütze sie. Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko sagte diesbezüglich: „Der Westen würde gern mit einem Schlag das Problem mit Russland und Transnistrien lösen. Moldau vereinen, es an Rumänien anschließen oder prowestlich machen.“ Dass die Rhetorik derzeit scharf ist und nicht unbedingt immer akkurat die Situation oder die Interessen der Beteiligten wiedergibt, ist klar. Doch dass es die Truppenbewegungen Richtung Transnistrien gibt, scheint Fakt zu sein. So hat Walerij Mischa, Staatssekretär des moldauischen Verteidigungsministeriums, verlautbart, man beobachte die Truppenbewegungen sehr genau und ignoriere sie nicht. Das Portal E-News will über die Truppen sogar Genaueres erfahren haben. So sammelten sich die Kontingente am westlichen Ufer des Cuciurgan-Stausees, wo sich der Grenzübergang Perwomaisk befinde. Würde man diesen einnehmen, würde dies den direkten Weg in die transnistrische Hauptstadt Tiraspol eröffnen. Die zweite, kleinere Kampfgruppe sammle sich nördlich des Stausees in der Region Slobodka. Dorthin würde schweres Kriegsgerät aus der Nähe von Odessa gebracht, um dann das Waffendepot in Kolbasna anzugreifen. 2 Woher diese Information stammt, gibt das Portal nicht an.

Fakt ist, dass sich seit dem Frühjahr 2022 die Anschläge auf Transnistrien mehren. So wurde am 25. April 2022 des Gebäude des Ministeriums für Staatssicherheit in der Hauptstadt Tiraspol aus einem Granatwerfer beschossen. Einen Tag später wurden zwei Funktürme in der Nähe der ukrainischen Grenze attackiert. Berichtet wurde zudem von einer Explosion in der Kaserne des Militärflugplatzes in Tiraspol. Auch Drohnen sollen über einer Militärgarnison im grenznahen Ort Woronkowo gesichtet worden sein, berichtete das transnistrische Innenministerium. Weitere Anschläge mit Brandbomben seien auf Gebäude in Tiraspol verübt worden. Transnistrien macht die Ukraine für die Anschläge verantwortlich. Die moldauische Regierung teilte mit, es sei zwar nicht klar, wer hinter den Anschlägen stecke, es handle sich aber offenkundig um eine Provokation mit dem Ziel, die Lage in der Region zu destabilisieren. 3

Transnistrien hatte sich 1990 von der Republik Moldau abgespalten. International wird der De-facto-Staat nicht anerkannt und nur von Russland gestützt. Völkerrechtlich gilt das Separatistengebiet weiterhin als Teil der Republik Moldau. Die rund 348.000 Einwohner starke Bevölkerung besteht zu 33,2 Prozent aus Moldawiern, zu 33,8 Prozent aus Russen und zu 26,7 Prozent aus Ukrainern. Politisch unterscheidet man zwei Lager. Eines setzt auf nationales Bewusstsein und die Schaffung eines neuen moldauischen Staates. Das andere strebt den Anschluss an Russland an. Demgegenüber hat sich Moldau zuletzt prowestlich entwickelt und hat den Status eines Beitrittskandidaten zur EU. 4

Cui bono?

