Massaker im Mittelmeer. Israels Armee stürmt die Schiffe der Gaza-Solidaritätsflotte
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Von REDAKTION, 31. Mai 2010 –
Blutiges Drama im Mittelmeer: Die israelische Marine hat am Montag bei der gewaltsamen Erstürmung der internationalen Gaza-Solidaritätsflotte fast zwanzig Aktivisten getötet. Dutzende weitere wurden verletzt, als israelische Elitesoldaten in den frühen Morgenstunden von Kommandobooten und Hubschraubern aus sechs Schiffe mit Strickleitern enterten. Der folgenschwere Vorfall löste eine Welle scharfer internationaler Kritik an Israel aus, die Türkei rief ihren Botschafter ab.
Nach Medienberichten sollen bei dem Militäreinsatz in internationalen Gewässern im Mittelmeer mindestens 16* der 570 Aktivisten an Bord des türkischen Passagierschiffes „Marmara“ getötet worden sein. Die israelische Armee bestätigte mehr als zehn Tote. Nach Angaben der Organisation Free Gaza ereignete sich der Vorfall 75 Meilen (etwa 140 Kilometer) vor der israelischen Küste.
Israels Armee stellt den Überfall auf den Hilfskonvoi als Selbstschutzmaßnahme dar, auch nach offiziellen israelischen Angaben seien „gewaltbereite Aktivisten für den blutigen Zwischenfall verantwortlich“ gewesen. Ein israelischer Elitesoldat berichtete: „Sie haben uns mit Metallstöcken und Messern angegriffen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurde mit scharfer Munition auf uns geschossen.“ Etwa 30 Arabisch sprechende Aktivisten hätten sich an dem Angriff beteiligt.
Die Organisation „Free Gaza“ bestritt hingegen, dass Aktivisten auf Soldaten geschossen oder die blutige Gewalt ausgelöst hätten. Sie verweisen auf die Bilder aus 30 Fernsehkameras an Bord des Schiffes. Die belegten den Tathergang. „Die Soldaten haben begonnen zu schießen, sobald sie an Bord kamen“, sagte Audrey Bomse von Free Gaza.
Auf der „Marmara“ befanden sich unter anderem auch die beiden Bundestagsabgeordneten Annette Groth und Inge Höger (Die Linke) sowie – nach Informationen von „Free Gaza“ – der schwedische Erfolgsautor Henning Mankell. Nach Angaben der israelischen Armee wurden bis zum Nachmittag zwei der sechs Schiffe in den Hafen von Aschdod gebracht. Laut dem israelischen Plan sollen die Identität der Aktivisten überprüft und diese befragt werden. Danach sollen sie in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Falls sie dem nicht zustimmen, droht ihnen eine Inhaftierung.
Die Bundesregierung äußerte sich „bestürzt“ über die israelische Aktion, reagierte aber wie immer halbherzig auf die israelische Aggression. Außenminister Guido Westerwelle verlangte am Montag in einem Telefonat mit seinem israelischen Kollegen Avigdor Lieberman eine „umfassende Untersuchung“, wie Regierungssprecher Ulrich Wilhelm in Berlin mitteilte. Das Schicksal von fünf Bundesbürgern, die auf der „Marmara“ unterwegs waren, müsse schnellstmöglich geklärt werden.
Ankara rief aus Protest den türkischen Botschafter aus Israel ab. Außerdem annulliere die Türkei drei Militärabkommen mit Israel, sagte der türkische Vizeministerpräsident Bülent Arinc. „Wir werden alle Möglichkeiten des internationale Rechts nutzen, Israel zur Verantwortung zu ziehen“, sagte Arinc. Israel habe Zivilisten angegriffen und vor den Augen der ganzen Welt unmenschlich gehandelt. Die israelische Marine habe sich in internationalen Gewässern wie Piraten verhalten. Der israelische Stab zur Terrorbekämpfung veröffentlichte aus Furcht vor Gewalt gegen Israelis eine Reisewarnung für die Türkei.
