Massaker an Zivilisten oder blutiges Gefecht?
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Egal, was geschehen ist – der Ruf nach einer Militärintervention gegen Syrien wird lauter –
Von REDAKTION 13. Juli 2012 –
In dem syrischen Dorf Tremseh mit rund 7.000 Einwohnern, 35 Kilometer nordwestlich von Hama, sollen gestern mehr als 200 Menschen getötet worden sein. Die Freie Syrische Armee (FSA) und die Regierung machen sich gegenseitig für den blutigen Zwischenfall verantwortlich. Die Rebellen, unterstützt von Säbelrasslern aus der westlichen Welt, darunter auch deutsche, wollen eine Militärintervention durchsetzen. Vereinzelt gibt es noch Friedensappelle: Ein Linkspartei-Politiker warnt vor Kriegspropaganda und fordert einen friedlichen Dialog. Die FSA will aber blutige Rache.
Nach Aussagen von Regierungsgegnern sollen sich am Donnerstag etwa 250 bewaffnete Rebellen in Tremseh aufgehalten haben. Ein während der Sommerferien ungenutztes Schulgebäude habe ihnen als Waffenlager gedient. Die syrischen Streitkräfte hätten mit Panzern und Hubschraubern angegriffen. Die ersten Granaten seien um 6.00 Uhr morgens detoniert. Nachdem die Kämpfe entbrannt waren, seien die ersten Zivilisten geflohen und dann in den umliegenden Feldern massakriert worden. Nachdem die Rebellen unterlegen waren und aus Tremseh vertrieben worden seien, hätten Regierungssoldaten die Ausweise der Dorfbewohner kontrolliert und schließlich einige verhaftet, andere an Ort und Stelle erschossen. An dem Massaker, behaupten die Regierungsgegner weiter, seien auch Milizionäre aus umliegenden Dörfern beteiligt gewesen, die der alawitischen Minderheit angehören und fest an der Seite von Präsident Baschar al-Assad stehen
Unter den 220 bis 250 Leichen der Opfer – genaue Angaben gibt es bislang nicht –, die von den Dorfbewohnern am Abend in den Straßen, Häusern und Feldern eingesammelt wurden, so die Berichte, sollen auch viele Frauen und Kinder und nur etwa 50 Rebellen gewesen sein. Gegen 20 Uhr sei die Regierungsarmee wieder aus Tremseh abgerückt. Viele Bewohner des sunnitischen Dorfes unterstützen die Revolution, behauptet die Opposition. In den vergangenen Monaten soll es in Tremseh mehrmals Anti-Assad-Demonstrationen gegeben haben.
Sollte dieser Bericht der Wahrheit entsprechen, wäre es die schlimmste Gräueltat an Zivilisten seit Beginn der Proteste gegen die Regierung vor 16 Monaten (Ende Mai waren in der Ortschaft Al-Hula 108 Männer, Frauen und Kinder getötet worden) – ein „abscheuliches Verbrechen“, wie die Regierungsgegner sagen.
Aber es gibt auch andere Darstellungen der Ereignisse, laut denen die Mehrzahl der Getöteten bewaffnete und im Kampf gefallene Rebellen sind. Eine stammt sogar aus den Reihen der Opposition: Laut BBC soll von Medium Shaam News Network gegenüber der Nachrichtenagentur AFP berichtet worden sein, dass es bei den Gefechten in Tremseh weitaus weniger zivile Opfer gegeben hat: „Obwohl wir noch keine endgültigen Zahlen haben, ist zu diesem Zeitpunkt nicht von mehr als sieben getöteten Zivilisten auszugehen“, erklärte Shaam-News-Network-Aktivist Jaafar nach dem Ereignis. „Der Rest der Toten sind Mitglieder der Freien Syrischen Armee.”
Die syrische Regierung macht die „Terroristen“ der Opposition, die mit „Maschinengewehren israelischer Bauart“ ausgerüstet gewesen sein sollen, für den Vorfall verantwortlich. Bei den Kämpfen seien drei ihrer Soldaten getötet worden, die Rebellen hingegen hätten „große Verluste“ erlitten. Ihr Ziel sei es, die öffentliche Meinung gegen Syrien aufzuheizen. Das Massaker sei während der Sitzung des UN-Sicherheitsrates verübt worden. Es diene dazu, ein militärisches Eingreifen von außen zu legitimieren.
