Kriege

Nach dem Mord an afghanischen Zivilisten: Afghanistan weist Einzeltäter-Theorie zurück

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Von SEBASTIAN RANGE, 20. März 2012 –

Der mutmaßliche Mörder 16 afghanischer Zivilisten, der 38-jährige Feldwebel Robert Bales, wurde in ein Gefängnis in die USA überführt. Während in den Medien beinah einhellig von einem „Amokläufer“ gesprochen wird, lassen die Fakten auf ein anderes Bild schließen. Demnach handelte es sich bei dem Massaker weder um einen Amoklauf, noch um die Tat eines Einzelnen.

Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchungskommission des afghanischen Parlamentes. „Mehr als ein Dutzend Soldaten (…) haben Dorfbewohner getötet und dann die Leichen verbrannt“, sagte der Abgeordnete Nahim Lalai Hamidsai aus Kandahar. Das habe die Untersuchung einer Parlamentskommission ergeben, der Hamidsai angehört. „Alle Dorfbewohner, mit denen wir gesprochen haben, sagten, dass 15 bis 20 Mann da waren.“

Nähere Details zum Tathergang stützen die Aussagen der Dorfbewohner. Entgegen der ursprünglichen Darstellung einiger Medien fand das Massaker, bei dem auch neun Kinder getötet wurden, nicht in einem einzigen Dorf statt.

Eines der Häuser, in dem Zivilisten getötet worden seien, liege nördlich der US-Basis, von der aus der oder die Täter kamen, sagte Hamidsais. „Die anderen zwei (Häuser) sind in einem anderen Dorf südlich der Basis. Zwischen der Basis und den Häusern liegen mindestens vier Kilometer.“

Wie plausibel ist es, dass Bales, dem ein Teil eines Fußes operativ entfernt worden war (1), innerhalb einer Stunde diese Taten ganz alleine vollbringen konnte?

„Das ist viel Arbeit für einen einzelnen Schützen“, äußerte der US-Kriegsreporter Michael Yon, in den 1980er-Jahren selbst bei den US-Spezialkräften, seine Skepsis. „Etwas an der Story ist sehr faul.“ (2) Die Bewohner der beiden Dörfer wollen fast zeitgleich Schüsse gehört haben, was darauf schließen lässt, dass mehrere Soldaten unterwegs waren. (3) Zudem seien laut der Parlamentsuntersuchung zwei Frauen vor ihrer Tötung vergewaltigt worden. Auch das spricht gegen die Einzeltäter-Version. Afghanistans Präsident Hamid Karsai vermutet mittlerweile hinter dem Amoklauf eine „wohlüberlegte und vorsätzliche“ Aktion. Daran sei nicht nur ein Soldat allein beteiligt gewesen, sagte Karsai am vergangenen Freitag.

Das US-Militär gibt vor …

Als „Spin“ wird es in der englischen Sprache bezeichnet, wenn ein Sachverhalt zurechtgebogen und den eigenen Interessen angepasst wird. Frühzeitig nach dem Massaker übte sich das US-Militär in der Spin-Kunst. Zur Stärkung der Plausibilität der Einzeltäter-Version ließ man an die Medien durchsickern, Bales habe bei einem Einsatz im Irak eine Kopfverletzung bei einem Verkehrsunfall erlitten. Diese habe möglicherweise zu „Persönlichkeitsstörungen und mangelnder Kontrolle geführt“, wie dessen Anwalt John Henry Browne mutmaßt. Das Massaker einer psychischen Erkrankung zuschreiben zu können, ist für das US-Militär sicherlich die komfortabelste Position.

Auch für die Zeugenaussagen, die von mehreren US-Soldaten sprechen, hat das Militär eine Erklärung parat. Man habe bereits nach Bales gesucht, noch bevor er das Massaker begehen konnte. Denn der Feldwebel sei unmittelbar nach Verlassen seines Stützpunktes von afghanischen Soldaten bemerkt worden, die daraufhin das US-Militär in Kenntnis setzten. Die von den Zeugen beschriebenen vermeintlichen anderen Täter seien in den Dörfern auf der Suche nach Bales gewesen.

