Kriege

Kollektive Bestrafung

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Das türkische Militär belagert kurdische Städte und ermordet Zivilisten. Deutschland unterstützt den Autokraten Erdogan in seinem Feldzug gegen die kurdische Befreiungsbewegung. –

Von THOMAS EIPELDAUER, 22. Dezember 2015 – 

Tausende Menschen laufen in Reihen die engen Straßen zwischen Sirnak und Cizre entlang. Arm in Arm gehen sie, einige rufen: „PKK halktir, halk burada“, die PKK ist das Volk und das Volk ist da. Sie protestieren gegen die Ausgangssperren, die von der türkischen Regierung über zahlreiche mehrheitlich kurdische Städte im Südosten des Landes verhängt wurden. Militär und Polizei sperren die Straße, aus großer Distanz schießen sie Tränengasgranaten und zerstreuen die Menge.

Ähnliche Szenen spielten sich vergangene Woche in vielen türkischen Regionen und Städten ab. Friedliche Massenproteste gegen den aufflammenden Krieg der Machthaber in Ankara gegen die kurdische Bevölkerung werden rasch und mit großer Brutalität unterbunden, wo immer sie stattfinden. Die türkische Regierung gibt vor, einen „Anti-Terror-Einsatz“ gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) durchzuführen. Menschenrechtsorganisationen und internationale Beobachter sprechen aber bereits von einem „Krieg gegen die Kurden“ insgesamt.

Krieg gegen Zivilisten  

Die politische Lage im Südosten der Türkei ist nach Monaten von repressiven anti-kurdischen Attacken angespannt wie seit Langem nicht mehr. Sur, Silopi, Nusaybin und Cizre befinden sich seit mehr als einer Woche im Ausnahmezustand. Wer auf die Straße geht, muss damit rechnen, erschossen zu werden. Mit Panzern, Soldaten und Hubschraubern belagern die türkischen Streitkräfte Städte und Dörfer, Amateuraufnahmen zeigen den Beschuss von Wohnvierteln mit Granaten. Im Wohnbezirk Cud in Cizre hat die Armee die Bevölkerung aufgefordert, „mit weißen Fahnen“ in der Hand ihre Häuser zu verlassen, der Bereich steht unter Artilleriebeschuss.

Über hundert getötete „PKK-Kämpfer“ meldeten türkische Behörden Ende vergangener Woche. Während die deutschen Massenmedien diese Kategorisierung unkritisch übernahmen, glaubt in den kurdischen Landesteilen kaum jemand an diese Einordnung. „Es waren vor allem sehr junge oder alte Menschen, die sie ermordet haben“, erzählt Azad aus Diyarbakir gegenüber Hintergrund. „Die PKK hat noch gar nicht richtig angefangen, sich einzumischen. Es sind protestierende Jugendliche und Zivilisten, die das türkische Militär gerade tötet.“

Ähnlich kommentiert Emine Ayna, Co-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), gegenüber dem kurdischen Informationszentrum Civaka Azad: „Der türkische Staat führt einen gezielten Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Die Aussagen, es handele sich um Operationen gegen die PKK, dienen allein dazu, die Öffentlichkeit in die Irre zu führen. Erdogan nimmt Rache an den Kurden, weil sie zu einem Machtverlust der AKP führten und Erdogans Plänen einer Präsidialdiktatur im Weg stehen. Bisher wurde bei den Angriffen kein einziger Kämpfer der PKK getötet. Dagegen sind Dutzende ziviler Todesopfer zu beklagen. Während es sich bei dem jüngsten Opfer um ein gerade einmal 35 Tage altes Baby handelt, wurden auch mehrere Personen ermordet, die älter als 80 Jahre alt sind. Hunderte Menschen haben zum Teil schwerste Verletzungen davongetragen.“

Alleine in den vergangenen 48 Stunden berichtet die Nachrichtenagentur Firat News über einen toten 11-jährigen in Silopi durch Panzerbeschuss, ein im Zuge des Staatsterrors verletztes einjähriges Baby in Cizre und zwei tote Zivilisten in Silopi.

