Wenn Neutralität verdächtig wird
Es ist ein Kampf um die Deutungshoheit: Wer beschießt das AKW Saporischschja in der Ukraine? Die Russen, die es doch besetzt halten? Oder die Ukrainer? Droht eine Aktion unter falscher Flagge? Die Medien geben sich neutral. Sind sie es wirklich? Die Hintergrund-Medienrundschau vom 20. August 2022
(Redaktion/20.8.22) Alles hängt miteinander zusammen. Ist verbunden. Heute würde man sagen: vernetzt. Die Komplexität der Welt muss vereinfacht werden. Das tun wir alle jederzeit. Anders geht es nicht. Und das machen natürlich auch die Medien. Gerade die im Mainstream, wobei wir uns davon auch nicht ausnehmen wollen. Denn, wie gesagt, ohne Komplexitätsreduktion geht es nicht. Manchmal aber sind die Manipulationen zu offensichtlich, die damit einhergehen. Zum Beispiel bei den aktuellen AKW-Fragen.
Während in der Ukraine das AKW Saporischschja unter Beschuss steht – die Frage, wer verantwortlich ist, diskutieren wir in dieser Medienrundschau gleich ausführlich – wird in Deutschland über eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten diskutiert. Während im Osten also eine Katastrophe droht und im Übrigen die „zivile“ und „militärische“ Nutzung zusammenhängen (Telepolis, 7.8.22), möchten einige hierzulande die Kraftwerke länger laufen lassen. Und unter diesen sind ausgerechnet einige Grüne (Münchener Merkur, 16.8.22). Und damit wäre auch bei uns die Gefahr einer Katastrophe verlängert. Und das, um die Energieversorgung zu sichern, die wegen der Politik der Regierung gefährdet ist. Es hängt also alles zusammen und die Regierung kann sich nicht herausreden, wie es auf beispiellos plumpe Weise gerade das Wirtschaftsministerium auf Twitter versucht (Nachdenkseiten, 17.8.22). Mögliche Lösungen der Energiekrise, beispielsweise die Öffnung von Nord Stream 2 wie zuletzt von Wolfgang Kubicki vorgeschlagen (Freitag, 19.8.22), liegen zu nahe um sie zu ergreifen.
Aber nun zu drängenden Fragen rund um das größte Atomkraftwerk Europas im Süden der Ukraine. Die Medien haben sich dieser Tage überschlagen mit Vorwürfen, es ging um russischen Beschuss der von Russland besetzten Anlage und um Aktionen unter falscher Flagge – die sich beide Seiten vorwerfen. Krieg wird, wir haben es an dieser Stelle bereits mehrfach geschrieben, eben auch auf dem Propaganda-Schlachtfeld ausgetragen. Auf welcher Seite der Mainstream steht, ist dabei klar. Dass er gleichzeitig vorgibt, objektiven Journalismus zu veranstalten, gehört zum Geschäft.
Bei der Tagesschau heißt es zum Beispiel oft: „Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.“ In einem Artikel mit dieser Einschränkung darf dann Selenskyj vor einer atomaren Gefahr warnen, es wird von „Kämpfen rund um das Atomkraftwerk“ gesprochen und davon, dass die Besatzer es auf zynische Weise nutzten (Tagesschau, 14.8.22). Auch beim Spiegel „kommt“ es immer wieder zum „Beschuss“ (Spiegel, 17.8.22, Bezahlschranke). Eine Passivkonstruktion ohne Subjekt. Wer schießt?
Machen wir den Umkehrschluss: Spräche auch nur ein kleiner Teil für die Russen, gäbe es wie auch immer einsetzbare Beweise, stünden sie sofort am Pranger des Mainstreams. Aber die Weste der Helden muss weiß bleiben, oder in Selenskyjs Fall ein olivgrünes T-Shirt an dem klein Blut klebt. Die Tagesschau lässt bewusst weg, dass der Präsident im Video, auf das sich der Artikel stützt, mit etwas verschwurbelten Worten den russischen Soldaten im Kraftwerk mit Angriffen droht (Youtube, 14.8.22). Auch Thomas Röper weist auf dieses Video hin, ergänzt noch etwas zur jüngeren Geschichte und zitiert aus russischen Quellen (Anti-Spiegel, 14.8.22).