Überzeugend klingt das nicht. Zum einen unterstellt diese Version, die betroffenen Afghanen könnten nicht zwischen Soldaten unterscheiden, die sie mit Waffengewalt bedrohen und jenen, die ihnen zu Hilfe eilen. Zum anderen ist es fragwürdig, warum das US-Militär die afghanischen Kollegen nicht darum bat, dem Mann auf den Fersen zu bleiben und stattdessen eine großangelegte nächtliche Suchaktion in einer Region riskierte, die als Hochburg der Aufständischen gilt.

Selbst die von US-Verteidigungsminister Panetta angekündigte mögliche Verhängung der Todesstrafe mag mehr als nur eine Geste der Beschwichtigung gegenüber den Afghanen sein. Sie könnte auch dazu dienen, den „Spin“ der Geschichte abzusichern. Mögliche Mittäter werden sich angesichts der Todesstrafe kaum offenbaren, egal wie sehr ihr Gewissen sie plagt.

… und die Medien folgen

Abseits dieser Spekulation bleibt festzuhalten, dass Aussage gegen Aussage steht, was die offiziellen Positionen der USA und jener Afghanistans betrifft. Die afghanische Version ernsthaft in Erwägung zu ziehen und der Frage auf den Grund zu gehen, wer denn nun recht hat, scheint nicht das Anliegen der deutschen Massenmedien zu sein. Zwar wurde über die Untersuchungsergebnisse des afghanischen Parlamentes am Wochenende berichtet, doch deren Wahrheitsgehalt wurde meist im gleichen Atem angezweifelt. So schrieb der Spiegel, dass in Afghanistan „Nachrichten durch Mundpropaganda weitergegeben und auf diesem Weg immer weiter ausgeschmückt und dramatisiert“ werden würden. Das afghanische Parlament habe sich der „Einschätzung (der Gruppen-These) angeschlossen“. (4) Das Parlament habe also nicht untersucht und aufgeklärt, sondern sich einfach nur „angeschlossen“. Angeschlossen an vermeintliche „Einschätzungen“, bei denen es sich tatsächlich um Zeugenaussagen handelt.

Noch vor einer Woche war von „zahlreichen Fragen“ die Rede, die das Massaker aufgeworfen habe. Zum Beispiel jene, „wie der Amokschütze mitten in der Nacht seine Militärbasis verlassen konnte“, wie es in einer dpa-Meldung heißt. „Die Stützpunkte sind von Mauern und Stacheldraht umgeben und werden von bewaffneten Posten bewacht. Sie sind extrem gut gesichert. Das gilt erst recht in einem Unruhedistrikt wie Pandschwai. Es ist fast unmöglich, unbemerkt in einen Stützpunkt einzudringen. Auch ein unbemerktes Verlassen mag für jemanden mit Kenntnis der Sicherheitsvorkehrungen zwar nicht gänzlich ausgeschlossen sein. Einfach ist es aber nicht.“

Auch Kriegsreporter Yon wies auf die Schwierigkeit hin, den Stützpunkt unentdeckt zu verlassen: „Es gibt dort oft Hunde. Er hätte durch unsere eigenen Verteidigungen raus- und reingemusst. Das hört sich für mich alles sehr seltsam an.“ (5)

Diese Frage wurde ebenso wenig weiterverfolgt wie diejenige, warum ein Amokläufer die Leichen seiner Opfer zusammenträgt und in Brand setzt. Ein Verhalten, das eher dafür spricht, dass hier Spuren verwischt werden sollten. Stattdessen wird die aktuelle Berichterstattung von der Frage beherrscht, was den „Amokläufer“ denn zur Tat trieb. War es Stress? War es der Alkohol? Waren es Eheprobleme?

