Assad-Sturz

Syrien in Trümmern – und was die Medien verschweigen

Nahostkorrespondentin Karin Leukefeld – sie schreibt nicht aus dem bequemen Büro in Deutschland, sondern lebt im Nahen Osten – macht in einem hochaktuellen Bericht deutlich, wie die Medien einmal mehr mit der Unterdrückung wichtiger Fakten die geopolitische Situation einseitig beschreiben und Schuldzuweisungen in die falsche Richtung machen. Vor allem wird die massgebliche Beteiligung der USA und der EU mit ihren Sanktionen am bisherigen wirtschaftlichen Elend in Syrien schlicht verschwiegen.

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Aleppo, Syrien
Foto: Aladdin Hammami; Quelle: Unsplash, Mehr Infos

Wie während des Krieges seit 2011 erklären auch jetzt wieder westliche und westlich orientierte „Qualitäts-Medien“ der Welt, was in Syrien geschieht. Jahre lang haben sie geschwiegen über die Folgen ausländischer Interventionen, über geheime Bewaffnungs- und Ausbildungsprogramme für die bewaffneten Aufständischen ausländischer Geheimdienste. Sie schwiegen über die völkerrechtswidrige Besatzung syrischer Rohstoffe und von syrischem Territorium durch ausländische Truppen. Sie schwiegen über die Auswirkungen weitretchender einseitiger wirtschaftlicher Strafmaßnahmen (Sanktionen) der Europäischen Union, mit denen Syrien und seine Regierung „gebeugt“ werden sollte. Sie schwiegen über die Auswirkungen des einseitig von den USA verhängten „Caesar Gesetzes“, mit dem jede Investition, jeder Handel mit Syrien von den USA kriminalisiert und mit finanziellen Sanktionen bestraft werden konnte. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen, deren Aufhebung von der Mehrheit der Staaten in der UN-Vollversammlung wieder und wieder gefordert und immer wieder von den reichen, westlichen Staaten – auch Deutschland – abgelehnt wurden, lasteten sie dem syrischen Präsidenten Bashar al Assad an.

Nun also erklären besagte Medien der Öffentlichkeit, dass Dschihadistengruppen Damaskus erobert und das „Assad-Regime“ gestürzt hätten. 14 Jahre lang habe Baschar al-Assad „sein halbes Land zerstören“ lassen, „um an der Macht zu bleiben“ heißt es in einer deutschen Tageszeitung. „Am Ende brauchten die Rebellen dann zehn Tage, um sein ausgehöhltes Regime zu stürzen“, so der Vorspann des Artikels, der die Überschrift trägt: „Die Nacht, als der Diktator floh“.

Der syrische Präsident tritt zurück

Tatsächlich wurde Damaskus nicht „erobert“, sondern die Bewohner der syrischen Hauptstadt haben die Kampfverbände hereingelassen. Armee und Polizei waren angehalten, keinen Widerstand zu leisten und sich zurückzuziehen, die Bevölkerung der Stadt war schon seit dem Vortag zu Hause geblieben, um abzuwarten. Der syrische Präsident Al Assad hatte nach direkten und indirekten Gesprächen mit arabischen Golfstaaten (Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien), mit der Türkei, Jordanien, Irak, mit Iran und Russland seine Chancen abgewogen. Um erneutes Blutvergießen zu vermeiden, ordnete er den Rückzug der Streitkräfte, von Armee und Polizei an und handelte damit sehr verantwortungsbewußt. Für sich und seine Familienangehörige wählte Assad den Weg ins Exil. Er floh nicht bei Nacht und Nebel, sondern wurde – vermutlich von der russischen Militärbasis Hmeimien (Latakia) – nach Moskau geflogen. Dort erhielt die Familie Al Assad humanitäres Asyl.