Vor dem Hintergrund der gegenseitigen Beschuldigungen aus Moskau und Kiew stellt sich die Frage, wem eine Ausweitung des Konflikts auf Transnistrien etwas bringen würde. Die Streitkräfte beider Kriegsparteien sind nach einem Jahr der bewaffneten Auseinandersetzung schwer angeschlagen, ohne dass eine der beiden Seiten entscheidende Gewinne zu verzeichnen hätte. Warum also sollten sie zusätzliche Ressourcen darauf verwenden, Transnistrien anzugreifen? In der Berichterstattung der deutschen Presse wird diese Frage nicht aufgeworfen. Es wachse die Sorge, dass Transnistrien Teil des Konflikts werden könnte, heißt es lediglich. Zwar wird eingeräumt, dass es die jüngsten Terroranschläge, die die transnistrische Regierung auf die Ukraine zurückführt, gegeben hat, doch zögert man, der Ukraine eine Aggression zu attestieren. Lieber bedient man das Narrativ, es passe strategisch in den russischen Plan, seine Kriegshandlungen auf den Süden des Landes bis zur Hafenstadt Odessa auszuweiten. Berichte über die ukrainische Truppenkonzentration an der Grenze zu Transnistrien sucht man ebenfalls vergeblich. Stattdessen wird betont, Russland habe seine Streitkräfte in Transnistrien in volle Gefechtsbereitschaft versetzt, sowie Kiews Warnungen wiederholt, dass Moldau im Falle der ukrainischen Niederlage als nächstes dran sein könnte. 5 Schon im Dezember habe der moldauische Geheimdienst vor einer russischen Invasion zwischen Januar und April 2023 gewarnt. Moskau plane, Transnistrien mit Moldau zu verbinden, habe auch der ukrainische Präsident Selenskyj bestätigt, ohne dafür Beweise vorgelegt zu haben. 6

Blickt man in die russischen Medien, stellt sich das Bild ganz anders dar. Einerseits benennen sie den Nutzen, den die Ukraine aus einer Einnahme Transnistriens, die laut dem ehemaligen Berater des Büros von Wladimir Selenskyj, Aleksej Arestowitsch, innerhalb von drei Tagen abgeschlossen sein könnte, ziehen würde. „Wir haben diese Möglichkeit. Innerhalb von drei Tagen könnte man das klären“, hatte Arestowitsch verkündet. Nach Einschätzung russischer Experten könnte das Ziel einer solchen Invasion sein, den eigenen Waffennachschub zu sichern. Im transnistrischen Dorf Kolbasna befinde sich ein altes sowjetisches Waffenlager mit dem größten Waffenarsenal in ganz Europa. Es umfasse etwa 20.000 Geschosse, Bomben, Minen, Granaten und Munition. Vieles davon sei so alt, dass es sein Haltbarkeitsdatum bereits überschritten habe. Dennoch würden diese Bestände reichen, um die ukrainischen Streitkräfte für ein ganzes Kriegsjahr auszurüsten. 7 Zur Bewachung des Waffenlagers sind russische Soldaten in Transnistrien stationiert. Würde die Ukraine mit einem Angriff auf Transnistrien Russland erfolgreich dazu provozieren, den Konflikt über die ukrainischen Grenzen hinaus zu tragen, würde dies auch dem ukrainischen Narrativ darüber, dass Russland ganz Osteuropa zerschlagen wolle, neue Nahrung liefern. Von ukrainischer Seite sieht also eine militärisch leicht durchführbare, in puncto Waffennachschub sehr lohnenswerte und ins eigene Narrativ passende Operation in Transnistrien nach einem Win-win-Szenario aus. Nach einer längeren Durststrecke ohne nennenswerte Erfolge auf dem Schlachtfeld wäre es auch ein leichter Sieg, der aus PR-Sicht gut zu verkaufen wäre – schließlich hätte man die vermeintliche russische Bedrohung an dieser Grenze eingedämmt. 8 Dass die Einnahme Transnistriens für die ukrainischen Streitkräfte keine Schwierigkeit darstellen würde, sagen auch russische Experten. So schreibt der Militärexperte Jurij Barantschuk in seinem Telegram-Kanal: „Transnistrien ist ein schmaler Landstrich zwischen Moldau und der Ukraine. An der breitesten Stelle sind es 30 Kilometer, an der schmalsten drei Kilometer, dazwischen zehn bis zwölf Kilometer. Im Westen beträgt seine Grenze mit Moldau 411 Kilometer, im Osten sind es 405 Kilometer mit der Ukraine. Das Fehlen der strategischen Tiefe macht die Verteidigung Transnistriens praktisch unmöglich. Es ist überhaupt nicht schwer, mit einigen wenigen Schlägen von ukrainischer Seite das Territorium in mehrere Stücke zu teilen und diese dann einzeln zu säubern.“ Das Waffendepot in Kolbasna werde von einem Armeekontingent von etwa 3000 bis 4000 Soldaten bewacht, maximal von 5000 bis 7000 Menschen. Einen Teil davon mache ein begrenztes Kontingent von russischen Soldaten der Friedenssicherung aus, dazu transnistrische Polizisten und andere Einsatzkräfte. Die Chancen, das Waffendepot und das Territorium Transnistriens im Ganzen bei einem vollumfänglichen Angriff vonseiten der Ukraine zu halten, seien gering. Mit Bodentruppen werde Russland nicht helfen können, so der Experte. Die einzige Variante sei der Beschuss mit Raketen. „Aber wenn man die isolierte Lage der Kampfhandlungen berücksichtigt, ist die Effektivität einer solchen Maßnahme fraglich.“ Um wirklich eingreifen zu können, müssten die russischen Streitkräfte einen Korridor für die Bodentruppen schaffen. Und dieser müsste entweder durch die Ukraine oder durch das NATO-Mitgliedsland Rumänien gehen, wo sich eine Basis der US-Streitkräfte befinde. „Kurz gesagt, die Situation könnte nicht schlechter sein.“ 9 Das russische Außenministerium hatte mitgeteilt, Russland wolle ein Szenario vermeiden, in dem es gezwungen sein würde, in Transnistrien zu intervenieren. 10

