Al-Qaeda will ehemaligen MI5-Informanten freipressen
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Von REDAKTION, 30. April 2012 –
Die Terrororganisation al-Qaeda im Islamischen Maghreb (AQMI) soll die Freilassung eines Briten im Tausch gegen den jordanischen „Hassprediger“ Abu Qatada angeboten haben. Das geht aus einer Botschaft hervor, die islamistische Terrorgruppen am Montag im Namen der Organisation veröffentlichten.
Darin heißt es, die Gruppe sei bereit, den im November in Mali entführten britisch-südafrikanischen Staatsbürger Stephen Malcolm freizulassen. Malcom war zusammen mit zwei weiteren Europäern verschleppt worden. In Videoaufnahmen zeigten sich die Entführer in martialischer Pose mit ihren Geiseln. (1)
Im Gegenzug für Malcolms Freilassung solle die britische Regierung Abu Qatada, der mit bürgerlichem Namen Omar Othman heißt, in ein Land des „arabischen Frühlings“ ausreisen lassen.
„Wenn Großbritannien dieses Angebot ignoriert, wird es die Konsequenzen dafür tragen müssen, Abu Qatada an die jordanische Regierung übergeben zu haben“, heißt es in der Erklärung.
Die britische Regierung will den Jordanier palästinensischer Herkunft schon seit Jahren nach Jordanien abschieben, wo er 1999 in Abwesenheit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden war. Nach jordanischem Recht müsste der Prozess gegen ihn nach seiner Rückkehr wiederholt werden. Die geplante Abschiebung aus Großbritannien wurde mehrfach aufgeschoben, da nicht auszuschließen ist, dass Abu Qatada in Jordanien auf der Basis von Geständnissen verurteilt wird, die unter Folter entstanden sind.
In der AQMI-Botschaft, deren Authentizität nicht unabhängig überprüft werden konnte, heißt es, Abu Qatada sei kein Angehöriger von al-Qaeda oder einer anderen Dschihadistenorganisation. AQMI setze sich lediglich für ihn ein, „weil er ein Muslim ist, dem Unrecht widerfahren ist“.
Bereits im Juni 2007 scheiterte ein Versuch einer islamistischen Terrorgruppe, Abu Qatada freizupressen. Die palästinensische Armee des Islam wollte ihn gegen den im Gaza-Streifen entführten britischen Journalisten Alan Johnston austauschen.
Zur Jahrtausendwende galt Qatada als spiritueller Führer von al-Qaeda in Europa und als Osama Bin Ladens rechte Hand auf dem Kontinent. Bei einer Festnahme im Februar 2001 wurden 170.000 britische Pfund in bar bei ihm gefunden, sowie ein Umschlag mit der Beschriftung „Für die Mudschaheddin in Tschetschenien“, der rund 800 Pfund enthielt. (2)
Qatada habe sich im „Zentrum der mit al-Qaeda verbundenen terroristischen Aktivitäten im Vereinigten Königreich“ befunden und sei „ein wirklich gefährliches Individuum“, beschrieb Justice Collins, Vorsitzender der Special Immigration Appeals Commission, den langbärtigen Prediger. (3)
Abu Qatada: Im Auftrag ihrer Majestät?
So gesehen ist es keine Überraschung, wenn al-Qaeda sich ausgerechnet für seine Freilassung einsetzt. Andererseits dürfte der Terrororganisation dessen zwielichtige Rolle nicht entgangen sein: Abu Qatada arbeitete jahrelang für den britischen Geheimdienst als Informant.
„Eine der gefährlichsten Personen al-Qaedas entpuppte sich als Doppelagent, der für den (britischen Inlandsgeheimdienst, Anm. Red.) MI5 arbeitete und für wachsende Kritik der europäischen Regierungen sorgte, die wiederholt dessen Festnahme forderten“, schrieb die britische Times vor acht Jahren. (4)
Anfragen aus Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich und den USA bezüglich der al-Qaeda-Verbindungen des in London lebenden Mannes wurden von den britischen Behörden abschlägig behandelt.
