Viele Tote und Verletzte: Erneut Massaker in Kundus - hat die Bundeswehr auf Demonstranten geschossen?
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Von REDATKION, 18. Mai 2011 –
Bei einer Demonstration vor einem Camp der Bundeswehr in der nordafghanischen Provinzhauptstadt Talokan sind nach afghanischen Angaben am Mittwoch zehn Demonstranten getötet und 50 weitere verletzt worden. Das sagte der Gouverneur der Provinz Tachar, Abdul Dschabar Takwa, am Morgen der Nachrichtenagentur dpa. Später wurden die Zahlen von den afghanischen Behörden nach oben korrigiert. Nun hieß es, es handele sich insgesamt um zwölf Tote und 80 Verletzte.
Der Gouverneur sagte, auch drei afghanische Wachleute am deutschen Lager seien verletzt worden. Die Aufrührer hätten Handgranaten in das Lager geworfen. Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums wurden zwei deutsche Soldaten verletzt, einer leicht, der andere mittelschwer.
Auslöser der Proteste waren Vorwürfe gegen die von der NATO geführte Internationale Schutztruppe Isaf, sie habe in der Nacht zu Mittwoch zwei Frauen und zwei Männer in der Stadt getötet. Der Polizeichef Tachars, Schah Dschehan Nuri, sagte: „Sie waren alle Zivilisten.“ Er verurteilte die Operation, die nach seinen Worten nicht mit afghanischen Sicherheitskräften abgesprochen war. Auch der Gouverneur geht laut Spiegel-online davon aus, dass es sich um Zivilisten handelte. (1)
Die Isaf dagegen behauptete, es handele sich bei den Getöteten um Aufständische. Genauer: um Angehörige der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU). Afghanische und ausländische Truppen hätten die vier – darunter angeblich zwei bewaffnete Frauen – getötet. Nach Angaben der Bundeswehr waren daran „keine Deutschen Kräfte beteiligt.“ (2) Nächtliche Tötungskommandos werden in der Regel von US-Spezialeinheiten durchgeführt.
Am Mittwochmorgen versammelten sich mehrere Hundert Männer in einem Park im Zentrum Talokans. Aufgebrachte Demonstranten riefen Parolen gegen die USA und die afghanische Regierung. An mehreren Stellen in der Stadt waren Schüsse zu hören.
Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums sagte, es habe sich nicht um eine, sondern um zwei Demonstrationen gehandelt: eine in der Ortschaft, eine weitere vor dem Provincial Advisory Team (PAT) Talokan, an der rund 100 Personen beteiligt gewesen wären. Dieser Umstand führe dazu, dass in den Medien unterschiedliche Angaben über die Anzahl der beteiligten Personen sowie unterschiedliche Bilder kursierten.
Die Demonstranten vor dem Bundeswehr-Camp hätten vier Leichen mit sich geführt, bei denen es sich um die in der Nacht zuvor getöteten Personen gehandelt haben soll. Der Vorgang spielte sich laut Bundeswehrangaben „gegen 8 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit (10.30 Uhr afghanische Ortszeit)“ (3) ab. Das PAT ist eine Außenstelle des Regionalen Wiederaufbauteams (PRT) Kundus in der Provinz Takhar. Dort sind derzeit 44 deutsche Soldaten stationiert, so der Regierungssprecher.
Die Bundeswehr verbreitete auf ihrer Homepage die folgende Schilderung des Geschehens: „Polizisten der ANP versuchten zunächst mit Warnschüssen die Demonstration aufzulösen. Gegen 9.50 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit (12.20 Uhr afghanische Ortszeit) bewegte sich die Demonstration aus dem direkten Umfeld des PAT in die Innenstadt. Im Laufe der Demonstration wurden dabei unter anderem auch Geschäfte und Autos im Nahbereich zerstört. Gegen 11.20 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit (13.50 Uhr afghanische Ortszeit) gelang es Demonstranten erneut zum PAT vorzudringen. Beim Wurf von Handgranaten und Molotowcocktails durch die Demonstranten wurden insgesamt sechs Menschen verwundet. Dabei handelt es sich um zwei Deutsche Soldaten, von denen einer mittel und einer leicht verwundet wurde, sowie um vier afghanische Wachmänner. Der Zustand der Soldaten ist stabil und die erste medizinische Versorgung im PAT ist gewährleistet.“ (4)
Über die Anzahl verletzter oder getöteter Demonstranten schwieg sich die Bundeswehr gegen Mittwochvormittag zunächst noch aus. Vermutlich seien 4 Demonstranten getötet und 10 verletzt worden, sagte ein Sprecher von Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) am frühen Nachmittag in Berlin. Die afghanischen Behörden sprachen zu diesem Zeitpunkt dagegen schon von zwölf getöteten Demonstranten und über 80 Verletzten.
