Macht oder Völkerrecht – was zählt in der Welt?
In Zeiten des immer noch nicht überwundenen Kolonialismus und eines neu entfachten Imperialismus zur Sicherung der Weltherrschaft, der die Militarisierung der Gesellschaften und die Kriegsgefahr zwischen den Staaten vorantreibt, droht das Völkerrecht zu einer leeren Proklamation zu verkommen.
Bush gegenüber würde ich nicht als extremer Legalist auftreten. Ich würde ihm davon abraten, seine Politik ausschließlich an den UN auszurichten. Das Völkerrecht ist keineswegs die Bibel, und die Vereinten Nationen werden nicht retten können. Deshalb ist es manchmal leider notwendig, die UN-Charta zu brechen. Kurzum, ich würde dem mächtigsten Mann der USA sagen, er solle sich als Präsident einer Supermacht einen Handlungsspielraum bewahren. Und dann verantwortungsvoll handeln.
Dies antwortete der international angesehene Völkerrechtler Martti Koskenniemi, langjähriger Berater des finnischen Außenministeriums, auf die Frage der Zeitung Die ZEIT am 9. Dezember 2004: “Angenommen, Sie würden den wiedergewählten Präsidenten Bush beraten: Was würden Sie ihm empfehlen?”
Wir wissen, wie Bush auch ohne diesen Rat seinen “Handlungsspielraum” im März 2003 im Irak genutzt hat. Durch den offen völkerrechtswidrigen Überfall der USA auf den Irak wurden über eine Million Iraker getötet, mehr als vier Millionen, ein Sechstel der Bevölkerung, vertrieben. Bis heute hungern Millionen Menschen im Irak, und die Hälfte der knapp 30 Millionen Iraker lebt in äußerster Armut. Obwohl die irakische Regierung die US-Armee wiederholt aufgefordert hat, das Land zu verlassen, sind immer noch etwa 2.500 Soldaten an verschiedenen Standorten stationiert. Bush wurde wegen dieses schweren Kriegsverbrechens niemals zur Rechenschaft gezogen.
Dieser offene Bruch des Völkerrechts war nicht die Ausnahme in der US-amerikanischen Außenpolitik, sondern eher die Regel. Ihre zahllosen militärischen Interventionen in fremde Länder seit dem Zweiten Weltkrieg1 folgten in den seltensten Fällen den Regeln der UN-Charta und des internationalen Rechts, sondern den Regeln der eigenen Interessen. Der »Völkerrechtsnihilismus« ist auch nicht erst mit Präsident Donald Trump ins Weiße Haus eingezogen, wie es die zahlreichen Reaktionen in der hiesigen Literatur vermuten lassen.2 Schon lange vor Trump wurde der Vorrang der eigenen Interessen vor dem Recht auch öffentlich propagiert. Der Untergang der Sowjetunion Ende 1991 befreite die USA in der Entfaltung und Legitimierung ihrer hegemonialen Weltordnungsplanung von dem bis dahin stärksten Rivalen und den Schranken der von ihr einst selbst errichteten Völkerrechtsordnung. Dabei wurden die Interessen je nach Gelegenheit ökonomisch oder sicherheits- politisch begründet.
Sehr konkret und realistisch formulierte Samuel Huntington die Ziele dieser Politik:
die Interessen amerikanischer Unternehmen unter den Schlagwörtern ›freier Handel‹ und ›offene Märkte‹ zu fördern; die Politik der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds so zu gestalten, dass diese eben diesen Unternehmensinteressen dient; (…) andere Staaten zu zwingen, eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu verfolgen, die amerikanischen Wirtschaftsinteressen entgegenkommt; amerikanische Waffenverkäufe ins Ausland zu fördern, während sie gleichzeitig vergleichbare Verkäufe seitens anderer Staaten zu verhindern suchen; (…) bestimmte Länder als ›Schurkenstaaten‹ einzustufen und sie damit aus globalen Institutionen auszuschließen, weil sie sich weigern, amerikanischen Wünschen nachzugeben.3
Die drei letzten großen Kriege der USA gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak haben nicht nur die Landkarte des Nahen und Mittleren Ostens entscheidend verändert. Hier wurden Protektorate eingerichtet und – in Palästina – ein permanenter Kriegszustand geschürt, die jede Berufung auf das Recht als verlogen, ja zynisch erscheinen lässt. Die Rekolonisierung des Mittleren Ostens, das heißt die Wiederausrichtung seiner Wirtschaftsstruktur und seiner Reichtumsquellen auf die Interessen der USA, war ohne eine Lockerung zentraler Prinzipien des Völkerrechts nicht zu erreichen. So diente der Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 der US-Führung zur Ausrufung des weltweiten Ausnahmezustandes, mit dem sie sich ermächtigte, unter dem Diktat des Terrors zur Verteidigung einer Weltordnung aufzutreten, in der von jetzt ab sie allein die Feinde der zivilisierten Welt definiert und bekämpft. Damit beanspruchte die US-Administration drastische Revisionen an den überkommenen Regeln der Friedenssicherung für sich.4 Es mehren sich die Stimmen, die zumindest das zentrale Prinzip der UN-Charta, das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4, für tot erklären.5 Die seit 1945 entwickelten Prinzipien werden nicht länger als richtungsweisend für die Weiterentwicklung des Völkerrechts erachtet, sondern unter dem Vorwurf ihrer Ineffizienz und Ohnmacht angesichts der neuen Gefahren einer radikalen Umwertung unterworfen.
