Schmutzige Bombe oder schmutziges Gerede?
Ohne Prüfung oder Beweise des Gegenteils hat der Westen Russlands Befürchtung, die Ukraine könnte eine „schmutzige Bombe“ einsetzen, als „durchschaubare Lüge“ abgetan. Stattdessen wurde Russland ermahnt, nicht mit derlei Falschbehauptungen eine weitere Eskalation im Konflikt mit der Ukraine herbeizuführen. Dabei waren es die Ukraine und die USA selbst, die kürzlich ein „Armageddon“ heraufbeschworen hatten, für das nicht einmal die US-Geheimdienste Anzeichen sahen.
Im Krieg der Narrative, der den Ukraine-Krieg begleitet, ist ein neuer Höhepunkt erreicht, der einmal mehr die westliche Hybris zeigt. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte am Sonntag seine Amtskollegen in Großbritannien, Frankreich, der Türkei und den USA telefonisch darüber in Kenntnis gesetzt, Russland habe Grund zur Annahme, dass die Ukraine den Einsatz einer „schmutzigen Bombe“ auf eigenem Territorium plane, den sie Russland in die Schuhe schieben wolle. Als „schmutzige Bombe“ wird ein konventioneller Sprengkörper bezeichnet, der radioaktives Material in der Umgebung verteilt. Während die Explosion selbst vergleichsweise wenig Schaden anrichtet, kann durch die Verteilung des radioaktiven Materials aber beispielsweise das Wasser verunreinigt werden.
Die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti hatte am Sonntag unter Verweis auf „vertrauenswürdige Quellen in verschiedenen Ländern, darunter in der Ukraine“ berichtet, dass Kiew auf seinem Territorium eine Provokation vorbereite, die mit der Zündung einer „schmutzigen Bombe“ verbunden sei. „Ziel der Provokation ist es, Russland des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz zu beschuldigen und damit eine starke antirussische Kampagne in der Welt in Gang zu setzen, die die Glaubwürdigkeit Moskaus untergraben soll“, so die Agentur. Aus verschiedenen Quellen sei bereits bekannt, dass Kiew unter der Führung westlicher Kuratoren damit begonnen habe, den Plan in die Tat umzusetzen. Ferner nennt die Agentur ein Werk in Scholtyje Wody sowie das Kiewer Institut für Nuklearforschung, die mit der Fertigung der Bombe betraut und bereits fast fertig seien. Die Organisatoren der Provokation rechneten damit, dass im Fall ihrer erfolgreichen Durchführung ein Großteil der Länder äußerst hart auf den „nuklearen Vorfall“ in der Ukraine reagieren würde, Russland die Unterstützung seiner Partner verlöre und der Westen die Frage nach dem Ausschluss Russlands aus dem UNO-Sicherheitsrat neu aufrollen könnte. 1 Hierzu hatte der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba bereits am 22. Oktober getwittert: „Sollte Russland, nachdem es das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine und viele Kriegsverbrechen begangen hat, die weltweit die Lebensmittel- und Energiesicherheit bedrohen, immer noch einen Sitz als ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat einnehmen?“ 2
Die Sorge Schoigus vor dem möglichen Einsatz einer „schmutzigen Bombe“ stieß im Westen auf taube Ohren – offenbar ist es mit den westlichen Überzeugungen unvereinbar, auch nur den Gedanken zuzulassen, ihr Freund und Verbündeter in Kiew könne so etwas tun. In einer Mitteilung machte das britische Verteidigungsministerium deutlich, die Ukraine habe mit Großbritannien und anderen westlichen Staaten keine Aktionen geplant, die zur Verschärfung des Konflikts beitragen können. „Das Verteidigungsministerium wies diese Behauptungen von sich und warnte, dass solche Behauptungen nicht als Vorwand für eine weitere Eskalation benutzt werden sollten.“ Gleichzeitig bekräftigte das Verteidigungsministerium jedoch Großbritanniens weitere Unterstützung für die Ukraine. 3
Ähnliche Töne kamen aus den USA. Man weise Schoigus „offensichtlich falsche Behauptungen“, die Ukraine wolle eine „schmutzige Bombe“ einsetzen, zurück. Die Welt durchschaue jeglichen Versuch, diese Behauptung als Vorwand für eine Eskalation zu nutzen. Gemeinsam mit Frankreich haben Großbritannien und die USA zudem ein Statement veröffentlicht, in dem es hieß, sie alle würden Russlands „offensichtliche Falschbehauptung“, die Ukraine bereite den Einsatz einer „schmutzigen Bombe“ vor, zurückweisen. 4