„Am Ende wird es eine Kombination aus Stress, Alkohol und häuslichen Problemen sein – er ist einfach ausgerastet“, zitiert die New York Times eine anonyme Quelle aus der Regierung. „Wie wird ein Mustersoldat zum Massenmörder?“ fragt auch die Welt und liefert die Antwort mit: Bales sei durch seine Einsätze traumatisiert worden. (6) Das Thema der Traumatisierung von Soldaten in Kampfeinsätzen rückt nun zunehmend in den Fokus der Berichterstattung. „Passend“ fügt sich da ein Verbrechen ein, das ein heimgekehrter US-Soldat nur wenige Tage nach dem Massaker in Afghanistan begangen hat und das am letzten Wochenende bekannt wurde. Der Irakkriegs-Veteran hat seine elfjährige Schwester und anschließend sich selbst umgebracht. (7)

Natürlich ist es begrüßenswert, wenn den ansonsten in den Medien unterrepräsentierten  Thema der Traumatisierung von Kriegsveteranen breiteren Raum geschenkt wird. Nicht zu begrüßen ist es allerdings, wenn Traumatisierungen als Entschuldigungen für Verbrechen herhalten sollen.

(K)ein barbarisches Motiv?

Bales Anwalt nannte als mögliches Motiv, sein Mandant habe am Tag vor dem Massaker aus nächster Nähe mit ansehen müssen, wie seinem Freund bei einer Explosion das Bein weggerissen wurde. Der Zwischenfall habe alle Soldaten in dem Stützpunkt erschüttert. „Sein Bein wurde weggesprengt, und er (Robert Bales) stand neben ihm“, so der Anwalt.

Laut Aussagen von Dorfbewohnern sollen US-Soldaten dafür Rache an den Einwohnern der nahegelegenen Siedlung geschworen haben. (8) Am nächsten Tag kam es dann zum Massaker.

Tatsächlich würde dieses Motiv „Sinn“ machen – zumindest in der Logik des Krieges. Innerhalb dieser Logik würde es der Prävention vor zukünftigen Anschlägen auf die Besatzungstruppen dienen, indem es eine klare Botschaft vermittelt: Anschläge werden grausam bestraft. In erster Linie Frauen und Kinder zu töten, würde diese Botschaft unterstreichen.

Natürlich würde ein solches Motiv das Bild dieses Krieges, der zumindest in Deutschland lange Zeit nie als solcher bezeichnet wurde, für viele Menschen auf den Kopf stellen. Die Barbaren, die sich den Errungenschaften der Zivilisation verweigern, sind plötzlich nicht mehr nur in den Reihen des Feindes zu finden. Aus liebevollen und fürsorglichen Familienvätern werden Bestien. Die Gründe für die Wandlung liegen nicht in Eheproblemen, nicht im Alkoholkonsum, nicht in finanziellen Nöten oder was sonst gegenwärtig als mögliches Motiv in den Medien diskutiert wird. Auch nicht in einer Kopfverletzung. Sie sind in der Logik des Krieges selbst zu suchen und daher ein systemisches Problem. Das Massaker transportiert damit eine weitere Botschaft: Eine Gesellschaft lässt sich nicht durch Krieg zivilisieren. Gerade Kriege wie der in Afghanistan, die vornehmlich damit begründet werden, zivilisatorische Standards durchzusetzen, erwirken das genaue Gegenteil.


Anmerkungen

(1) http://www.welt.de/politik/ausland/article13929352/Wie-aus-einem-Boersenmakler-ein-Massenmoerder-wurde.html

(2) http://www.focus.de/politik/ausland/afghanistan/16-tote-dorfbewohner-in-afghanistan-star-kriegsreporter-bezweifelt-amoklauf-version_aid_723418.html

(3) http://derstandard.at/1331207124455/Amoklauf-Immer-mehr-Zweifel-an-Einzeltaeter-Theorie

(4) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,822042,00.html

(5) http://www.focus.de/politik/ausland/afghanistan/16-tote-dorfbewohner-in-afghanistan-star-kriegsreporter-bezweifelt-amoklauf-version_aid_723418.html

(6) http://www.welt.de/politik/ausland/article13929352/Wie-aus-einem-Boersenmakler-ein-Massenmoerder-wurde.html

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(7) http://www.focus.de/politik/ausland/afghanistan/traumatisierte-us-soldaten-kriegsveteran-erschiesst-sich-und-seine-schwester_aid_725428.html

(8) http://de.rian.ru/society/20120317/263085763.html

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