Regelbasierte Ordnung
An die Stelle der Völkerrechtsordnung ist inzwischen die “regelbasierte Ordnung” getreten, die auch der deutschen Außenpolitik zu ihrer zweifelhaften Legitimation dient. Sie hat den Vorzug, dass sie die weitgehend selbst definierten Regeln besser mit den eigenen Interessen verbinden kann. Dabei werden altbekannte oder auch neue Konstruktionen entwickelt, die alle das Ziel haben, die strengen Grenzen des strikten Gewaltverbots zu lockern, um den einzelnen Staaten die eigene Entscheidung über den Einsatz der Gewalt zurückzugeben, so wie sie sie vor dem Zweiten Weltkrieg als Ausdruck ihrer Souveränität gehabt hatten. So müssen die “humanitäre Intervention”, die “präemptive Verteidigung” oder die “responsibility to protect” je nach Lage und Erfordernis dazu herhalten, Ausnahmen vom Gewaltverbot zu begründen.
Die “humanitäre Intervention” wurde vor allem zur Legitimierung des Überfalls der NATO auf Jugoslawien 1999 benutzt, ein völkerrechtswidriger Angriff auf einen souveränen Staat, wie später vom damaligen Bundeskanzler Schröder freimütig eingeräumt wurde.6 Es lag kein Mandat des UN-Sicherheitsrats vor, und die behauptete humanitäre Katastrophe, die verhindert werden müsse, war eine Erfindung mit gefälschten Beispielen.7 Das britische Foreign Office hatte schon Jahre zuvor mit überzeugender Begründung auf die Untauglichkeit dieser Legitimation als Ausnahme vom Gewaltverbot hingewiesen:
Die überwältigende Mehrheit der zeitgenössischen Rechtsmeinung spricht sich gegen die Existenz eines Rechts zur (einseitigen) humanitären Intervention aus, u. zw. aus drei Gründen: erstens enthalten die UN-Charta und das Völkerrecht insgesamt offensichtlich kein spezifisches der- artiges Recht; zweitens liefert die Staatenpraxis in den letzten zweihundert Jahren und besonders nach 1945 allenfalls eine Hand voll wirklicher Fälle einer humanitären Intervention, wenn überhaupt – wie die meisten meinen; und schließlich, aus Gründen der Vorsicht, spricht die Möglichkeit des Missbrauchs stark dagegen, ein solches Recht zu schaffen.8
Die “präemptive Verteidigung” ist nichts anderes als die Vorverlagerung der militärischen Verteidigung in eine Situation, die nicht bereits ein Angriff oder ein unmittelbar bevorstehender Angriff (präventive Verteidigung) ist, wie in Art. 51 UN- Charta gefordert. Die Verteidigung soll präemptiv schon im Vorfeld eines solchen Angriffs zur Abwehr einer abstrakten Bedrohungslage erlaubt sein. Insbesondere die USA vertreten diese Erweiterung ihres Verteidigungsradius und haben sie in ihre “Nationale Sicherheitsstrategie” aus den Jahren 2002 und 2006 eingebaut. Die überwiegende rechtswissenschaftliche Literatur ist jedoch skeptisch gegenüber dieser Ausdehnung des in Art. 51 UN-Charta gesteckten Verteidigungsrahmens und lehnt ihn ab.9 Welche zynischen Kriege aus dieser “Legitimation” entstehen können, zeigt der ebenfalls völkerrechtswidrige Überfall der USA auf den Irak im März 2003.
