Krieg in Nahost

Opferfest in Trümmern und unter Bomben

Auch während des Eid al-Adha-Festes, das am vergangenen Sonntag begann und in der muslimischen Welt bis zu vier Tage lang gefeiert wurde, geht der Krieg im palästinensischen Gazastreifen weiter. Eine neue UN-Sicherheitsratsresolution 2735 hat Tod und Zerstörung für die Palästinenser nicht gestoppt, der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu strebt weiter den „totalen Sieg“ gegen die Hamas an und löst das Kriegskabinett auf.

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Blutige Befreiungsaktion Anfang Juni: Die Israelische Armee befreite vier Geiseln und tötete über 200 Palästinenser (öffizielles Foto der israelischen Armee).
Foto: IDF Spokesperson's Unit photographer, Lizenz: CC BY-SA, Mehr Infos

Auch während des höchsten muslimischen Festes, dem Eid al-Adha, dem Opferfest, das am vergangenen Sonntag begann, hat die israelische Armee ihre Angriffe in weiten Teilen des Gazastreifens fortgesetzt. Ziele waren erneut Flüchtlingslager, Wohnhäuser und Unterkünfte für Vertriebene. Das Opferfest ist der höchste Feiertag für Muslime weltweit und markiert den Beginn der Hadj, der Pilgerreise nach Mekka. Millionen Muslime sollen diese Reise mindestens einmal in ihrem Leben unternehmen, sofern sie finanziell dazu in der Lage und gesund sind. Für Gläubige aus Gaza ist das ein unerreichbares Unterfangen. Fotografen in Gaza verbreiten Bilder betender Menschen in Trümmern. Der Krieg geht weiter.

Die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA berichtete von Luftangriffen im Ortsteil Tal as-Sultan, Rafah sowie im Flüchtlingslager Al-Shati, westlich von Gaza Stadt. In Al-Mughraka, im Innern des Gazastreifens, wurden demnach Wohnhäuser vom israelischen Militär zerstört. Der katarische Nachrichtensender Al Jazeera berichtete, die Angriffe auf das Gebiet von Tal as-Sultan – auch bekannt als das „saudische Viertel“ – erfolgten aus der Luft, vom Meer und mit der Artillerie. Dort waren am Vortag acht israelische Soldaten bei einem Angriff der Qassam-Brigaden auf deren Panzerwagen getötet worden.

Während westliche und internationale Medien sich auf die militärische Seite des Angriffs der Qassam-Brigaden konzentrierten und das Geschehen analysierten, die Namen und Fotos der getöteten Soldaten verbreitet wurden und Experten in Interviews die militärische Lage für Israel und die Hamas abwogen – wurden mindestens 28 Palästinenser in ihren Wohnungen in Rafah von den israelischen Angriffen getötet. Dutzende Wohnhäuser gingen in Flammen auf. Schon am Vorabend des Eid-Festes bombardierte die israelische Armee zahlreiche Gebiete im Südwesten von Gaza Stadt. Israelische Marine bombardierte Gebiete in den Wohngebieten von Tal al-Hawa und Sheikh Ajlin. Allein bei der blutigen Befreiungsaktion israelischer Antiterrorkommandos am 8. Juni im Flüchtlingslager Nuseirat, waren 274 Menschen getötet und rund 800 verletzt worden. Nach Angaben des UN-Büros für Nothilfe, OCHA, wurden vom 10. bis 14. Juni durch israelische Angriffe 142 Palästinenser getötet und 396 verletzt. Die Zahlen basieren auf Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums (Gaza).

Die israelischen Streitkräfte gaben an, bei den zahlreichen Angriffen Kämpfer getötet, Sprengfallen entschärft und Waffendepots zerstört zu haben.

UN-Menschenrechtsexperten verurteilen „exzessive Gewalt“

In einer öffentlichen Erklärung haben UN-Menschenrechtsexperten „die empörende Missachtung der palästinensischen Zivilbevölkerung während der israelischen Militäroperation in Nuseirat“ am 8. Juni verurteilt.

Überlebende hätten berichtet, dass „die Straßen von Nuseirat mit den Körpern von toten und verletzten Menschen übersät waren, die in Blutlachen lagen, darunter Kinder und Frauen. Die Wände waren mit Leichenteilen bedeckt, die von zahlreichen Explosionen und zerbombten Häusern verstreut waren.“ Die Verletzten hätten in Krankenhäusern auf den Fluren gelegen und auf medizinische Hilfe gewartet, so die UN-Experten unter Verweis darauf, dass der Gesundheitssektor durch den Krieg weitgehend zerstört worden sei. Man sei zwar „erleichtert über die sichere Rückkehr von vier israelischen Geiseln, (…) doch der israelische Angriff auf das Lager Nuseirat ist durch seine exzessive Gewalt und seine verheerenden Auswirkungen abscheulich.”