Wie nicht anders zu erwarten, bestritt die ukrainische Führung etwaige Pläne zum Einsatz einer solchen Bombe und beschuldigte Russland einmal mehr, eine neuerliche Eskalation herbeiführen zu wollen. In einer Fernsehansprache sagte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskyj: „Wenn der russische Verteidigungsminister ein Telefonkarussell veranstaltet und ausländische Minister anruft, um ihnen von der sogenannten ‘schmutzigen Bombe’ zu erzählen, dann verstehen alle sehr gut, wer die Quelle von all dem Schmutz ist, den man sich in einem Krieg nur vorstellen kann.“ 5 Der ukrainische Außenminister Kuleba twitterte, die russischen „Lügen“ über eine angebliche „schmutzige Bombe“ seien „so absurd, wie sie gefährlich sind“. Die Russen würden oft andere dessen beschuldigen, was sie selbst planten, fügte er hinzu. 6 Die Lüge, die Ukraine plane den Einsatz einer „schmutzigen Bombe“, sei ein gewohntes Element der Kreml-Taktik, sagte der ukrainische Verteidigungsminister Aleksej Resnikow. Russische Verbrecher würden versuchen, das Opfer ihrer Aggression präventiv des eigenen Verbrechens zu bezichtigen. 7
Westliche Doppelstandards
Die Reaktion des Westens ist aus mehreren Gründen bemerkenswert, wenn auch nicht unbedingt erstaunlich. Zum einen scheint sich niemand die Mühe gemacht zu haben, zu überprüfen, ob Schoigus Sorge berechtigt sein könnte. Stattdessen wurde sie in der gemeinsamen Erklärung der USA, Großbritanniens und Frankreichs prompt als „leicht durchschaubare Lüge“ abgetan. 8 Wie der ukrainische Journalist Anatolij Scharij unterstreicht, wurden dabei weder irgendwelche Argumente Schoigus erwähnt, noch mögliche Gegenargumente zur Entkräftung seiner Warnung präsentiert. 9 Die Ukraine und der Westen sind sich einig: Schoigus Anrufe bezüglich einer „schmutzigen Bombe“ hatten zum Ziel, die Beziehungen zwischen der Ukraine und der NATO zu schwächen und den Boden für eine neuerliche Eskalation des Konflikts zu bereiten, was diese einstimmig verurteilten. 10
Bemerkenswert ist hierbei nicht nur die Tatsache, dass ohne eine Überprüfung die automatische Übernahme des ukrainischen Narrativs durch den Westen erfolgte, sondern auch die Warnung an Russland, es solle nicht mit derlei Behauptungen an die Weltöffentlichkeit gehen und damit zur Eskalation beitragen. Bemerkenswert deswegen, weil vor wenigen Wochen genau das von der Ukraine und dem Westen veranstaltet wurde: Die Aussage des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Russland werde zu allen zur Verfügung stehenden Mitteln greifen, wenn seine territoriale Integrität bedroht wäre, wurde im Handumdrehen zu „Putins Atomdrohung“, „Putin droht mit Atomwaffen“, „Atomkrieg Putins in der Ukraine“ und ähnlichen Schlagzeilen in den westlichen Medien.
Genährt wurden diese Spekulationen durch wie zufällig platzierte „Warnungen“ von US-Präsident Joe Biden vor einem drohenden „Armageddon“, obwohl selbst die US-Geheimdienste mitgeteilt hatten, es gäbe keinerlei Hinweise darauf, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen jetzt oder in absehbarer Zeit plane. 11 Der ukrainische Präsident Selenskyj tat sein Übriges mit der Forderung, die NATO müsse mit einem Präventivschlag dem russischen Atomangriff zuvorkommen. 12 Bis heute hat es weder Hinweise auf entsprechende russische Pläne gegeben, noch hat Russland einen nuklearen Angriff ausgeführt. Im Endeffekt haben wir aber einerseits die von Staatschefs, ranghohen Politikern und Medien als durchaus realistische Sorge präsentierte und breit diskutierte Gefahr eines russischen Atomschlags und andererseits die sofort als Lüge und Provokation ausgelegten Anrufe des russischen Verteidigungsministers bei einer Handvoll Amtskollegen mit der Sorge, die Ukraine könnte eine „schmutzige Bombe“ einsetzen.
Wer hat etwas davon?