Die “responsibility to protect” ist ein Konzept,10 welches im Auftrag des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Anan entwickelt wurde, um militärische Interventionen einzelner Staaten unter Umgehung des UN-Sicherheitsrats (Beispiel Jugoslawien 1999) zu verhindern. Es postuliert eine Selbstverständlichkeit, dass jeder Staat verpflichtet ist, seine Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Sollte er dazu nicht in der Lage sein, so habe die internationale Gemeinschaft die Verantwortung, den Staat bei seinen Aufgaben zu unterstützen und gegebenenfalls selbst kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um die Bevölkerung zu schützen. Ausdrücklich wird jedoch betont, dass dabei jeder Eingriff in die Souveränität eines Staates des Mandats des UN-Sicherheitsrats bedarf. Dennoch wird versucht, mit diesem Konzept den Sicherheitsrat zu umgehen. Die Intervention einiger NATO- Staaten in Libyen im März 2011 ist hierfür ein Beispiel. Es lag zwar ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vor, welches die Staaten aufforderte, eine Flugverbotszone über Libyen zu errichten und “alle notwendigen Maßnahmen zum Schutze der Bevölkerung” zu ergreifen.11 Dieses Mandat verbot aber ausdrücklich die Entsendung von Besatzungstruppen und erstreckte sich nicht auf die Verlängerung des Mandats bis zur Eliminierung von Libyens Präsidenten Muammar Gaddafi Ende Oktober 2011. Allgemein wird diese Intervention als ein Anwendungsfall der Responsibility-Formel präsentiert,12 um den völkerrechtswidrigen Missbrauch des Mandats zu verdecken.
Hinter all diesen Konzepten und Konstruktionen steht der Kampf um die Wirksamkeit und Reichweite des zwingenden Gewaltverbots durch Art. 2 Z. 4 UN-Charta. Kofi Annan hatte die Umgehung des Sicherheitsrats durch die NATO im Jugoslawienkrieg für die Zukunft mit der Formel der “responsibility to protect” zu blockieren versucht. Kurz zuvor hatte sich die NATO jedoch bereits auf dem Gipfeltreffen des Nordatlantikrats im April 1999 – noch während der Kampfhandlungen – in ihrem Neuen Strategischen Konzept auf die Relativierung des Gewaltverbots mit der schlichten Formel geeinigt: “Mit der UNO, wenn möglich, ohne die UNO, wenn nötig”13.
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NORMAN PAECH ist emeritierter Professor für öffentliches Recht mit Schwerpunkt Verfassungsschutz- und Völkerrecht an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von IALANA und IPPNW. Für die Partei Die Linke war er von 2005 bis 2009 Ab- geordneter im Deutschen Bundestag. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a.: Norman Paech/Gerhard Stuby: “Machtpolitik in den Internationalen Beziehungen”, Hamburg 2013; Norman Pach: “Menschenrechte”, Köln 2021. Seine Webseite: www.norman-paech.de
1 Vgl. William Blum, Killing Hope. Zerstörung der Hoffnung. Bewaffnete Interventionen der USA und des CIA seit dem 2. Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2008
2 Vgl. Stefan Talmon, “Die USA unter Präsident Donald Trump: Totengräber des Völkerrechts”, in: verfassungsblog.de, 27. März 2019; Christian Schaller, “‘America First’ – Wie Präsident Trump das Völkerrecht strapaziert”, SWP- Studie, 27. Dezember 2019, https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019S27/; Ronen Steinke, Macht vor Recht, in: SZ digitale Ausgabe, 30. April 2019, https:// sz.de/1.4425898
3 Samuel P. Huntington, “Die einsame Supermacht”, in: Foreign Affairs, March/ April 1999, deutsch in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/1999, S. 548 ff.
4 So vor allem in der “National Security Strategy” vom September 2002.
5 So z. B. Michael J. Glennon, “How War Left the Law Behind”, in: New York Times, 21. November 2002, S. A 33; Michael J. Glennon, “Showdown at Turtle Bay. Why the Security Council Failed”, in: Foreign Affairs, May/June 2003, S. 3 ff.
6 Vgl. https://www.merkur.de/politik/krim-krise-altkanzler-schroeder-kritisiert-
7 Norman Paech, “24. März 1999: Bombardierung Jugoslawiens”, in: NachDenkSeiten, 2. März 2024, http://www.nachdenkseiten.de/?p=111879
8 UK Foreign Office Policy Document No. 148, British Yearbook of International Law, 57/1986, S. 614
9 Vgl. “Das Konzept der präemptiven Selbstverteidigung aus Sicht der internationalen völkerrechtlichen Literatur”, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 2 – 3000-049/07
10 “Responsibility to Protect”, Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Ottawa 2001
11 Vgl. UN-Resolution 1973 (2002) vom 17. März 2011
12 Vgl. Global Centre for the Responsibility to Protect, “Libya and the Responsibility to Protect”, Occasional Paper, 5. Oktober 2012, https://www.globalr2p.org/publications/libya-and-the-responsibility-to-protect/