Die UN-Experten begrüßten die jüngste UN-Sicherheitsratsresolution 2735 als “spät, doch hoffe man, dass sie einen „Weg aus dem Horror“ bereiten werde. Sie wiederholten ihren Aufruf, ein Waffenembargo gegen Israel zu verhängen, um die Gewalt gegen Palästinenser durch die israelischen Streitkräfte und Siedler zu stoppen. Bereits Ende Mai hatte eine Gruppe von 50 UN-Experten den UN-Sicherheitsrat aufgefordert, Sanktionen und ein Waffenembargo gegen Israel zu verhängen.

Zahl der Toten steigt täglich

UN-Organisationen haben seit Beginn der israelischen Militäroperation im Süden des Gazastreifens entlang der Grenze zu Ägypten am 6. Mai eine Million Menschen aus Rafah evakuiert und in Schulen und Zeltlagern im Inneren des Gazastreifens untergebracht. Es herrscht Hunger, die Weltgesundheitsbehörde warnt vor der Ausbreitung ansteckender Krankheiten. Es fehlt Trinkwasser für die Menschen und Benzin, um Pumpen und Ventilatoren zu betreiben.

Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums (Gaza) ist die Zahl der getöteten Palästinenser seit Beginn des Krieges am 7. Oktober vergangenen Jahres auf 37.337 gestiegen und es gibt 85.299 Verletzte. Mindestens 7000 Menschen werden unter den Trümmern vermisst. Zwei Drittel der Toten sind Frauen und Kinder. Die Zahlen sind Momentaufnahmen und steigen täglich.

Die israelische Armee gibt die Zahl der getöteten Soldaten im gleichen Zeitraum in Israel und Gaza mit mehr als 600 an. In Gaza starben demnach 299, die Zahl der Verwundeten im Gazakrieg wird mit 1940 angegeben. Stand dieser Information ist der 14. Juni, seitdem sind mindestens acht weitere israelische Soldaten getötet worden.

US-Pier wieder außer Betrieb

Das Welternährungsprogramm (WFP) teilte mit, aus Sicherheitsgründen den von den USA und Israel an der Küste von Gaza angebrachten Pier vorübergehend nicht zu nutzen. Die humanitären Organisationen und Helfer seien nicht sicher, wenn sie von dem Pier die Hilfsgüter abholten. Auch das am Strand errichtete Lager sei nicht sicher. Die US-Marine hat inzwischen den Pier wieder abgebaut und in den israelischen Hafen Aschdod geschleppt. Als Grund gab das US-Zentralkommando (CENTCOM), dass die Operation leitet, neue Beschädigungen durch hohen Seegang an. Die Sicherheit der beteiligten Soldaten habe „höchste Priorität“, hieß es. Sobald der Seegang sich beruhigt habe, werde der Pier zurückgeschleppt.

Andere Quellen berichteten, der Pier und das Lagerhaus seien unter Beschuss (der palästinensischen Seite) geraten. Nach der blutigen Befreiung von vier israelischen Geiseln aus dem Flüchtlingslager Nuseirat wurde Israel, beschuldigt, den Pier und seine Zufahrten für die militärische Operation benutzt zu haben. Ein Hubschrauber, der die Geiseln abtransportierte, war unweit des Piers am Strand geparkt. Der Vorsitzende der US-Organisation Human Rights Watch, Kenneth Roth, forderte eine internationale Untersuchung. Israel lehnt das ab.

Die Hilfsgüter, die zuletzt über den Pier angelandet worden waren, bleiben aktuell am Strand liegen, teilte eine Sprecherin des US-Pentagon mit. Die geschätzten Kosten für die Errichtung des Piers wurden mit rund 230 Millionen US-Dollar (rund 212 Millionen Euro) angegeben.

Begrenzte Feuerpause für Straßenabschnitt

Die israelische Armee hat inzwischen angekündigt, den Grenzübergang Kerem Shalom im Dreiländereck Ägypten-Israel-Palästina/Gaza täglich zu öffnen, damit Hilfsgüter in den Gaza-Streifen gelangen können. Die freigegebene Route führt von dem Grenzübergang nach Nordosten zum Europäischen Krankenhaus, wo die Hilfsgüter gelagert werden sollen. Die Armee spricht von einer „taktischen begrenzten Feuerpause“ für diese Route, die täglich von 7-19 Uhr (Ortszeit) gelten soll.

Scott Anderson vom UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, UNRWA, äußerte die Hoffnung, dass Helfer sich in dieser Zeit frei bewegen könnten, um „dringend benötigte Hilfe für die Bevölkerung zu bringen“ und verteilen zu können. Die Menschen in Gaza bräuchten Essen, Wasser, Medizin und Zelte. Er hoffe, dass alle Seiten sich an die Feuerpause hielten. Sowohl die rechtsextremen Minister der Netanyahu-Regierung als auch Benjamin Netanyahu selber lehnen diese Feuerpause ab.

