Kommentar

Putins Ende?

Fragezeichen in Überschriften sind ein No-Go. Das lernt jeder Journalist im ersten Praktikum. Allenfalls bei Kommentaren darf man sich dieses Zeichen erlauben. Ich mache angesichts der aktuellen geopolitischen Turbulenzen ausnahmsweise davon Gebrauch.

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Wladimir Putin im Interview mit Tucker Carlson, Februar 2024
Foto: kremlin.ru, Lizenz: CC BY, Mehr Infos

Fragezeichen in Überschriften sind ein No-Go. Das lernt jeder Journalist im ersten Praktikum. Allenfalls bei Kommentaren darf man sich dieses Zeichen erlauben. Ich mache angesichts der aktuellen geopolitischen Turbulenzen ausnahmsweise davon Gebrauch.

Das Wochenende vom 6. bis 8. Dezember 2024 wird jedenfalls in puncto Staatsstreich in die Geschichtsbücher eingehen. Es gab gleich zwei davon. Am Freitag, den 6. Dezember um 15 Uhr unterbricht das rumänische Verfassungsgericht die Stichwahl zum Präsidenten, die für AuslandsrumänInnen in den Botschaften des Landes bereits begonnen hatte. Gleichzeitig annulliert das Gericht den ersten Wahlgang, in dem der rechtsnationale NATO-Kritiker Calin Georgescu den Sieg vor einer farblosen Liberalen davongetragen hatte. Umfragen hatten ergeben, dass Georgescu die besseren Karten in der Stichwahl für das höchste Amt im Staate hatte und gewinnen würde. Seine kompromisslose und laut vor sich hergetragene Gegnerschaft zur NATO und insbesondere zu den Waffenlieferungen an die Ukraine waren offensichtlich der Grund, warum das rumänische Verfassungsgericht, nach Zuruf des amtierenden Präsidenten Klaus Johannis, diesen Staatsstreich durchführte. Der deutsch-stämmige Johannis hatte den Richtern angebliche Geheimdienstinformationen vorgelegt, die beweisen sollen, dass die erste Runde der Präsidentenwahlen von russischer Seite beeinflusst worden war. TikTok und andere Kanäle wären vom Kreml unterwandert gewesen. Mit anderen Worten: es fehlte die NATO- und EU-Kontrolle über den politischen Diskurs in Rumänien. Also musste per Staatsstreich nachgebessert werden. Brüssel schwieg folgerichtig zur richterlichen Zerschlagung des Rechtsstaates und der demokratischen Grundlagen Rumäniens.

In den Morgenstunden des 8. Dezember erfolgt dann der Staatsstreich in Syrien, in diesem Fall bewaffnet. Kämpfer aus der Islamisten-Hochburg Idlib nahmen in wenigen Tagen das Land ein. Über einen Korridor zur Türkei waren sie jahrelang versorgt und aufgerüstet worden. Ihr Anführer mit dem Kampfnamen Abu Mohammed al-Dscholani baute seit 2012 die Al-Nusra-Front auf, die von der UNO, der USA und der EU als Terrororganisation gelistet war. Den Sturz von Langzeitpräsident Baschar al-Assad nahm die westliche Staatengemeinschaft zum Anlass, aus dem ehemals gesuchten Terroristen einen gefragten Rebellenführer zu machen. Seine bärtigen Mitkämpfer von der „Hayat Tahrir Al-Sham“ (HTS) genießen ab sofort hohes Ansehen in den europäischen Staatskanzleien – von Annalena Baerbock bis EU-Kommissarin Ursula von der Leyen. Die mit dem Abgang Assads für jeden sichtbar gewordene Schwächung Russlands trug zum abrupten Sinneswandel bei. CNN-Korrespondentin Jomana Karadsheh war in Damaskus unmittelbar zur Stelle, band sich ein Kopftuch um und bot dem HTS-Führer, auf den in den USA ein 10-Millionen-Kopfgeld ausgesetzt ist, eine Plattform zur Darstellung seiner neuen, für den Westen brauchbaren Identität. Tags darauf stießen israelische Truppen – erstmals seit 1974 – im Süden auf syrisches Staatsgebiet vor und US-Kampfflugzeuge intensivierten ihre Angriffe auf Ziele im Land.

Die beiden Staatsstreiche in Rumänien und Syrien führten dem Kreml in nur einem Wochenende vor Augen, wie schnell und effektiv westliche Dienste – seien es Verfassungsgerichte, Aufklärungsabteilungen oder Militärs – gegen russische Interessen in Stellung gebracht werden können. Parallel dazu brachte der russische Auslandssender RT einen Bericht über die Flucht von Assad nach Moskau. Bebildert war dieser mit einem Archivfoto, auf dem der geschasste Assad lächelnd neben dem russischen Präsidenten Wladimir Putin steht – ein fatales Signal. Es sollte wohl untermauern, dass die Redaktion von RT zumindest froh darüber ist, die Familie von Assad in Sicherheit zu wissen.

