Terrorismus

Gefährliche Dynamik

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Der Islamische Staat expandiert in vielen Gegenden Nordafrikas und des Mittleren Ostens. Ein Überblick – 

Von THOMAS EIPELDAUER, 20. Oktober 2014 –

Die Schlacht um Kobane geht weiter. Seit dem 15. September bedrängen militärisch besser ausgerüstete Einheiten des Islamischen Staates (IS) die kurdische Stadt im Norden Syriens, seit mehr als vier Wochen halten die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG dem Ansturm der Dschihadisten stand. Seit US-Luftangriffe Ende vergangener Woche zunahmen, und nun auch Waffen der irakischen Peschmerga aus US-Transportflugzeugen über Kobane abgeworfen werden, gerät der Islamische Staat zunehmend in die Defensive. Die Schlacht ist zu einem Symbol geworden, Kommentatoren in der Türkei vergleichen sie gar mit der um Stalingrad während des Zweiten Weltkriegs.

Während aber die kurdische Autonomiebewegung in Kobane um ihr Überleben kämpft und dem IS dabei trotz des offenkundigen Versuchs der Türkei, die kurdische Bewegung zu schwächen, Paroli bietet, befinden sich die Gotteskrieger an anderer Stelle weiter auf dem Vormarsch. Denn mit Teilen von Syrien und dem Irak gibt sich die Führungsriege des selbst proklamierten Kalifats nicht zufrieden.

Das erklärte Ziel, das der Islamische Staat verfolgt, ist die Auflösung der aus dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916 hervorgegangenen Grenzziehungen, also eine Umgestaltung des gesamten Mittleren Osten. Doch auch das ist nur ein Etappenziel. „Und Er, der höchste sagt: Bekämpft sie, bis es keine Fitnah mehr gibt, und bis die Religion, alle Religion, für Allah ist“, predigte der Führer der Gruppe, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem seiner wenigen öffentlichen Auftritte. (1) Die Idee dahinter könnte ein Kalifat als Zentrum einer Reihe von „islamischen Staaten“ in verschiedenen mehrheitlich von sunnitischen Muslimen bewohnten Regionen sein.

„Gürtel-Strategie“: Irak und Syrien

Die beiden Länder, in denen der IS die intensivsten Kampfhandlungen durchführt sind klarerweise der Irak und Syrien. Hier befindet sich das organisatorische Herz der Bewegung,jenes „Kalifat“, das die Dschihadisten im Juni 2014 zum „Kalifat“ erklärten. Bei seiner Proklamation erstreckte sich das Kalifat nach Angaben der Grupppe von Aleppo im Norden Syriens bis in den Osten des Irak, wobei nicht überall volle Kontrolle ausgeübt wird, wie das etwa in der Hochburg Ar-Raqqah der Fall ist.

Im Moment konzentrieren sich die Expansionsbestrebungen des Islamischen Staates auf die kurdischen Gebiete Syriens und des Iraks, sowie auf Bagdhad selbst. Kobane bleibt, trotz einiger Gebietsgewinne der örtlichen Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ unter Belagerung des IS. Unter dem Druck von Luftschlägen und dem erbitterten Widerstand der kurdischen Milizen scheint eine vollständige Übernahme der Stadt durch den IS mittlerweile unwahrscheinlich. Gleichzeitig bleiben viele Dörfer unter Kontrolle der Dschihadisten, starke Militärverbände bedrohen weiterhin die syrischen Kurdengebiete. Auch im Irak führt der IS weiterhin Angriffe gegen Kurdengebiete durch, derzeit vor allem erneut in den jesidischen Gebieten rund um Sengal.

In der irakischen Provinz Anbar, einer flächenmäßig großen, aber wenig besiedelten Gegend im Südosten des Landes, hat die Miliz in den vergangenen Tagen Regierungstruppen zurückgeschlagen. 80 Prozent des Gebiets sollen bereits unter Kontrolle des IS sein, strategisch bedeutende Orte wie Falludscha, Hit und Kubaisa fielen an die Dschihadisten. (2) Der mit der Bekämpfung des IS betraute US-General John Allen attestierte der Miliz „substantielle Gewinne“. (3)  

Damit befinden sich die Soldaten des Kalifats auf Kurs nach Bagdhad. Zwar wird eine direkte Attacke auf die irakische Hauptstadt nicht unmittelbar bevorstehen, aber der Einflussbereich des Islamischen Staates dehnt sich weiter aus. Der australische Militärberater David Kilcullen beschrieb dieses Vorgehen  in einem Interview so: „Soweit wir ihre Strategie sehen können, scheinen sie eine Strategie zu verfolgen, die von Abu Musab al-Zarqawi entwickelt wurde, der der Kopf der Vorgängergruppe, Al Qaida im Irak, war. Diese Strategie wurde bekannt als „Gürtel-Strategie“, weil sie auf der Idee aufbaute, die „Gürtel“ oder Ringe von Gebieten außerhalb Baghdads zu kontrollieren, um von dort aus mit Bombenanschlägen und Angriffen in die Stadt eindringen zu können.“ So solle die irakische Hauptstadt schrittweise „destabilisiert“ werden. (4)

