Vierzig Jahre nach Abzug der Amerikaner bleibt der Fluch: Agent Orange
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Von REDAKTION, 23. Januar 2013 –
Es ist kalt in Hanoi. Eingepackt in wattierte Jacken und Schals kauern die jungen Leute auf Matten in einem kleinen Raum, Helfer sind dabei, um sie zu betten, zu heben, zu füttern. Sie warten im „Friedensdorf“ in Thanh Xuan bei Hanoi auf den Arzt, Dr. Vu Son Ha. Er deutet auf seinen nächsten Patienten, einen 22-Jährigen mit sehr großem Kopf und hervortretenden Augen. „Sein Vater war Soldat, er kämpfte in Südvietnam.“ Das Dorf, 1991 mit deutscher Hilfe gegründet, ist ein Heim für mehr als 100 Behinderte.
Für den jungen Mann ist der Fronteinsatz seines Vaters noch 40 Jahre nach dem Rückzug der Amerikaner aus Vietnam ein Fluch. Der Vater war „Agent Orange“ ausgesetzt, einem dioxinhaltigen Entlaubungsmittel, das die Amerikaner einsetzten, um die im Wald gelegenen Verstecke, Versorgungs- und Fluchtwege der kommunistischen Guerilla FNL („Vietcong“) effektiver bombardieren zu können. Auch wurden Ackerflächen besprüht, um den feindlichen Kämpfern die Nahrungsgrundlage zu entziehen. Die gesamte Bevölkerung der betroffenen Gebiete wurde somit unterschiedslos zum Angriffsziel.
Insbesondere die nachhaltige Zerstörung der Reisproduktion war von Anbeginn Teil der militärischen Aufstandsbekämpfungsstrategie. Zu diesem Zweck wurde auch eine Variante des Wirkstoffs namens Agent Blue entwickelt. Ungefähr 40 Prozent der Sprüheinsätze richteten sich gegen die landwirtschaftliche Produktion.
Nicht nur die unmittelbaren Folgen waren verheerend: Hunderttausende Menschen wurden krank. Prostatakrebs, Lungenkrebs, Hautkrebs, Leberkrebs, Leukämie und anderes listet das Gesundheitsministerium als Folgen auf, sowie schwere Schäden bei Babys im Mutterleib. Selbst in der zweiten und dritten Generation werden noch behinderte Kinder geboren – mindestens 150 000 bis heute.
Insgesamt trugen zwei Millionen Menschen Schäden durch den Einsatz der giftigen Chemikalien davon. Im Vietnamkrieg ließen 58 000 US-Soldaten ihr Leben. Eine verhältnismäßig geringe Zahl verglichen mit dem Blutzoll, der den Vietnamesen abverlangt wurde. Rund zwei Millionen vietnamesische Zivilisten wurden im Laufe des Krieges getötet. Hinzu kommen rund eine Million Angehörige der nordvietnamesischen Armee und der südvietnamesischen Guerilla.
Als die Amerikaner am 27. Januar 1973 ihren Rückzug aus dem Krieg im Pariser Abkommen besiegelten, war von den schrecklichen Folgen der Kriegsführung noch keine Rede. Am Pariser Tisch saß als US-Unterhändler der spätere Außenminister Henry Kissinger, der dafür später den Friedensnobelpreis bekam.
Zwei Monate später verließ der letzte US-Soldat das Land. Die Kämpfe endeten aber erst zwei Jahre später, mit dem Einmarsch der Kommunisten in Saigon. Vor 20 Jahren nahmen die USA und Vietnam wieder Beziehungen auf. Inzwischen blüht der Handel, aber Agent Orange bleibt ein ungelöstes Kapitel.
Die US-Armee hatte zwischen 1962 und 1971 mehr als 75 Millionen Liter des Gifts eingesetzt. 4,5 Millionen Menschen lebten in der betroffenen Region. Das unter dem Namen „Ranch Hand“ laufende Entlaubungs-Programm wurde bereits 1961 von John F. Kennedy autorisiert.
Produziert wurde der giftige Wirkstoff von den US-Firmen Dow Chemical und Monsanto. Auch der deutsche Konzern Boehringer Ingelheim war in das Agent Orange Programm involviert und lieferte über 700 Tonnen des Zwischenproduktes Trichlorphenolatlauge an Dow Chemical.
Die US-Regierung erkennt bis heute offiziell nicht an, dass der Gifteinsatz schwere gesundheitliche Folgen hatte. Immerhin helfen die Amerikaner seit dem vergangenen Jahr dabei, verseuchte Erde von dem Gelände eines ehemaligen Militärstützpunktes bei Danang abzutragen. Sie geben dafür 43 Millionen Dollar (32 Millionen Euro).
US-Kriegsveteranen, die auch unter den Agent Orange-Folgen litten und klagten, bekamen wenigstens Geld nach einer außergerichtlichen Einigung. Vietnamesische Opfer gingen bis heute leer aus. „Die USA versuchen, sich ihrer Verantwortung zu entziehen“, sagt Mai The Chinh, Vorstandsmitglied des Verbandes der vietnamesischen Opfer (VAVA). Hilfe gab es für sie bislang nur im Rahmen allgemeiner Entwicklungshilfe: „Seit 1989 haben wir 54 Millionen Dollar gegeben, um Vietnamesen mit Behinderungen zu helfen – unabhängig von der Ursache“, sagt Botschaftssprecher Chris Hodges.
„Die US-Regierung sollte mehr für die Agent Orange-Opfer tun“, sagt die Direktorin des Friedensdorfes, Nguyen Thi Thanh. Sie ist zum Großteil auf Spenden angewiesen, doch kommt seit der Wirtschaftskrise immer weniger Geld herein. Der Staat unterstützt die Opfer mit einer bescheidenen Rente von bis zu 100 Dollar im Monat.
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2009 wurde in Vietnam ein nationaler Gedenktag für die Opfer eingeführt, der sogenannte Orange Day.
(mit dpa)