Oft eben besonders entlarvend, was der Mainstream weglässt. Wenn wir die eben zitierten Aussagen Selenskyjs kennen und mit dem Wissen noch einmal in den Text der Tagesschau-Redaktion schauen, lesen wir die Gefahrenmeldung des ukrainischen Präsidenten etwas anders. Denn zu Beginn wird er mit den Worten zitiert, dass „die radioaktive Bedrohung für Europa so erhöht [ist], wie es sie nicht einmal zu den schwierigsten Augenblicken der Konfrontation in den Zeiten des Kalten Krieges gab“. Was fehlt da wieder? Genau, das Subjekt. Okay, für den Grammatiker wäre das die „radioaktive Bedrohung“. Aber die droht ja nun nicht von allein (wobei ein AKW an sich bedrohlich ist, siehe oben). Insofern: Für die Bedrohung sind in diesem Fall die Ukrainer verantwortlich, Selenskyj droht höchstselbst.
Können wir uns so festlegen? Ist es logisch, dass die Russen nicht sich selbst beschießen? Schließlich haben sie das Kraftwerk seit Anfang März besetzt. Auch wir können uns kein letztgültiges Urteil erlauben. Aber wer kann das schon. Wichtig ist die Logik, auf die auch Tobias Riegel von den Nachdenkseiten verweist:
Dass Kiew eine Strategie des Gegenvorwurfs nutzt, sollte nicht verwundern. Fragwürdig ist jedoch die teils zu beobachtende distanzlose Übernahme dieser Version durch manche große Medien. Meist trifft man in den aktuellen Berichten auf die abgeschwächte Version, nach der sich „beide Seiten gegenseitig“ die Angriffe vorwerfen würden. Eine Gewichtung, welche Vorwürfe welcher Seite aus welchen Gründen plausibler sind, wird oft nicht vorgenommen. Das Ergebnis ist eine weitgehende „Gleichstellung“ der Argumente, ein angebliches „Informations-Patt“, an dem man nichts ändern könne. Die Folge davon wiederum ist eine grobe Verzerrung der mutmaßlichen Situation. (Nachdenkseiten, 16.8.22)
Riegel hat Recht, dass neben der Logik und diversen Indizien zwar vieles für die ukrainische Urheberschaft spricht, sie aber dadurch noch nicht bewiesen ist. Allerdings können die Medien eben auch nicht so tun, als stünden sie – auf einmal übrigens – ganz neutral in der Zuschauerperspektive und schauten zu. Knut Mellenthin kommentiert mit Hinweis auf die russische Besetzung:
Die Behauptung der ukrainischen Seite, Russland würde die Anlage beschießen, ist vor diesem Hintergrund haarsträubend unlogisch. Sie ist Produkt einer unverschämten Propagandakampagne aus Kiew, deren Macher sich einfach darauf verlassen können, dass westliche Medien und Politiker ihr immer blind folgen. (junge Welt, 16.8.22)
Und er ergänzt, dass die Forderung nach einer Entmilitarisierung schon deshalb fadenscheinig ist, weil die russischen Truppen dort täglich Angriffe abwehrten. Klar ist, dass der Spiegel im Juli bereits den Beschuss des Atomkraftwerkes durch die Ukrainer vermelden musste. Darauf und auf die weitere Entwicklung bis Anfang August schaute auch der Anti-Spiegel, wie üblich aus russischer Perspektive (Anti-Spiegel, 7.8.22), hinweisen möchten wir auch auf die Analyse von Rainer Rupp (RT, 17.8.22), der auf weitere manipulative Berichte hinweist.