Vermutlich hatte Assad keine Alternative. Von allen Seiten stand er unter Druck, die wirtschaftlichen Probleme, die vor allem durch den Krieg und die EU/US-Sanktionen verursacht waren, konnte er nicht lösen. Am Abend des 8. Dezember stellte sich die Lage für außenstehende Beobachter so dar, dass der Präsident geht, die Regierung bleibt, um die Zerstörung der Ministerien und Institutionen zu verhindern und den politischen Übergang mit den Dschihadisten zu klären. Ministerpräsident Mohammad Ghazi al-Jalali ordnete an, dass die Ministerien besetzt bleiben sollten und forderte demokratische Wahlen. Dschihadistenführer Abu Mohammad al-Jolani, der kurz vorher wieder seinen ursprünglichen Namen Ahmed Hussein al-Shar’a angenommen hatte, erklärte Al-Jalili solle vorübergehend die Regierungsgeschäfte führen, bis eine Regelung für eine neue Regierung gefunden worden sei. Verschiedene Medien sprachen von einer vorübergehenden „Regierung der nationalen Einheit“.

Unterstützer der Dschihadisten

Der Vormarsch war geplant und es gab die Anordnung des Präsidenten, keinen Widerstand zu leisten. Der rasche Vormarsch war kein Wunder. Die Dschihadisten waren Berichten zufolge lange vorbereitet, die Kämpfer gut ausgerüstet, sie hatten Benzin für ihre Fahrzeuge und Motorräder und waren zudem von ukrainischen Kämpfern und Ausbildern mit großen Mengen Drohnen versorgt worden. Die Kampfverbände wurden von Journalisten, Fotografen und Videofilmern – auch westlicher Medien – begleitet. CNN verbreitete ein Interview mit dem geläuterten Jolani alias al-Sha’ra, der sich staatsmännisch gab. Insofern war der Dschihadistenvormarsch auch eine Medienshow, mit der entsprechende Bilder und Töne nahezu in Ist-Zeit, also live weltweit verbreitet wurde.

Die Kampfverbände wurden von der Türkei und von arabischen Golfstaaten sowie von den USA, Großbritannien und Israel unterstützt. Und zwar nicht erst jetzt, sondern seit Beginn des Syrienkrieges 2011. Die Nusra Front, heute Hay’at Tahrir al Sham (HTS) – einst Ableger von Al Qaida in Syrien, die sich heute geläutert gibt – profitierte wie Dutzende bewaffnete Gruppen von dem geheimen CIA-Programm „Timber Sycamore“. Damit wurden die bewaffneten Aufständischen ab 2012 nicht nur bewaffnet, es wurden auch Ausbilder geschickt, die die Kämpfer in den Waffen und in militärischem Vorgehen schulten. Das CIA-Programm, das der damalige US-Präsident Barack Obama genehmigte, wurde vom britischen Auslandsgeheimdienst MI6, dem MIT, dem türkischen Militärgeheimdienst und von Geheimdiensten der arabischen Golfstaaten unterstützt. Letztere waren vor allem auch für die Finanzierung zuständig.

Perspektive

Eine Perspektive für Syrien ist schwer voraussehbar. Es zeichnen sich Kämpfe zwischen den Fraktionen ab. Vor allem gibt es Auseinandersetzungen zwischen den bewaffneten kurdischen Kräften im Norden und Nordosten Syriens und der von der Türkei unterstützten und finanzierten Syrischen Nationalen Armee, in der ehemalige islamistische Anti-Regierungs-Kämpfer zusammengefasst sind.

Die Akteure sind keine politischen syrischen Parteien, die es ja in der eigentlichen Opposition früher durchaus gab. Die Syrer haben es nun mit schwer bewaffneten Kampfverbänden zu tun, die ihre Waffen voraussichtlich so schnell nicht abgeben werden. Es könnte ein Chaos entstehen bei Kämpfen zwischen den Gruppen um Macht und Einfluss. Es könnte zu religiöser Gewalt gegen andere religiöse und ethnische Gruppen kommen. Ein Beobachter in Damaskus weist darauf hin, dass „die Zerstörung der religiösen Pluralität in Syrien“ vor allem Israel gefalle. Es ebne den Weg zu einem islamischen Gottesstaat. Israel sehe darin eine Art Rechtfertigung für den eigenen religiösen Judenstaat.