Bei seinen Gesprächen mit dem Geheimdienst versicherte Qatada, über jeden zu berichten, der den Interessen Großbritanniens schaden könnte. Schließlich würde er „nicht die Hand beißen, die ihn füttere“. (5)
Begonnen hatte die Kooperation zwischen dem „Hassprediger“ und dem Inlandsgeheimdienst im Jahr 1996, um nur ein Jahr später – zumindest laut den offiziellen Stellen – wieder eingestellt zu werden. Doch an dieser Version sind erhebliche Zweifel angebracht. Nach dem 11. September 2001 und vor seiner Festnahme Ende 2002 kam es zu mehreren Treffen zwischen einem Freund Qatadas, Bisher al-Rawi, und dem MI5. Al-Rawi, ebenfalls als Informant für den Dienst tätig, vermittelte auf diesen Treffen zwischen seinem Freund und den Behörden, die den Jordanier suchten. Der hielt sich derweil versteckt, wurde aber mit Wissen des MI5 von al-Rawi in seinem Unterschlupf aufgesucht.
Al-Rawi diente auch auf mehreren Treffen zwischen dem Geheimdienst und Qatada vor dem 11. September als Dolmetscher. Die Verbindungen zwischen Qatada und dem MI5 fanden demnach kein frühzeitiges Ende im Jahr 1997. Ans Licht der Öffentlichkeit gelang dieser Sachverhalt im Sommer 2007 durch einen Artikel des Observer, an den sich al-Rawi gewandt hatte. Denn der Ex-Informant fühlte sich vom Inlandsgeheimdienst betrogen. „Ich half dem MI5. Meine Belohnung: Brutalität und Gefängnis“ titelte das Blatt anschließend. (6)
Französische Beamte warfen der Regierung in London vor, es erlaubt zu haben, dass Qatada nach den Anschlägen des 11. September „verschwinden“ konnte. Das Verhalten der britischen Strafverfolger sorgte bei den französischen Kollegen für solchen Unmut, dass diese Anfang 2002 die Presse von ihrer Überzeugung in Kenntnis setzten, bei Qatada handele es sich um einen MI5-Agenten. (7) Schließlich wurde der Jordanier im November 2002 doch noch in Großbritannien inhaftiert und durchlief seitdem eine nicht enden wollende Justiz-Odyssee. Im März 2005 wurde er das erste Mal auf Kaution entlassen, ohne dass es bis dahin zu einer Anklage gekommen war.
Ein Gericht hatte Qatadas Freilassung angeordnet, da die unbegrenzte Inhaftierung des Predigers ohne Verfahren gegen die Menschenrechte verstoße.
Im August desselben Jahres wurde er dann in der Absicht inhaftiert, nach Jordanien ausgewiesen zu werden. In dem arabischen Land war er in Abwesenheit zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Im April 2008 entschied das zweithöchste britische Berufungsgericht, dass eine Auslieferung nach Jordanien gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen würde, da das dortige Urteil möglicherweise auf Aussagen beruhe, die unter Folter zustande gekommen waren. Einen Monat später wurde Qatada erneut unter Kaution auf freien Fuß gesetzt. Ein halbes Jahr später, im November 2008, entschied eine Berufungsinstanz, dass er doch nach Jordanien ausgeliefert werden könne. Dieses Urteil wurde wiederum im Januar dieses Jahres vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgehoben und der Jordanier Mitte Februar wieder unter strengen Auflagen in die Freiheit entlassen. Vor zwei Wochen wurde er wieder inhaftiert. Er könne nun nach Jordanien deportiert werden, da die dortige Regierung zugesichert hätte, ihren Landsmann im Einklang mit den Menschenrechten zu behandeln, so die britische Innenministerin Theresa May. (8) Ob die Odyssee damit ein Ende gefunden hat, bleibt abzuwarten. Dass es zu dem von der AQMI geforderten Austausch kommen wird, ist allerdings sehr unwahrscheinlich.
Anmerkungen
(1) http://www.dailymail.co.uk/news/article-2137229/Al-Qaeda-offer-British-hostage-captured-Mali–hate-cleric-Abu-Qatada-let-loose.html
(2) http://www.independent.co.uk/news/uk/crime/cleric-abuqatadabranded-truly-dangerous-6290862.html
(3) http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/3562695.stm
(4) http://tinyurl.com/7p7xr6u
(5) ebd.
(6) http://www.guardian.co.uk/world/2007/jul/29/usa.guantanamo
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(7) http://www.guardian.co.uk/uk/2002/feb/24/religion.september111
(8) http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/defence/9209676/Hate-preacher-Abu-Qatada-can-be-deported-Home-Secretary-says.html