Sinnloser Tod im „Indianerland“
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Während für die Bundeswehrsoldaten in Kundus der Krieg alltäglich wird, fordern kritische Offiziere eine diplomatische Lösung des Konflikts –
Von THOMAS WAGNER, 19. April 2010 –
Mittlerweile pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan töten – „nicht nur Taliban sondern auch unbeteiligte Zivilisten und, wenn es ganz schlimm kommt, sogar Kinder.“ (1) Seit dem Kundus-Massaker vom 4. September 2009, bei dem nach Angaben der Opfer-Anwälte mindestens 137 Zivilpersonen getötet wurden, wird das immer mehr Menschen in Deutschland bewusst. Doch schon vier bis fünf Monate früher, im April 2009 hatte die die Bundeswehr „einen faktischen Taktikwechsel“ (2) vorgenommen, der über das bisherige „Zurückschießen, Durchbrechen und Zurückziehen ins PRT“ (3) im Falle eines Angriffs durch Aufständische hinausging.
Immer häufiger begannen deutsche Soldaten selbst den Kampf, verfolgten und töteten den militärischen Gegner. (4) Ein Hauptmann des Fallschirmjägerbataillon 373 in Kundus sagte klipp und klar: „Wir haben gelernt zu töten und tun dies auch.“(5) Für einige Soldaten ist das so selbstverständlich geworden, dass sie vorgeben, „keine Probleme damit“ zu haben. „Ich würde töten, wenn es mein Auftrag verlangt, gezielt, dosiert und ohne jedes emotionale Engagement.“
Unter seinen Kameraden, so ein Offizier der Spezialkräfte, heiße das feindlich kontrollierte Gebiet ganz einfach „Indianerland“. Das erinnert an unzählige Western, in denen die vermeintlichen „Wilden“ zum Abschuss freigegeben sind, ist aber auch symptomatisch für die Orientierung der gegenwärtigen Aufstandsbekämpfung durch die ISAF und ihre deutschen Truppenteile an der schlimmen Tradition der US-amerikanischen und europäischen Kolonialkriege des 19. und 20. Jahrhunderts. (6)
Dass es auch Stimmen in den deutschen Streitkräften gibt, die diese immer martialischer werdenden Einsätze der Bundeswehr für gänzlich verfehlt halten und weitere Opfer unter den deutschen Soldaten und der afghanischen Bevölkerung nicht hinzunehmen bereit sind, wird von den großen Medien und der für die Auslandseinsätze verantwortlichen Politik geflissentlich verschwiegen. Dabei haben am Sonntag eine ganze Reihe von aktiven und ehemaligen Offizieren und Unteroffizieren vom Arbeitskreis Darmstädter Signal zum wiederholen Male die Afghanistan-Politik der Bundesregierung scharf kritisiert: „Die Veränderung der Einsatztaktik mit mehr Patrouillen, Aufstockung des Personals und Einführung schwerer Waffen führt zu einer weiteren Eskalation der militärischen Gewalt, zu weiteren Menschenrechtsverletzungen und zu einem erhöhten Risiko für unsere Soldaten. Die Ereignisse der letzten Tage unterstreichen: Der Einsatz von Streitkräften ist nicht die Lösung des Problems, sondern das Problem selbst. Die Bundeswehr trägt in Afghanistan nicht zur vernetzten Sicherheit, sondern zur vernetzten Unsicherheit bei. Die Inkaufnahme des Todes unserer Soldaten ist für die betroffenen Angehörigen und für uns unbegreiflich und sinnlos, zumal vorgebliche Ziele nicht erreicht werden.“
Im Anschluss an ihre Berliner Arbeitstagung „Probleme der deutschen Sicherheitspolitik“ richteten die Soldaten an die Bundesregierung die Erwartung, sich sichtbar „für eine Bereitschaftserklärung zum Abzug aller NATO-Streitkräfte aus Afghanistan und die kurzfristige Erarbeitung eines gemeinsamen Rückzugsplans“ zu engagieren. „ Deutschland und seine Bündnispartner müssen dem Beispiel des Abzuges der Kanadier und der Niederländer folgen. Die Bundesrepublik darf sich nicht an grundgesetzwidrigen Säuberungs- und Tötungs- Aktionen (CLEAR and TARGETING) sowie ähnlichen Einsätzen beteiligen.“
Zuvor hatten sich die Soldaten von Citha Maaß (Stiftung Wissenschaft und Politik) und Winfried Nachtwei (Sicherheitsexperte der Grünen) über den derzeitigen Stand des deutschen Engagements in Afghanistan informieren lassen. Dabei ergab sich das Bild einer bemerkenswerten Kopf- und Planlosigkeit der deutschen Sicherheitspolitik, die mit der Auflösung ihrer Regionalkommandos (PRTs) zumindest konzeptionell jetzt schon beginnen müsste, wenn sie den afghanischen Behörden, wie allenthalben erklärt, in absehbarer Zeit die Verwaltung ihrer Provinzen übergeben wollte.