Wenn wir es für unlogisch halten, dass die Russen sich selbst beschießen, müssen wir noch die umgedrehte Logikfrage klären. In diesem Fall hat sie der Tagesspiegel aufgeworfen, denn nach seinen Angaben (unter Bezug auf eine Recherche der New York Times) plant Putin „angeblich“ – so steht stark einschränkend es in der Überschrift – eine gezielte Reaktorkatastrophe. Da stimmt also das Narrativ der bösen Russen wieder. Und warum sollten auch die guten Ukrainer das Böse tun? Oder in den Worten des Tagesspiegels:
Warum die Ukraine ein Interesse daran haben sollte, die Region um Saporischschja und Dnipro, zwei der größten Städte des Landes, radioaktiv zu verseuchen, erklärt die russische Propaganda nicht. Umgekehrt schürt Putin seit Kriegsbeginn konsequent westliche Ängste vor der atomaren Gefahr. (Tagesspiegel, 19.8.22)
Dem könnten wir entgegen halten, dass zum einen die Regierung mit ihrer Armee sowie weiteren bewaffneten Truppen seit Jahren Landsleute im Donbass und auch auf der Krim beschießen, deren Gebiete sie eigentlich wieder integrieren wollen. Auf den ersten Blick auch unlogisch. Und zum anderen könnte man auf die verzweifelte Lage der Ukrainer verweisen, die im Krieg gegen Russland nichts mehr brauchen als eine stärkere Unterstützung des Westens. Eine False-Flag-Operation, wie sie dieser Tage beide Seiten einander vorwerfen, scheint demnach eher im Interesse der Ukrainer zu sein. Dafür spricht noch ein weiteres wichtiges Motiv, das eine Rolle spielen wird: Die Stromproduktion des Kraftwerks selbst. Florian Rötzer schreibt in seiner Analyse:
Da Russland zu beabsichtigen scheint, das AKW an das russische Stromnetz anzuhängen und damit die besetzten Gebiete in Cherson und Saporischschja sowie die Krim zu versorgen, während größere Gebiete in der Ukraine nicht mehr beliefert werden und die Überschüsse nicht wie geplant nach Europa verkauft werden können, sind Störaktionen der Ukraine nicht unwahrscheinlich. Russland behauptet, vermehrt Teile von Nato-Waffen in der Umgebung des AKW gefunden zu haben. (Overton-Magazin, 19.8.22)
Davon ist im Mainstream nichts zu lesen. Aber ein Atomkraftwerk ist eben nicht nur eine stetige Gefahr sondern es produziert auch Strom. Und der ist begehrt. Ende Juli bot Selenskyj Europa Strom an, schließlich ist das ukrainische Netz seit Beginn des Krieges vom russischen abgekoppelt und ans europäische angeschlossen worden (Tagesschau, 28.7.22).
Wir können uns nicht helfen: In der Gesamtschau der Fakten und Aussagen, die wir hier natürlich nur begrenzt ausbreiten konnten, scheint die Situation deutlich für die russische Version der Geschichte zu sprechen. Denn schließlich befürworten die Russen die Inspektion der internationalen Atombehörde, die die Ukrainer bisher ablehnen – was selbst der Mainstream vermelden musste (Tagesschau, 19.8.22). Im Übrigen hält uns die ganze Diskussion nicht davon ab, den Einsatz eines AKW zu Kriegszwecken in jeglicher Form für falsch zu halten. Nur falls jemand daran zweifeln sollte. Unser Autor Georg Auernheimer hat Anfang August geschrieben:
Schon ein längerer Stromausfall, im Krieg nie ganz auszuschließen, kann bei AKWs zum Versagen der Kühlsysteme und damit zur Kernschmelze führen. Die Ukraine betreibt 15 Reaktorblöcke an vier Standorten. So gesehen, war der Angriff auf das Land unverantwortlich. (Hintergrund, 1.8.22)
Diese Position vertritt auch Anika Limbach im Freitag und überlegt, ob die absolut notwendigen Verhandlungen um das AKW gar eine Perspektive in Richtung Frieden eröffnen könnten?
Eine Schutzzone wäre ein wichtiger Schritt, doch letztlich nur ein Kompromiss. Dass vor allem die Ukraine und Russland unter einem Super-GAU in Saporischschja leiden würden, kann sie bei direkten Verhandlungen vielleicht zu der Einsicht zwingen, wie erstrebenswert das Ende dieses Krieges ist. (Freitag, 17.8.22)
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Krieg ist falsch, der Frieden nötig. Da sind wir einer Meinung mit Limbach und mit Friedensforscher Hans-Georg Erhardt, der die Logik des Krieges durchbrechen will (Freitag, 14.8.22). Das hat in Deutschland, zumindest im Mainstream von Politik, Medien und Gesellschaft derzeit wenig Chancen, wie die Reaktion auf die anfangs zitierte Forderung Kubickis nach Öffnung von Nord Stream 2 zeigt.
Und damit wären wir auch schon wieder am Ende dieser Medienrundschau. Sie hinterlässt wieder einmal ein bedrückendes Gefühl, ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Das können wir nicht ändern. Wir empfehlen allerdings, auch mal im wörtlichen wie im übertragenen Sinne abzuschalten, in die Sonne zu gehen, an die See oder an den See zum Baden zu fahren oder aufs Rad zu steigen. Fehlen wird übrigens kommende Woche – aus organisatorischen Gründen – eine neue Medienrundschau. Wir sind Anfang September wieder für Sie da. Bleiben Sie uns gewogen, schauen Sie sich auch unsere anderen Artikel an und schreiben Sie uns gerne an redaktion@hintergrund.de.