Konkret könnte im Moment die Wasserversorgung Baghdads Ziel des Islamischen Staats sein. „Während ihres seit über drei Jahren in Syrien und seit über 120 Tagen im Irak andauernden Kampfes hat ISIS Strategien entwickelt, die sich von denen anderer dschihadistischer Terrorgruppen wie Al Qaida, Al Shabab oder Boko Haram unterscheiden. ISIS setzt auf Taktiken wie Belagerungen, das Halten von Territorien und die Eroberung strategisch bedeutender Einrichtungen, insbesondere solche, bei denen es um Wasser- oder Energieversorgung geht“, schreibt Ahmed Hadi in der libanesischen Zeitung Al Akhbar. (5) Haditha, eine Stadt etwa 200 Kilometer westlich von Bagdhad, ist einer dieser strategisch relevanten Orte. Der nahe der Stadt gelegene Staudamm ist der zweitgrößte im Irak, der Wasserexperte Hassan al-Janabi schätzt gegenüber Al Akhbar ein, der IS könnte nach der Übernahme des Damms vollständig die Wasserressourcen des Euphrat kontrollieren. „Wir befürchten, ISIS würde dann tun, was sie mit dem Fallujah-Damm getan haben, den sie geschlossen, die Wasserversorgung für Gebiete im Zentrum und im Süden abgetrennt und gleichzeitig weite Gebiete zwischen Fallujah und Abu Ghraib geflutet haben.“

Terror zur Destabilisierung: Libanon

Auch außerhalb von Syrien und des Irak versucht der Islamische Staat weiter an Boden zu gewinnen. Ein Land, in dem die Dschihadisten immer wieder versuchen, Spannungen zu schüren, ist der Libanon. Dort finden sich aus mehreren Gründen Ausgangsbedingungen, die für den IS nicht ungünstig sind. Zum einen befand sich das Land zwischen 1975 und 1990 in einem blutigen Bürgerkrieg, dessen Wunden bis heute nicht überall verheilt sind. Zum anderen kämpft die schiitische Hizbollah an der Seite Baschar Al-Assads im Bürgerkrieg in Syrien.

Trotz dieser Faktoren ist es für den Islamischen Staat im Libanon noch keineswegs möglich, einen offenen Guerialla-Krieg zu führen wie etwa im Irak. Gleichwohl kommt es immer wieder zu Angriffen, die offenkundig das Ziel haben, religiöse Spannungen zu schüren. Enthauptungen libanesischer Soldaten, Autobomben, aber auch direkte militärische Attacken werden vom IS im Libanon durchgeführt. Anfang August rückten bewaffnete Dschihadisten in die mehrheitlich sunnitische Stadt Ersal im Nordosten des Landes ein und begannen Stellungen der libanesischen Armee anzugreifen. (6) Offenbar ging es bei der Operation primär um die Befreiung eines inhaftierten Dschihadisten, Abu Ahmed Jumaa, gleichwohl hatte sie weitreichendere Konsequenzen. Denn die Armee schlug zurück, griff die Militanten in Ersal an, was an anderer Stelle den Unmut sunnitischer Radikaler weckte: In Tripoli kam es daraufhin zu bewaffneten Ausschreitungen, auch hier starben erneut libanesische Soldaten. (7)

Im Libanon sind es vor allem zwei Regionen, in denen momentan durch den direkten oder ideologischen Einfluss Probleme entstehen. Zum einen Qalamoun, die Grenzregion zu Syrien im Osten des Landes, wo Hizbullah und Armee gegen verschiedene Fraktionen der syrischen Opposition kämpfen. Zum anderen Tripoli, wo die Propaganda des Islamischen Staates unter der sunnitischen Bevölkerung einiges an Gehör findet.

Mohammed Hemish beschreibt in einer ausführlichen Reportage für Middle East Eye die Situation in der zweitgrößten Stadt des Landes: „Möge die Revolution im Irak erfolgreich sein“, steht auf Bannern in den Straßen Tripolis, Demonstrationen finden in Unterstützung des Islamischen Staates statt. Ausschlaggebend sei dabei vor allem ein gemeinsames Feindbild: Schiiten und Alawiten, vor allem deren bewaffnete Organisation Hizbollah. „Nehmen wir an, der IS würde kommen“, sagt ein sunnitischer Fundamentalist im Gespräch mit Hemish. „Wenn sie gegen die Hizbollah kämpfen (…) würden wir sie aufnehmen und mit ihnen gemeinsam kämpfen, weil sie denselben Feind haben.“ (8)

Außenposten des Kalifats: Jordanien und Libyen    

Präsenz von Unterstützergruppen des IS und Anschläge gibt es nahezu in allen Staaten der Region. In Ägypten ruft der IS zu Anschlägen auf und Jordanien fürchtet eine Ausweitung des IS-Terrors auf sein Staatsgebiet, weil der Grenzübergang zum Irak bereits unter der Kontrolle sunnitischer Militanter ist. Auch in Jordanien selbst wächst die Zusimmung zum IS. Dabei haben vor allem die US-Luftschläge eine Rolle gespielt, unter den jüngeren Dschihadisten wenden sich seitdem immer mehr von Al Qaida ab und suchen ihren Bezugspunkt im Islamischen Staat. (9)

Weiter fortgeschritten dürften die Bemühungen des IS in Libyen sein. Der seit der westlichen Militärintervention 2011 und dem Sturz des ehemaligen Machthabers Muammar Gaddafi ökonomisch wie politisch zerstörte Staat ist ein geradezu idealer Nährboden für islamischen Dschihadismus. Funktionierende zentralstaatliche Institutionen gibt es hier nicht mehr, verschiedene Milizen ringen miteinander um Einfluss.

