Aufruf von Überlebenden der Blockade von Leningrad
Mit einem Aufruf fordern die letzten Überlebenden der Blockade von Leningrad im Zweiten Weltkrieg von der Bundesregierung die Gleichbehandlung bei den humanitären Entschädigungen.
Am 8. September 1941 begann die Blockade Leningrads, dem heutigen St. Petersburg, durch die deutsche Wehrmacht. Sie dauerte fast 900 Tage, bis es den sowjetischen Truppen am 27. Januar 1944 gelang, den Belagerungsring zu durchbrechen. Über eine Million Leningrader bezahlte die Blockade mit ihrem Leben.
Das „Blockadebuch“ von Ales Adamowitsch und Daniil Granin aus den 1970er Jahren gibt anhand von Tagebuchaufzeichnungen wider, was das für die Menschen in Leningrad bedeutete. Der Aufbau-Verlag hatte das Buch 2018 in einer neuen deutschen Übersetzung und auf Grundlage der ungekürzten russischen Originalfassung von 2014 neu veröffentlicht.
Weniger als 60.000 Überlebende der faschistischen Blockade Leningrads von 1941 bis 1944 gibt es heute noch. Nur wenige von ihnen, jene jüdischen Glaubens, haben bisher humanitäre Leistungen von der Bundesrepublik Deutschland als Entschädigung bekommen – soweit eine solche möglich ist. Darauf machen Teilnehmer der Verteidigung der Stadt an der Newa und Überlebende der Blockade in einem am Freitag veröffentlichten Aufruf aufmerksam. Dieser ist an die derzeitige Bundesregierung gerichtet.
Darin wird Berlin aufgefordert, endlich allen heute noch lebenden Opfern des Völkermords gegen die Leningrader Bevölkerung humanitäre Leistungen zukommen zu lassen, «ohne Ansehen ihrer ethnischen Zugehörigkeit».
«Der grausame Kalkül der Nazis, die ganze Bevölkerung des unbeugsamen Leningrads durch Kälte und Hunger auszumerzen, sah keine Ausnahmen aufgrund von Nationalität vor. Die Einwohner unserer Stadt waren ungeachtet ihrer Nationalität gleich vor dem qualvollen Tod, den ihnen die Hitler-Ungeheuer bereiteten.»
Die Überlebenden erinnern in ihrem Aufruf an das Schicksal der Menschen, die unter der «in ihrer Brutalität einmalige Blockade von Leningrad» zu leiden hatten:
«Bombenangriffe und Beschüsse, Kälte und Hungersnot, die die faschistischen Truppen und ihre Helfershelfer aus einer ganzen Reihe europäischer Staaten über uns gebracht haben. Es ist die damalige deutsche Regierung, die es zu verschulden hat, dass in den Jahren 1941 bis 1944 unsere Stadt, in der über 100 Nationalitäten lebten, allein unter Zivilisten eine Million Tote zu beklagen hatte, und weitere mindestens 500 Tausend Menschenleben in drei Evakuierungen gefordert wurden.»
Die «unmenschlichen Verbrechen der deutsch-faschistischen Eindringlinge» seien in ihrer Erinnerung «sehr lebendig», so die Überlebenden. Sie seien in den Nürnberger Prozessen nachgewiesen und durch zahlreiche Dokumente belegt worden. 2022 habe das Stadtgericht St. Petersburg die Leningrader Blockade als «Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid an den Völkern der Sowjetunion» eingestuft.
Die überlebenden Blockade-Opfer würden heute in vielen Ländern der Welt leben. Die knapp 60.000 seien verschiedener Nationalität, aber «unabhängig von ihrem Wohnort in gemeinsamer und unzerstörbarer Blockade-Bruderschaft verbunden». In dem Aufruf wird die «zwiespältige Position der Bundesregierung» kritisiert, bisher nur den Überlebenden jüdischen Glaubens humanitäre Leistungen gezahlt zu haben. Dagegen habe sie sich «unter erfundenen Vorwänden kategorisch» geweigert, diese Leistungen auf alle heute noch lebenden Blockade-Opfer ohne Ansehen ihrer ethnischen Zugehörigkeit auszuweiten.
Bisher seien zahlrieche Versuche, das Gewissen der Regierenden in Deutschland zu erreichen erfolglos geblieben, heißt es. Die Bundesregierung habe bisher nur 2019 angekündigt, ein Krankenhaus für Kriegsveteranen in Sankt Petersburg zu modernisieren. Doch selbst das sei bisher nicht geschehen. Die Überlebenden appellieren mit ihrem Aufruf an die derzeitige Bundesregierung, «die einzig richtige Entscheidung nicht hinauszuzögern und die humanitären Auszahlungen auf ausnahmslos alle Blockade-Überlebenden auszuweiten, die es immer weniger gibt». Eine Reaktion der Bundesregierung ist bisher nicht bekannt und auf deren Webseite nicht zu finden.
Bis heute wird die Zeit in der deutschen Wehrmacht als «Ersatzzeit» bei den Rentensprüchen ehemaliger deutscher Soldaten anerkannt. Und selbst Kriegsverbrecher und ehemalige SS-Angehörige aus anderen Ländern erhielten und erhalten seit Jahrzehnten bis heute deutsche Renten.v