In ihrer Presseerklärung erinnern die Soldaten daran, dass die nahezu zehnjährige militärische Intervention in Afghanistan für die Bevölkerung keinen Wirtschaftsaufbau, sondern sinkendes Einkommen und Elend; keinen Zivilaufbau, sondern die Zerstörung traditioneller Zivilstrukturen; keine Frauenbefreiung, sondern eine Gefährdungszunahme für Frauen, keine Demokratie, sondern Korruption, Rechtsbruch und Gewalteskalation brachte.
Ein engagierter Vortrag der Politikberater, Zentralasien-Experten und ehemaligen Botschafter Dr. Arne Seifert und Dr. Karl Fischer bestärkte die Tagungsteilnehmer in ihrer Überzeugung, dass eine Lösung des Afghanistan-Konflikts nur in der Beendigung des Krieges und einer politisch-diplomatischen Initiative liegen kann. (7) Die Soldaten fordern die Bundesregierung daher auf, ihr Handeln ausschließlich auf eine politische und diplomatische Konfliktlösung auszurichten. (8)
Quellen und Anmerkungen:
(1) Der Spiegel, Nr. 16, 19.04.2010, S. 21
(2) http://www.nachtwei.de/index.php/articles/news/969
(3)http://www.nachtwei.de/index.php/articles/news/969
(4) Den Anfang machte ein stundenlanges Feuergefecht vom 7. bis zum 8. Mai 2009 bei dem 29 Soldaten einer deutschen Patrouille im Verbund mit afghanischen Sicherheitskräften eine Motorrad-Truppe der Aufständischen verfolgten und dabei bis zu 7 Gegner töteten und 14 weitere verwundeten. Das Bundesministerium für Verteidigung gab bekannt, dass mindesten zwei davon von deutschen Soldaten getötet worden seien. Bei einem weiteren Gefecht am 4. Juni töteten deutsche Soldaten 10 gegnerische Kämpfer. „Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik fiel am 29.4. ein Bundeswehrsoldat im Kampf. Erstmalig kam es am 15.6. 2009 im Einsatzgebiet der Bundeswehr zu einem scharfen Luft-Bodeneinsatz mit Bordkanone und Raketen. (Bis dahin blieb es maximal bei show of force.) Erstmalig wurden am 19.7. in Chahar Darreh von Schützenpanzern „Marder” (3) Mörsersprenggranaten verschossen. (Noch im Juni 2009 mussten die Mörsergranaten vom Regionalkomandeur Nord freigegeben werden.)“ http://www.nachtwei.de/index.php/articles/news/968
(5) Dieses und die nächsten drei Zitate stammen aus Der Spiegel, Nr. 16, 19.04.2010, S.19-33
(6) Eine noch stärkere Orientierung des Afghanistaneinsatzes am Beispiel der französischen Kolonialpolitik in Afrika fordert nachdrücklich Marc Lindemann, der bis 2009 als Nachrichtenoffizier in Kundus eingesetzt war. Vgl. Lindemann, Marc: Unter Beschuss. Warum Deutschland in Afghanistan scheitert. Berlin 2010, S. 272
Deutlich herausgearbeitet wird die zunehmende Bedeutung des Vorbilds der europäischen und amerikanischen Kolonialkriege für die ISAF-Strategie in Afghanistan in: Thörner, Marc: Afghanistan-Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie. Hamburg 2010
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(7) Eine schriftliche Fassung ihres Lösungsvorschlags hat die Zeitschrift Welt-Trends publiziert. „Alternative zu London. Ein Plädoyer deutscher Diplomaten“, in: Welt Trends, Nr. 71, März/April 2010, S. 87-91
(8) http://www.darmstaedter-signal.de/aktuell.php