Eine neue dschihadistische Gruppe, die Majlis Shura Shabab al-Islam (Islamischer Jugend-Schura-Rat), habe Kontrolle über Teile der Stadt Derna erlangt und dieses zu Territorium des IS-Kalifats erklärt, schreibt Aaron Y. Zelin von The Washington Institute. (10) Ob es sich dabei wirklich um eine neue Gruppe handelt, oder ob es Milizen der traditionell einflussreichen Ansar Al-Sharia sind, die sich dem Kalifat anschließen, ist unklar. (11)

Klar dürften dagegen sein, dass auch in Libyen nach dem Sturz Gadaffis eine chaotische und von permanenten gewaltätigen Auseinandersetzungen geprägte Situation entstanden ist, in der der Islamische Staat rasch Fuß fassen könnte.

Einheit der Dschihadisten?

Generell häufen sich die Indizien, dass unter dem Dach des Islamischen Staates mittelfristig eine Vereinigung unterschiedlicher dschihadistischer Gruppierungen stattfinden könnte. Dem entgegen steht im Moment zwar noch das angespannte Verhältnis zu Al Qaida, das aus der Rivalität zur syrischen Al-Nusra-Front herrührt.

Gleichwohl scheinen sich aber immer mehr Gruppierungen dem neuen Kalifat anzunähern. So sollen Kommandeure der pakistanischen Taliban ihre Unterstützung kundgetan haben: „Die Mudschaheddin, die im Irak und in Syrien kämpfen, sind unsere Brüder“, heißt es in einer Mitteilung von Mullah Fazlullah, dem Anführer der pakistanischen Taliban. (12) Ähnlich könnten auch die somalischen Al-Shabaab-Milizen nach der Tötung ihres Kommandanten Ahmed Abdi Godane durch das US-Militär von ihrer Loyalität zu Al Qaida ablassen und sich dem Islamischen Staat unterordnen, spekulieren US-Analysten. (13)

Diesen Schritt dürfte Medienberichten zufolge Al Qaida im Islamischen Maghreb (AQIM) bereits vollzogen haben. Bereits im Juli 2007 meldete das Nachrichtenportal Al Monitor, dass der Führer der Gruppe, Abdullah Othman al-Assimi, in einer Videobotschaft dem Islamischen Staat seine Unterstützung versicherte: „Wir sagen allen Muslimen, dass wir Gerechtigkeit in dem Vormarsch von ISIS gesehen haben, dass sie zu den Gehorsamsten von Gottes Volk gehören und dass sie zu den entschiedensten Dienern des Propheten gehören.“

Diese Bekundungen und der Umstand, dass sich aus dutzenden Ländern junge radikalisierte Muslime aufmachen, um an der Seite des IS in den Krieg zu ziehen, legt nahe, dass der Kampf gegen die Dschihadisten keine kurzfristige Angelegenheit sein wird. Der schnelle Vormarsch im Irak und Syrien haben einen Mythos geschaffen, der eine gefährliche politische Dynamik entfaltet.


 

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Anmerkungen

(1) http://www.youtube.com/watch?v=VOORW63ioY0
(2) http://www.dw.de/anbar-steht-vor-dem-fall/a-17998263
(3) http://rudaw.net/english/middleeast/iraq/16102014
(4) http://www.abc.net.au/lateline/content/2014/s4066750.htm
(5) http://english.al-akhbar.com/content/haditha-how-isis-plans-cut-water-southern-iraq
(6) http://english.al-akhbar.com/content/islamic-state-expands-lebanon
(7) http://english.al-akhbar.com/content/battles-qalamoun-no-turning-back
(8) http://www.middleeasteye.net/news/can-islamic-state-win-foothold-lebanons-tripoli-34143114
(9) http://www.bbc.com/news/world-middle-east-29335811
(10) http://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/view/the-islamic-states-first-colony-in-libya
(11) http://english.alarabiya.net/en/News/africa/2014/10/06/Video-Libya-s-Islamist-militants-parade-with-ISIS-flags.html
(12) http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-10/taliban-pakistan-islamischer-staat-solidaritaet
(13) http://www.bloomberg.com/news/2014-09-08/somalia-s-al-shabaab-power-struggle-may-see-islamic-state-shift.html
(14) http://www.al-monitor.com/pulse/tr/security/2014/07/aqim-declaration-support-isis-syria-maghreb.html

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