Für die Beobachter und Berichterstatter ist es momentan unmöglich, zu beurteilen, ob an Schoigus Befürchtungen etwas dran ist. Aber können denn die westlichen Unterstützer der Ukraine das wissen, noch am selben Tag? Wenn der Wahrheitsgehalt einer Aussage unklar und von außen nicht zweifelsfrei überprüfbar ist, stellt sich die Frage: Cui bono? Wem nutzt die Verbreitung dieses Narrativs? Hat der russische Verteidigungsminister gedacht, wenn er seine Amtskollegen in Großbritannien, Frankreich, der Türkei und den USA anruft und ihnen seine Befürchtung mitteilt, die Ukraine könnte eine „schmutzige Bombe“ einsetzen und es anschließend Russland in die Schuhe schieben, würden die NATO-Länder umgehend ihre Unterstützung für die Ukraine einstellen? Oder zumindest die einseitige Vorstellung von Gut (Ukraine) und Böse (Russland) auf den Prüfstand stellen? So viel Naivität kann man Schoigu nicht unterstellen. Die Reaktionen aus dem Westen, wie sie erfolgt sind, belegen einmal mehr, dass sich hier nichts bewegt. Stattdessen beeilten sich der ukrainische Präsident und seine Freunde im Westen zu behaupten, Russland suche mit diesem Schachzug nach einem Anlass, die nächste Eskalationsstufe zu zünden. Schoigus Warnung davor, die Ukraine könnte eine „schmutzige Bombe“ einsetzen wollen, lese sich wie russische Grundlagenarbeit an einer False-Flag-Operation, kommentierte die Verteidigungsexpertin Dara Massicot von der RAND-Corporation via Twitter. 13 Insgesamt betrachtet steht Russland nun nicht nur als Aggressor da, sondern auch als Lügner, zudem kein besonders guter.
Auf der anderen Seite hat Schoigus Warnung Selenskyj einen willkommenen Anlass geliefert, Russland zu unterstellen, zur weiteren Eskalation beizutragen, und sich einmal mehr des Beistands des Westens zu versichern. Zudem forderte Selenskyj eine „harte“ Reaktion des Westens. 14 Unabhängig davon, ob die Ukraine an „schmutzigen Bomben“ baut oder entsprechende Pläne dafür hat, oder nicht: Wenn sie ein solches Gerücht in Umlauf gebracht und dafür gesorgt hätten, dass Russlands Regierung ihm Glauben schenkte, wäre das ein äußerst gelungener Schachzug gewesen. Denn im Krieg der Narrative geht es nicht um Tatsachen, sondern um Vermarktung, und in Sachen PR macht die Ukraine seit Beginn des Krieges die wesentlich bessere Figur als Russland, wie der ukrainische Journalist und YouTuber Anatolij Scharij in einem seiner vielen Kommentare zum Thema jüngst unterstrich. In dem aktuellen Video zur möglichen Existenz einer „schmutzigen Bombe“ sagt Scharij, „es gibt keinen Rauch ohne Feuer“. Er ist sich sicher, dass es die Bombe oder entsprechende Pläne sehr wohl gibt. 15
Quellen:
1https://ria.ru/20221023/provokatsiya-1825967691.html
2https://twitter.com/DmytroKuleba
3https://twitter.com/DefenceHQ/status/1584200202948612096
4https://www.yahoo.com/now/u-uk-france-release-joint-092200559.html?guce_referrer=aHR0cHM6Ly93d3cuZ29vZ2xlLmNvbS8&guce_referrer_sig=AQAAAAJ6nw4fXqI_X_ZRUiKma1QNOSWyPFzuALFWrXxajkVm7RVra0Y4P5b55INeFBmRiiyvQzcJK3bVsJUyKOrSaiq5qg4X65OAC4J9NB8ZS-KY-EFSJeH6d09-LWeS6KE9uO2J9EJaD3Fn-9foLQ3osBSs0IPhie8c_qYE9HzWdlTg
5https://www.rbc.ua/ukr/news/brudna-bomba-shoygu-rozpoviv-svoyi-vigadki-1666556826.html
6https://twitter.com/DmytroKuleba/status/1584201364259115008
7https://www.rbc.ua/ukr/news/brudna-bomba-shoygu-rozpoviv-svoyi-vigadki-1666556826.html
8https://www.washingtonpost.com/world/2022/10/24/russia-ukraine-war-latest-updates/?utm_campaign=wp_main&utm_source=twitter&utm_medium=social
9https://www.youtube.com/watch?v=Iq9XXgw1zcg
10https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/schmutzige-bombe-vorwurf-russland-ukraine-krieg-100.html
11https://www.rnd.de/politik/joe-bidens-armageddon-warnung-beruht-nicht-auf-neuen-geheimdienstinfos-E33YG6NYKQDW2E3RXW4F325L6I.html
12https://www.rnd.de/politik/russischer-atomwaffeneinsatz-selenskyj-spricht-von-praeventivschlaegen-kreml-warnt-vor-weltkrieg-TDMSCUMHBTDJGJW6ZXGJEHU43E.html
13https://www.merkur.de/politik/russland-ukraine-krieg-schoigu-bombe-atom-putin-cherson-damm-false-flag-vorwuerfe-check-91869770.html
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14https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/schmutzige-bombe-vorwurf-russland-ukraine-krieg-100.html
15https://www.youtube.com/watch?v=Iq9XXgw1zcg