Diese Feuerpause gilt ausdrücklich nicht für Rafah im Süden des Gazastreifens, wo die Angriffe fortgesetzt werden. Die Armee hat angekündigt, das gesamte Gebiet entlang der Grenze Gaza/Ägypten, den so genannten „Philadelphia-Korridor“, kontrollieren, also besetzen zu wollen. Der Grenzübergang Rafah nach Ägypten bleibt geschlossen. Um seiner Position Nachdruck zu verleihen, zerstörte die israelische Armee am 17. Juni die Empfangshalle auf der palästinensischen Seite des Grenzübergangs und brannte sie nieder. Ein Reporter für Al Jazeera aus Gaza berichtete, seit 40 Tagen habe der Grenzübergang Rafah unter Beschuss gelegen und sei nun endgültig zerstört. Die israelischen Streitkräfte hinterließen im Osten, im Zentrum und im Westen der Stadt eine Spur der Verwüstung. Wohnhäuser würden systematisch gesprengt

UN-Sicherheitsratsresolution 2735

Der von US-Präsident Joe Biden Anfang Juni vorgelegte Waffenstillstandsplan, der im UN-Sicherheitsrat am 12. Juni bei einer Enthaltung (Russland) als Resolution 2735 angenommen wurde ist bislang ohne Folgen geblieben. Der angeblich von Israel stammende Plan wird von der Netanyahu-Regierung dementiert und abgelehnt, während die Hamas sich mit einigen Änderungen ausdrücklich positiv auf die UN-Sicherheitsratsresolution bezogen hat. Das machte in einer Ansprache zum Opferfest am Sonntag erneut der Vorsitzende des Hamas-Politbüros, Ismail Haniyeh, deutlich.

Den angeblich israelischen, tatsächlich aber eigenen Plan für einen Waffenstillstand in Gaza dem UN-Sicherheitsrat zur Abstimmung vorzulegen, war von zahlreichen Vertretern des Gremiums als Zumutung angesehen worden, nachdem die USA jede bisherige Initiative für ein Ende des Krieges in Gaza in dem Gremium blockiert hatte. Russland enthielt sich der Stimme, während die anderen Ratsmitglieder zustimmten, um nach bisher elf vergeblichen Resolutionen, endlich einen Waffenstillstand mit US-Zustimmung zu erreichen.

US-Außenminister Antony Blinken reiste medienwirksam kurz darauf mit der UN-Sicherheitsratsresolution in der Tasche nach Ägypten, Israel, Jordanien und Katar, um dort die Unterhändler für die Hamas zu drängen, Verhandlungen zu beschleunigen. Diese hatte Anfang des Jahres bereits einen ähnlichen Drei-Phasen-Plan vorgelegt, der von Israel und von den USA abgelehnt worden war. Die Resolution 2735 läßt allerdings Israel ein großes Schlupfloch. Phase zwei soll demnach erst eintreten, wenn Israel zugestimmt hat. Das, da sind Beobachter sich einig, wird nicht eintreten, solange Netanyahu weiter der Regierungschef ist. Er lehnt den Plan ab und wiederholt als Kriegsziel fortwährend als Ziel den „totalen Sieg“ und die Eliminierung der Hamas.

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Gideon Levy von der Zeitung Haaretz sagt dazu in einem Interview mit dem katarischen Nachrichtensender Al Jazeera Englisch, der in Israel verboten ist, die Israelis fragten sich, bis wann dieser Krieg weitergehen solle und warum. „Es könnte ein endloser Krieg werden, ein Abnutzungskrieg (….). Wir werden nie diesen lächerlichen “totalen Sieg” erreichen, über den Ministerpräsident Netanyahu redet.“

Kriegskabinett aufgelöst

Am Montag wurde bekannt, dass der israelische Regierungschef Benjamin Netanyahu das Kriegskabinett aufgelöst hat. Das Gremium war kurz nach dem 7. Oktober gegründet worden, um nationale Einheit zu zeigen. Es bestand aus Netanyahu, Yoav Gallant (Minister für Verteidiung), Benny Gantz (Minister im Kabinett) und dem ehemaligen Armeechef Gadi Eisenkot. Nachdem Gantz und Eisenkot das Gremium verlassen haben, weil Netanyahu sich weigerte, einen Plan für den Gazastreifen nach dem Ende des Krieges vorzulegen, versuchten unbestätigten Berichten zufolge offenbar die beiden Rechtsaußenminister der Regierung, Itamar Ben-Gvir (Nationale Sicherheit) and Bezalel Smotrich (Finanzen), beizutreten. Es wird vermutet, dass Netanyahu sich zukünftig auf einen Kreis ausgewählter Berater verlassen will.

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