In Anbetracht der aufgeführten Argumente erscheint es unwahrscheinlich, dass Russland ein Interesse an einer Ausweitung des Konfliktes auf Transnistrien hat. Eine Invasion der ukrainischen Truppen hingegen könnte dem Land Vorteile verschaffen. Wie das Portal News Front berichtet, haben ukrainische Propagandisten das Thema bereits im März 2022 diskutiert. Zudem hätten sie schon damals Gerüchte darüber gestreut, dass Moskau einen Regime Change in Moldau herbeiführen wolle. Moldau sei derzeit sehr instabil, die Bevölkerung sei zunehmend regierungskritisch eingestellt und gespalten. In dieser Gemengelage hätten Kiew und Chisinau die Mär vom russischen Plan der Destabilisierung wieder aus der Schublade geholt. Selenskyj habe mit seiner Rede zum Thema in Brüssel den Boden bereitet, Moldaus Regierungschefin Maia Sandu habe ihm assistiert, und schon sei die „hybride russische Bedrohung“ wieder im Gespräch. 11

 

Quellen

1https://ria.ru/20230226/pridnestrove-1854430742.html

2https://e-news.su/mnenie-i-analitika/453013-pridnestrove-odessa-formiruet-vojska-dlja-broska-na-tiraspol-oruzhija-tam-mnogo.html

3https://osteuropa.lpb-bw.de/transnistrien-konflikt

4https://osteuropa.lpb-bw.de/transnistrien-konflikt

5https://www.tagesschau.de/ausland/europa/moldau-transnistrien-101.html

6https://www.fr.de/politik/truppen-soldaten-warnung-selenskyj-russland-ukraine-news-invasion-moldau-putin-92104330.html

7https://www.gazeta.ru/politics/2023/02/26/16311913.shtml?updated

8https://news-front.info/2023/02/27/vopros-o-vtorzhenii-vsu-v-pridnestrove-ostaetsja-otkrytym/

9https://www.mk.ru/politics/2023/02/24/eksperty-nazvali-celi-kieva-v-provokacii-protiv-pridnestrovya.html

10https://osteuropa.lpb-bw.de/transnistrien-konflikt

11https://news-front.info/2023/02/27/vopros-o-vtorzhenii-vsu-v-pridnestrove-ostaetsja-otkrytym/

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