Abzuwarten ist, wie die verschiedenen Regional- und Großmächte sich in Syrien positionieren werden. Aktuell mahnen alle Ruhe und einen geordneten Übergang an. Doch die Interessen an Syrien sind sehr verschieden und noch ist unklar, ob die von China und Russland geförderte Kooperation zwischen Iran und den arabischen Golfstaaten – auch im Staatenbündnis BRICS – Bestand haben wird. Oder ob die arabischen Golfstaaten dem Drängen von USA, EU, NATO und Israel nachgeben und eine neue Front gegen Iran, Russland, China und auch gegen BRICS aufbauen werden.

Hinter den Kulissen der bewaffneten Machtübernahme von Dschihadisten in Syrien muss über viel verhandelt und geschachert worden sein. In Syrien fragen sich viele, warum Russland und Iran sich – ebenso wie Assad – defensiv verhalten haben. Ist Syrien vom Iran und von Russland geopfert worden, um die USA und Israel von einem weiteren Krieg abzuhalten? Werden die USA und die EU ihre einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien, Iran und Russland lockern, um vom Wiederaufbau zu profitieren?

Donald Trump

Vieles wird davon abhängen, wie der neue US-Präsident Donald Trump seine außenpolitischen Ziele und Ambitionen in der Region bestimmen wird.  Geht man nach den Erfahrungen aus Trumps erster Amtszeit, wird er Israel stärken. Israel führt einen Krieg an sieben Fronten – so Benjamin Netanyahu – und das ultimative Kriegsziel ist der Iran. Wie bei dem Krieg gegen die Palästinenser und gegen Libanon zu sehen, wird Israel von den USA, Großbritannien, Deutschland und anderen europäischen Ländern, sowie von der NATO unterstützt. Der Iran und seine Verbündeten (Russland, China) suchen nach einem Ausgleich, was bisher nicht gelungen ist. Mit der Destabilisierung Syriens sind Ausgleich und regionale Kooperation in Syrien in einige Ferne gerückt. Gegenüber den israelischen Drohungen hat der Iran deutlich gemacht, dass er sich sicherlich nicht kampflos ergeben wird.

Angesichts des dschihadistischen Vorrückens in Syrien hatte Donald Trump kürzlich die Lage in Syrien als „Chaos“ bezeichnet und erklärt, „das ist nicht unser Kampf“. Was Trump genau damit sagen wollte, ist unklar. Denn er könnte auch gemeint haben, dass es zwar nicht der Kampf der USA sei, dass Israel aber Syrien als eine von sieben Fronten bezeichnet hat, könnte es auch bedeuten: „Es ist Israels Krieg, wir sind verbündet, also müssen wir Israel unterstützen“. Ein destabilisiertes Syrien würde erneut zum Schlachtfeld werden für jeden neuen Krieg.

Die absichtliche Zerstörung Syriens

Während die Bevölkerung in Syrien abwartet und erst nach und nach erfährt, was geschieht, jubelt das westliche Ausland schon über den „Sturz des Regimes“, an dem seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch einer US-geführten Invasionstruppe in den Irak 2003 gearbeitet worden war. Der britische Premierminister freut sich über „das Ende des barbarischen Assad-Regimes“, in Berlin und Brüssel wird Unterstützung in Aussicht gestellt. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius will gar in die Region reisen, weil er „auch für uns neue Chancen“ sehe, „einen Beitrag zu einem stabileren Nahen Osten zu leisten.“ Schon in den nächsten Tagen wolle er „die deutschen Soldaten in Jordanien und im Irak besuchen“ und sich mit der irakischen Regierung „intensiv austauschen und abstimmen“.

