Cameron-Nachfolge: Boris Johnson kneift
(30.06.2016/dpa)
Der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson bewirbt sich völlig überraschend nicht um die Nachfolge des scheidenden Premierministers David Cameron. Der als Favorit gehandelte Brexit-Wortführer kündigte am Donnerstag an, nicht bei der Wahl zum Vorsitzenden der konservativen Tories anzutreten. Damit wird er auch nicht der nächste Premierminister Großbritanniens.
Weniger als eine halbe Stunde vor Ablauf der Bewerbungsfrist für die Wahl des Tory-Vorsitzenden trat Johnson in London mit ernster Miene vor die Kameras. Bis dahin hatte kaum jemand damit gerechnet, dass er verzichten könnte. Dann die große Überraschung: Der künftige Premierminister habe große Herausforderungen zu bewältigen, sagte Johnson und fügte hinzu: „Ich bin zu dem Schluss gekommen, diese Person kann ich nicht sein.“
Zuvor hatte, ebenfalls überraschend, Justizminister Michael Gove seinen Hut in den Ring geworfen. Gove, der Seite an Seite mit Johnson für einen Austritt Großbritanniens aus der EU geworben hatte, galt bis dahin als treuer Unterstützer Johnsons. Seine Bewerbung offenbarte tiefe Gräben im Lager der Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU.
Auch Justizministerin Theresa May gab ihre Bewerbung offiziell bekannt. May hat Beobachtern zufolge gute Chancen darauf, die Wahl für sich zu entscheiden. In jüngsten Umfragen erhielt sie die größte Zustimmung unter den Parteimitgliedern. Nach Ende der Bewerbungsfrist am Donnerstagmittag waren insgesamt fünf Bewerber im Rennen um die Nachfolge Camerons.
Am Montag sollen die konservativen Abgeordneten aus dem Bewerberfeld zwei Kandidaten auswählen, die sich dann dem Votum der Parteimitglieder stellen. Bis zum 9. September soll der oder die neue Parteivorsitzende und damit auch der neue Regierungschef feststehen.
Eine Woche nach dem Brexit-Schock sind beide großen Parteien im britischen Parlament tief zerstritten in der Führungsfrage. Auch in der Labour-Partei rumort es heftig: Labour-Chef Jeremy Corbyn muss damit rechnen, sich einem erneuten Votum der Parteimitglieder stellen zu müssen. Medienberichten zufolge wollte die Labour-Abgeordnete Angela Eagle noch am Donnerstag ihre Kandidatur um das Amt des Labour-Vorsitzenden bekanntgeben. Eagle gehört dem rechten, neoliberalen Flügel der Partei an.
Bei einer Mitgliederabstimmung dürfte sie gegenüber Corbyn das Nachsehen haben, denn der Parteichef erfreut sich an der Basis großer Beliebtheit. Seit Corbyn vor einem Dreivierteljahr überraschend den Vorsitz übernahm, hat sich die Zahl der Parteimitglieder von rund zweihundert- auf vierhunderttausend verdoppelt.