Von Bergkarabach bis Tiflis

Das geopolitische Kartenhaus rund um den Kreml begann freilich bereits früher zusammenzubrechen. Im September 2023 eroberten aserbaidschanische Streitkräfte, auch sie mit zumindest technischer Unterstützung der Türkei, die armenische Enklave Bergkarabach und zwangen 100.000 Armenier zur Flucht ins Kernland. Der drei Jahre zuvor unter Vermittlung Russlands zustande gekommene Waffenstillstand war damit obsolet geworden. Der Gesichtsverlust des Kreml, der damit seine Rolle als Garantiemacht armenischer Interessen in der Region aufgegeben hatte, war enorm … und führte im Juni 2024 dazu, dass der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan ankündigte, aus der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS), der Jerewan mit Moskau militärpolitisch verband, aussteigen zu wollen.

Bei den Präsidentschaftswahlen in Moldawien wiederum, deren Stichwahl am 3. November 2024 stattfand, war der Kreml nicht in der Lage, den nötigen Druck Richtung Chisinau aufzubauen, um ausreichend Möglichkeiten für die Stimmabgabe der in Russland lebenden Auslandsmoldauer zur Verfügung zu stellen. Während für die 220.000 Auslandsmoldauer, die in der EU leben, in jedem EU-Mitgliedsstaat mehrere Orte bereitstanden, um ihre Stimme abzugeben, gab es in Russland nur in Moskau die Möglichkeit, an der Wahl teilzunehmen. Die Auslandsmoldauer im Westen entschieden den Ausgang für die Russland feindlich gesinnte Maia Sandu. Moskau erkannte die Wahl nicht an.

In Georgien wiederum baut sich seit den Parlamentswahlen von Mitte Oktober 2024 das Szenario einer vom Westen gesponserten Farbrevolution gegen den Wahlsieger auf; und auch hier sieht der Kreml keine Möglichkeit, der gewählten Partei „Georgischer Traum“ für die ganze Welt sichtbar den Rücken zu stärken, sondern hält sich, ganz anders als Brüssel mit seiner neuen EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas, nobel zurück. Die in Russland wegen „Schändung von sowjetischen Kriegerdenkmälern in Estland“ zur Fahndung ausgeschriebene frühere estnische Ministerpräsidentin Kallas stellte sich in ihrer neuen Funktion als oberste EU-Außenpolitikerin sogleich an die Seite der Anti-Regierungs-Demonstranten, deren militantes Auftreten sie als „demokratisch“ bezeichnete.

Es steht und fällt mit der Ukraine

Bergkarabach/Armenien, Moldawien, Georgien, Rumänien und Syrien. In all diesen Ländern steht die russische Außen- und Geopolitik auf dem Prüfstand. Und sie ist überall in der Defensive. Bleibt das größte und wichtigste Land, um dessen Ausrichtung gerade mörderisch gekämpft wird: die Ukraine. Es scheint, dass der Donbass alle Kräfte Russlands bindet, für den Kreml ein alarmierendes Schwächezeichen.

Aber Schwäche kann sich der oberste Mann im Kreml nicht leisten. Er war es dereinst im Jahr 2000, als er den Präsidentenstab von Boris Jelzin übernahm, der das Riesenland stabilisierte, den bereits im Gang befindlichen Zerfallsprozess mit seinen nationalen und religiösen Fliehkräften stoppte. Seit dem Wochenende vom 6. bis 8. Dezember 2024 sieht es nicht mehr danach aus, dass ihm das weiterhin gelingen muss. Der Durchmarsch der Islamisten in Syrien gefährdet zum einen die russische Marinebasis in Tartus, die einzige im Mittelmeer; ohne sie kann die in Sewastopol auf der Krim verbliebene russische Marine nicht viel mehr, als im Schwarzen Meer ihre Kreise ziehen. Zum anderen wird die Islamisierung Syriens unweigerlich auch Auswirkungen auf den kaukasischen Süden der Russländischen Föderation haben. Warum sollte sich beispielsweise der tschetschenische Führer Ramsan Kadyrow weiter in den Dienst des Kreml stellen, wenn er dabei live zusehen kann, wie Putin seine Verbündeten im Ausland fallen lässt bzw. aus einer Schwäche heraus fallen lassen muss?

Seit 24 Jahren steht Wladimir Putin an der Spitze des größten Landes der Welt. Wenn rundherum Verbündete wegbrechen und mögliche neue Allianzen von Brüssel und Washington im Keim erstickt werden, dann werden sich manche in Moskau oder auch anderswo fragen, ob es nicht an der Zeit ist, das Zugpferd zu wechseln.

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Dass Oppositionelle wie Michail Chodorkowski, der schon seit über zehn Jahren im Genfer Exil von politischer Macht träumt, an die Schaltheben gelangen, ist eher unwahrscheinlich. Chodorkowski ist verbraucht und ausgelaugt. Eher schon könnten sich im Inneren des russischen Machtapparates nationaler denkende Kräfte erfolgreich zu Wort und Tat melden, die einen radikaleren Kurs einfordern, zuvorderst gegen Kiew, ganz nach dem Motto: In der Ukraine Stärke zeigen. Wenn diese Kräfte die Oberhand gewinnen, sind die Tage von Wladimir Putin gezählt.

Von HANNES HOFBAUER ist zuletzt erschienen: “Im Wirtschaftskrieg. Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland” (Promedia Verlag).

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