Der Sicherheitsrat berät derzeit über Strafmaßnahmen gegen Assad. Der Vorsitzende des oppositionellen Syrischen Nationalrates (SNC) Abdelbaset Seida forderte heute in Istanbul vom Weltsicherheitsrat, ein Eingreifen nach Kapitel VII der UN-Charta zu beschließen, um die Zivilisten in Syrien zu schützen. Sollte eine UN-Resolution erneut durch ein Veto Russlands verhindert werden, müsse die Kontaktgruppe der Freunde Syriens allein handeln. Die arabischen Staaten rief der SNC auf, die Deserteure der FSA „mit allem, was sie benötigen“, zu unterstützen.
Auch die Kriegsbefürworter in der westlichen Welt versuchen nach allen Regeln der Kunst, den Verhandlungsweg als hoffnungslos verbaut darzustellen. Entsprechend wird in Deutschland das Säbelrasseln lauter. So plädiert der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl-Georg Wellmann für Militäraktionen gegen Syrien – auch ohne die Zustimmung Russlands im UN-Sicherheitsrat. „Ähnlich wie in Libyen sind selektive Luftangriffe auf Panzer und Kampfhubschrauber denkbar, ohne die die syrische Armee Einsätze wie in der vergangenen Nacht nicht ausüben könnte“, sagte Wellmann der Berliner Zeitung. Mit dem wiederholten Besuch ihres Gesandten Kofi Annan in Damaskus hätten die UN ihre stärkste diplomatische Waffe bereits eingesetzt. „Kofi Annan wird freundlich begrüßt, aber das Morden geht weiter. Das kann die UNO nicht hinnehmen.“
In den USA verbreiten neokonservative Medien alarmierende Meldungen. Laut Wall Street Journal habe das syrische Militär bereits damit begonnen, Chemiewaffen aus seinen Lagern zu holen. Unklar sei nur noch, ob die Waffen vor Aufständischen in Sicherheit gebracht oder einsatzbereit gemacht werden, womöglich auch nur als Drohgebärde, zitiert das Blatt Regierungsvertreter in Washington. Syrien besitzt angeblich größere Mengen des Nervenkampfstoffes Sarin und Senfgas. Nach dem Sturz der Assad-Regierung, plant und verkündet Washington bereits, sollen Spezialeinheiten aus dem Nachbarland Jordanien die syrischen Chemiewaffenlager sichern.
„Die Mitteilungen aus den USA, dass der syrische Staat Nervengifte aus den Depots holt, erinnern fatal an die Gerüchte über Massenvernichtungswaffen, die letztlich zum Irakkrieg geführt haben“, kommentiert Wolfgang Gehrcke, Mitglied des Parteivorstandes der Linkspartei die Berichte kritisch. Der Friedenspolitiker warnt – als zusehends einsamer Rufer im Bundestag – vor einer Parteinahme für die FSA und einer militärischen Intervention. Gehrcke fordert darüber hinaus, dass „von allen Seiten auf die Lieferung von Waffen nach Syrien verzichtet“ wird. „Das betrifft Saudi Arabien, Katar, die Türkei ebenso wie Russland.“ Auch die syrische Menschenrechtsbewegung sei aufgerufen, „ihre Vermittlungsfähigkeit in diesem furchtbaren Konflikt unter Beweis zu stellen“. Der Bevölkerung Syriens kann nur „auf dem Wege des Dialogs, nicht der Gewalt geholfen werden“.
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Davon hält die FSA gar nichts. Sie droht nun sogar Racheaktionen gegen alle Regierungssoldaten an, die nicht bis Ende Juli die Seiten gewechselt haben. Wer sich weigere, werde als Verbrecher angesehen und müsse damit rechnen, getötet zu werden, hieß es in einer Erklärung im Namen von Oberst Kassem Saadeddin, die heute auf den Websites der Assad-Gegner veröffentlicht wurde. Davon ausgenommen seien nur Soldaten, die den Deserteuren heimlich Informationen über die Pläne und Operationen der Regierungstruppen zukommen ließen, sichert die FSA mit generösem Gestus zu. Niemand solle sich in Sicherheit wähnen: „Die Revolutionäre haben ihre Augen überall“, so ihre Drohung. Oberst Saadeddin hatte früher bereits mehrfach aus der Provinz Homs Botschaften im Namen der FSA im Inland abgesetzt. Seit Monaten entführen Rebellen regierungstreue Funktionäre; Soldaten und mutmaßliche Unterstützer von Präsident Assad werden von ihnen gefoltert oder gleich erschossen.
(mit dpa)