Ein Demonstrant namens Abdul Khalik, der Verletzte ins Krankenhaus brachte, berichtete, zunächst habe die Polizei auf die Demonstranten geschossen. Dann seien deutsche Soldaten aus dem Camp gekommen. Khalik machte keine Angaben dazu, ob auch die Bundeswehr das Feuer eröffnete. Er sagte, manche der rund 2.000 Demonstranten seien bewaffnet gewesen. Die Polizei schoss nach Khaliks Angaben, als Aufrührer eine äußere Absperrung vor dem deutschen Lager in Brand steckten.
Andere Augenzeugen berichteten laut Spiegel-online, „dass sowohl afghanische Polizisten als auch Bundeswehrsoldaten auf Demonstranten geschossen hätten.“ (5) Der Gouverneur wiederum sagte, die deutschen Soldaten hätten in die Luft geschossen, so Spiegel-online. Dass ihre Kugel gleichwohl Menschen getötet haben könnten, wollte er nicht ausschließen. „Die Deutschen haben nicht direkt auf die Demonstranten gezielt“, habe Taqwa gesagt, „trotzdem könnten die Kugeln Menschen getötet und verletzt haben“ (6) Ob Bundeswehrsoldaten für den Tod von Demonstranten verantwortlich seien, wird nach Angaben eines Sprechers der Bundeswehr zur Zeit noch ermittelt, berichtete Spiegel-online. (7)
Am Mittwochnachmittag gegen 15.40 sagte Verteidigungsminister de Maizière am Rande einer Pressekonferenz zur Neuausrichtung der Bundeswehr, dass die Lage noch unklar sei. Weitere Demonstrationen seien angekündigt worden. Dass deutsche Soldaten auf Demonstranten geschossen haben könnten, wollte er nicht bestätigen, konnte es aber auch nicht ausschließen.
Ein dpa-Reporter in Talokan berichtete, Bundeswehr-Panzerfahrzeuge hätten am Stadtrand Stellung bezogen. Afghanische Soldaten seien in die Stadt verlegt worden.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) erklärte zu dem neuerlichen Massaker im Verantwortungsbereich der Bundeswehr am Mittwoch in Berlin: „Wir erwarten, dass die Verantwortlichen alles in ihrer Macht tun, um die Lage zu beruhigen, damit Demonstrationen nicht eskalieren“.
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Christine Buchholz, Mitglied im Geschäftsführenden Parteivorstand der Linken, stellte das Vorgehen der afghanischen Sicherheitsdienste gegen Demonstranten in eine Reihe mit dem Vorgehen der Diktatoren in Libyen und Syrien. Sie sagte: „Die NATO kämpft in Afghanistan nicht für Demokratie und Menschenrechte, sondern hält eine korrupte, pro-westliche Regierung an der Macht. Ohne die wütenden Proteste der Einwohner von Talokan hätte die deutsche Öffentlichkeit nicht einmal davon erfahren, dass die NATO in der vorherigen Nacht zwei Männer und zwei Frauen getötet hat. Für diese Besatzungsarmee wollen alle Parteien im Bundestag außer der Linken mehr freiwillige Wehrdienstleistende rekrutieren und sprechen dabei von ‚Karrierechancen’
und ‚Attraktivität der Bundeswehr’. Das ist nicht zuletzt angesichts der verletzten Bundeswehrsoldaten Zynismus pur. Unser Mitgefühl gilt all jenen Afghaninnen und Afghanen sowie den Soldatinnen und Soldaten, die Opfer dieser Politik werden. Die Linke ruft dazu auf, die Bundeswehr endlich aus Afghanistan abzuziehen. (8)
(1) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,763296,00.html
(2) http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/!ut/p/c4/NYvBCsIwEET_aDcBpeLNWhCvXmy8bdu1LDRJSVYL4sebH
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(3) http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/!ut/p/c4/NYvBCsIwEET_aDcBpeLNWhCvXmy8bdu1LDRJSVYL4sebHJyBOcy8wQcWB3rLTCox0II9ulGOwwbDNjGwhEysH
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(4) http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/!ut/p/c4/NYvBCsIwEET_aDcBpeLNWhCvXmy8bdu1LDRJSVYL4sebHJyBOcy8wQcWB3rLTCox0II9ulGOwwbDNjGwhEysH
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(5) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,763296,00.html
(6) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,763296,00.html
(7) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,763296,00.html
(8) http://www.pressrelations.de/new/standard/result_main.cfm?pfach=1&n_firmanr_=118384&sektor=pm&detail=1&r=452557&sid=&aktion=jour_pm&quelle=0