Spiel mit dem Feuer   

Das Ziel, das das Regime unter Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und dem autokratisch herrschenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan offenbar nach dem Ende des sogenannten Friedensprozesses zwischen Ankara und der PKK verfolgt, ist das einer vollständigen Zerschlagung der kurdischen Befreiungsbewegung. Allerdings weiß auch Ankara, dass die PKK in den kurdischen Landesteilen auf Zustimmung in breiten Bevölkerungsschichten zählen kann.

Deshalb führt sie eine Strafaktion durch, die sich gegen die gesamte Bevölkerung in Provinzen wie Sirnak, Mardin, Diyarbakir oder Hakkari richtet. Staatspräsident Erdogan hatte mehrfach in den vergangenen Monaten angekündigt, die PKK zu „vernichten“, dies soll nun offenbar durch massenhaften und flächendeckenden Terror gegen kurdische Städte und Dörfer realisiert werden, in der Hoffnung, die kurdische Bevölkerung würde des Konflikts überdrüssig und die PKK verlöre ihr Rekrutierungspotential.

Das Gegenteil allerdings dürfte der Fall sein. Die kurdische Jugend in den Städten radikalisiert sich zunehmend, die als Stadtguerilla fungierende Jugendorganisation der PKK in den Metropolen (YDG-H) hat großen Zulauf. Murat Karayilan, eine der führenden Persönlichkeiten der Arbeiterpartei Kurdistans, spricht bereits von einer „neuen Phase“ im Kampf der Kurdinnen und Kurden: „Der türkische Staat will den Willen der Kurden brechen, sie unterwerfen und sie zu Sklaven machen.“ Der so entstehende Konflikt sei dabei, sich zum „Bürgerkrieg“ zu entwickeln. Allerdings, so Karayilan, sei auch der Widerstand der Kurden auf einem neuen Niveau angelangt: „Die Stimme der kurdischen Jugend von Kobane (…) erklingt heute in Cizre, Silopi, Nusaybin, Kerboran und Sur, wo Menschen im gleichen Geist Widerstand leisten“, erinnert er an den siegreichen Widerstand gegen den „Islamischen Staat“ in der syrischen Kurdenstadt Kobane. Die jetzigen Angriffe seien ein Zeichen der „Schwäche des Staates“, der „Volkswiderstand“ aber sei „stärker als alles andere“. Die HPG, der militärische Arm der PKK, so Karayilan, sei bislang noch nicht an den Kämpfen beteiligt. „Ich möchte die AKP, den Staat und das Militär warnen, dass sie mit dem Feuer spielen. Wenn sie so weitermachen, wird die Guerilla in den Krieg auf eine sich selbst aufopfernde Weise eingreifen und das Band zwischen dem kurdischen Volk und der türkischen Republik wird endgültig reißen.“

Deutsche Amtshilfe

Die Gewaltspirale, die zum Zwecke des Machterhalts von Staatspräsident Erdogan angetrieben wird, kommentieren die ansonsten so um Menschenrechtsrhetorik bemühten Führer der „westlichen Wertegemeinschaft“ mit gelassenem Schweigen. Kaum Rügen sind zu vernehmen für jenen Mann, der nun „sein eigenes Volk schlachtet“, wie man gegen den syrischen Machthaber Baschar al-Assad zu betonen nicht müde wurde.

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Der „Partner“ in Ankara hat vergleichbare Kritik nicht zu erwarten, schon gar nicht so etwas wie Sanktionen. Offenbar kann man ohne Tadel der „internationalen Gemeinschaft“ Wohngebiete mit Granaten beschießen – man muss nur NATO-Mitglied sein.  Im Gegenteil: Am gestrigen Montag teilte die Bundesanwaltschaft der Presse die Eröffnung einer Anklage gegen einen 50-jährigen Mann aus Nordrhein-Westfalen mit. Vorgeworfen wird ihm, eine leitende Funktion in Exilstrukturen der PKK innezuhaben. Während man offenbar staatlichen Terrorismus durch polizeiliche, militärische, ökonomische und diplomatische Zusammenarbeit honoriert, bleibt die PKK auf der „Terrorliste“ von EU und USA – allem Gerede von Menschenrechten und Recht auf Selbstbestimmung zum Trotz.

 

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