Seit dem Frühsommer 2011 hatten die Bundesregierung und die Europäische Union mit einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien zum wirtschaftlichen Mangel des Landes beigetragen und einen Wiederaufbau verhindert. Die USA setzten mit dem „Caesar-Gesetz“ noch eins drauf und drohten Einzelpersonen, Unternehmen und Staaten mit Sanktionen, sollten sie mit Syrien Handel treiben oder dort Investitionen tätigen. Seit fast 10 Jahren halten US-Truppen die syrischen Ölquellen im Nordosten des Landes besetzt und kontrollieren – in Koordination mit den Truppen der Verbündeten Türkei, Jordanien und Israel – nahezu alle Grenzen des Landes.

Bashar al Assad, der seinem Vater Hafez nach dessen Tod im Jahr 2000 im Präsidentenamt folgte, stand spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg 2003 unter offenem Druck der USA: Der damalige US-Außenminister Colin Powell forderte vom syrischen Präsidenten 2002, wie Jordanien, Land und Grenzen für den Vormarsch der US-Truppen in den Irak zu öffnen. Vergeblich, Syrien stellte sich an die Seite des bedrängten Irak, der von den USA schließlich – unter dem Vorwand Massenvernichtungswaffen zu besitzen – überfallen und besetzt wurde. Die Massenvernichtungswaffen wurden nie gefunden, weil es sie nicht gab. Der Irak wurde zerstört, Millionen flohen, Tausende wurden in einem angefachten interreligiösen Krieg getötet.

Der Druck auf Damaskus hielt an. Syrien solle das Bündnis mit dem Iran kappen, so die Forderung aus Washington. Die Golan Höhen solle Damaskus Israel überlassen und es müsse die Unterstützung für die Palästinenser stoppen. Im Gegenzug wurden Syrien blühende Landschaften versprochen, die Bevölkerung solle im Frieden des US-amerikanischen Hegemons – und seines regionalen Wächters Israel – zufrieden und glücklich sein.

Syrien beharrte auf seiner souveränen Politik, öffnete sich nach innen und außen und prosperierte. Die Syrer unterstützten den jungen Präsidenten, der ihr Leben um vieles erleichtert hatte. Genau in dieser Zeit begann der Krieg 2011. Aus mehr als 150 Staaten zogen Dschihadisten nach Syrien, um den „Heiligen Krieg gegen das Assad-Regime“ zu führen. Die Türkei und Jordanien ermöglichten deren Passage, USA und arabische Golfstaaten lieferten die Waffen. Syrien wurde verwüstet und gespalten. Die ressourcenreichen Gebiete – Baumwolle, Wasser, Oliven und Ölquellen – wurden besetzt und dem Land entzogen.

Im November 2019 beschrieb Dana Stroul vom «Center for Strategic & International Studies» CSIS, einer pro-israelischen US-Denkfabrik (die für ihre Lobbyarbeit für die US-Waffenindustrie bekannt ist, Red.) bei der Veranstaltung „Syrien in der Grauzone“ die US-Strategie.

Assad werde politisch und diplomatisch isoliert, wichtig sei die „Architektur der Wirtschaftssanktionen“ die sich sowohl gegen Iran als auch gegen Syrien richteten. Wiederaufbauhilfe könne in die von den (kurdisch geführten, kl) Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) im Norden und Osten Syriens kontrollierten Gebiete gelangen und an Syrer außerhalb Syriens, dürfe aber nicht dem „Assad-Regime“ gewährt werden. Alle diese Maßnahmen führten dazu, dass „der Rest Syriens in Trümmern liegt“, so Dana Stroul. „Was die Russen wollen und was Assad will, ist der wirtschaftliche Wiederaufbau“, was die USA durch internationale Finanzinstitutionen und die Zusammenarbeit mit den Europäern verhindern können. „Solange das Assad-Regime sein Verhalten nicht ändert, sollten wir diese Linie beibehalten und jede Wiederaufbauhilfe verhindern und verhindern, dass technisches Know-How nach Syrien zurückkehrt.“

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Syrien wurde absichtlich zerstört. Weil es sich weigerte, sich den geopolitischen Interessen der USA zu unterwerfen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf GlobalBridge

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