„Kooperationen mit dem Militär und die Diskussion darüber gefährden unsere Sicherheit“
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Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen erhebt schwere Vorwürfe gegen Ingo Niebel und kritisiert die Zivil-militärische Zusammenarbeit der NATO in Afghanistan –
Von THOMAS WAGNER, 16. Juli 2010 –
Die humanitäre Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen wendet sich entschieden gegen Vorstöße des NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen und des deutschen Entwicklungshilfeministers Dirk Niebel, nach denen zivile Organisationen mit den NATO-Truppen in Afghanistan enger zusammenarbeiten sollen.
„Allein die Diskussion über eine Kooperation erschwert unsere Arbeit ungemein“, so Dr. Tankred Stöbe, der Vorstandsvorsitzende der humanitären Hilfsorganisation auf der Jahrespressekonferenz der Ärzte ohne Grenzen am Freitag in Berlin. Nur die völlige Unabhängigkeit und Neutralität ermögliche seiner Organisation in Afghanistan den Zugang zu den Menschen, die medizinische Nothilfe benötigten. Nur so fühlten sie sich sicher genug, in eine Gesundheitseinrichtung zu kommen.
„Um helfen zu können, müssen humanitäre Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen neutral, unparteiisch und unabhängig sein – und auch so wahrgenommen werden. Kooperationen mit dem Militär und die Diskussion darüber gefährden unsere Sicherheit, unsere Arbeit – und damit letztlich das Leben unserer Patienten“, so Stöbe.
Auf Nachfrage von HINTERGRUND zeigte er sich „sehr, sehr besorgt“ über die derzeit eingeschlagene Strategie der Aufstandsbekämpfung in Afghanistan, die auf eine immer stärkere Verzahnung von zivilen und militärischen Komponenten aufbaut. „Wir glauben, dass das nicht funktioniert.“ Eine Reihe von anderen humanitären Hilfsorganisationen, wenn auch nicht alle in Afghanistan tätigen NGOs, würde das ganz ähnlich sehen.
Bereits am 30. Juni hatte die Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international die systematische Verzahnung der Arbeit von entwicklungspolitischen Hilfsorganisationen mit militärischem Handeln kritisiert. Geschäftsführer Thomas Gebauer sagte: „Die Vermischung von ziviler Hilfe und militärischen Einsätzen macht unsere Projektpartner verstärkt zur Zielscheibe. Helfer und ausländische Soldaten verschmelzen in der Wahrnehmung der Bevölkerung. Die Folge sind tödliche Angriffe mit Opfern vor allem unter den lokalen Mitarbeitern der Hilfswerke.“
Der frühere Bundeswehrarzt Reinhard Erös, der Kinder-Hilfsprojekte mit 2000 afghanischen Mitarbeitern leitet, hatte schon im Mai gesagt, dass die Welthungerhilfe die Präsenz der Bundeswehr als Sicherheitsrisiko für ihre Arbeit empfinde und sich wegen der Bundeswehr zurückgezogen haben.
Auch Ärzte ohne Grenzen hatte das Land im Jahr 2004 nach 24 Jahren Präsenz wegen der Ermordung von fünf ihrer Mitarbeiter zunächst verlassen. Nach langen und intensiven Verhandlungen mit allen Konfliktparteien hat die Organisation im Oktober und im November 2009 in Kabul und in der Provinz Helmand wieder Projekte eröffnet. Die medizinische Not sei in den vergangenen Jahren eher größer geworden, so Stöbe.
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Um ihre Arbeit vor Ort durchführen zu können, habe Ärzte ohne Grenzen mit allen kriegführenden Parteien, mit afghanischen und internationalen Sicherheitskräften sowie mit Oppositionsgruppen ausgehandelt, dass sie ihre Waffen von den betreffenden Krankenhäusern in Kabul und Lashkargah fernhalten. Auch die eigenen Sicherheitsleute der Hilfsorganisation seien in Afghanistan unbewaffnet.
Ärzte ohne Grenzen bietet heute in zwei Krankenhäusern in Afghanistan kostenlose Hilfe an. Ingesamt arbeiten dort mehr als 180 Mitarbeiter. Davon 160 afghanische und 22 internationale. Die Arbeit werde, so Stöbe, ausschließlich aus privaten Spenden finanziert: „Wir nehmen von keiner an dem Konflikt beteiligten Parteien Geld. Auch nicht von der deutschen Regierung.“