Die griechische Regierung brach umfangreiche Luftwaffenmanöver mit Israel in der Ägäis ab. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sprach von einem „Massaker“ und „abscheulichen Verbrechen“. Der palästinensische Ministerpräsident Salam Fajad sagte, die Aktion beweise „Israels Missachtung für internationale Gesetze und Konventionen“. Die Gaza-Blockade müsse beendet werden, forderte er.
Die mehr als 700 Aktivisten an Bord von sechs Schiffen der „Gaza-Flotte“ wollten rund 10.000 Tonnen Hilfsgüter trotz einer von Israel verhängten Seeblockade in den Gazastreifen bringen.
Verteidigungsminister Ehud Barak beschrieb die Fahrt der Schiffe nach Gaza als „politische Provokation durch anti-israelische Organisationen“. Die islamisch-türkische IHH, die nach israelischen Angaben an der Organisation der Aktion beteiligt war, sei als „gewalttätige und radikale Gruppierung bekannt, die unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe Terrorgruppen unterstützt“, sagte Barak. Sie stehe der Hamas nahe. Jigal Palmor, Sprecher des israelischen Außenministeriums, sagte: „Es ist klar, dass man eine Organisation, die Verbindungen mit der Hamas hat und ihr helfen will, nicht durchlassen kann – auch wenn es im Fernsehen nicht gut aussieht.“
Auch viele Israelis sind schockiert. Kommentatoren sprechen von einem absoluten PR-Desaster. Israel muss sich jetzt beispielsweise dem Vorwurf der Piraterie erwehren, weil die sechs Schiffe nach Angaben der Organisatoren von „Free Gaza“ eindeutig in internationalen Gewässern aufgebracht wurden.
„Man sollte besser schlau sein, als Recht haben“, lautet ein israelisches Sprichwort. In diesem Sinne hatten Kommentatoren der Regierung ans Herz gelegt, die mehr als 700 pro-palästinensischen Aktivisten mit ihrer kleinen Flotte einfach in den Gazastreifen fahren zu lassen – Seeblockade hin oder her.
Doch die Regierung wählte die Konfrontation. Die Aktivisten von „Free Gaza“ hatten zuvor Israels Angebot abgelehnt, die 10.000 Tonnen Hilfsgüter im Hafen von Aschdod zu löschen. Erstens weil man weiß, dass die Hilfsgüter von Israel nicht nach Gaza weitergeleitet werden, zweitens wollten die Friedensaktivisten vor aller Welt ein Exempel statuieren und die menschenverachtende Seeblockade, mit der Israel den Gazastreifen abriegelt, demonstrativ durchbrechen. Die israelische Führung sei von der „Gaza-Flotte“ in ein „Meer der Dummheit“ getrieben worden, kommentierte die linksliberale Tageszeitung „Haaretz“.
Auch der gerade mühsam im Gang gesetzte Nahost-Friedensprozess könnte leiden. Verteidigungsminister Ehud Barak rief die „Führer der arabischen Staaten auf, nicht zuzulassen, dass sich der Vorfall negativ auf die Friedensverhandlungen“ zwischen Israel und den Palästinensern auswirkt. Und die israelischen Sicherheitsbehörden treibt die Sorge vor gewaltsamen Unruhen unter den arabischstämmigen Israelis um.
Auch in anderer Hinsicht hat Israel wohl ein klassisches Eigentor geschossen. Die ganze Welt schaut nach dem blutigen Zwischenfall jetzt wieder auf den Gazastreifen. Und dabei wollte Israel eine neue Diskussion über die seit drei Jahren währende Blockade des kleinen Palästinensergebietes unter allen Umständen vermeiden. Alle Appelle – wie zuletzt der von der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton – die Grenzübergänge zum Gazastreifen sofort und ohne Vorbedingungen zu öffnen, dürften nach dem Zwischenfall nur noch lauter werden.
Update:
* Seit Dienstag, den 1. Juni, steht die Zahl der getöteten Aktivisten fest. Jetzt ist sicher, dass neun türkische Aktivisten getötet und Dutzende weitere verletzt wurden.
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Quelle: dpa
Vgl. auch HINTERGRUND – Feuilleton: Henning Mankell – ein entschiedener Unterstützer der Gaza-Solidaritätsflotte