Konflikt um Bergkarabach

Kapitulation vor dem Recht des Stärkeren

Die Sorge vor einer ethnischen Säuberung des armenisch besiedelten Bergkarabach wächst: Nachdem Aserbaidschan die Kontrolle übernommen hat, versuchen viele Armenier in dem Gebiet zu fliehen. Die "Weltgemeinschaft" kapituliert.

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Armenier aus Bergkarabach auf der Flucht vor den Angriffen Aserbaidschans.
Foto: Russische Streitkräfte, Lizenz: CC BY-SA, Mehr Infos

Die Bilder, die aus dem besiegten, armenisch besiedelten Bergkarabach an die Weltöffentlichkeit gelangen, sind beschämend: Abertausende von Menschen, die aus umliegenden Dörfern in langen Flüchtlingstrecks zum Hauptort des Gebiets Stepanakert ziehen und in dieser von Artilleriebeschuss und dem massiven Einsatz von Drohnen getroffenen Stadt in den Straßen hausen. Abertausende andere wiederum, welche die im Umfeld des Flughafens stationierten russischen Friedenstruppen verzweifelt um Schutz anflehen. Gebrechliche und alte Menschen, die in Trauer in ihren Bunkern ausharren. Und nicht zuletzt Kinder, bis an die Knochen abgemagert, die verletzt in einem Spitalbett liegen.

Im Paradies leben …

Seit Mittwoch (21. September) ist Bergkarabach nun ganz unter der Kontrolle von Aserbaidschan. Die armenischen Verteidiger wurden innerhalb von 24 Stunden zur Kapitulation gezwungen. Innerhalb dieser Zeit sollen gemäß letzten Angaben der Ombudsstelle für Menschenrechte in Bergkarabach 200 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt worden sein. Am Mittwochabend deklarierte Aserbaidschans Herrscher Ilham Alijew in einer Ansprache an die Nation seinen Triumph: „Nach der Kapitulation der verbrecherischen Junta ist diese Quelle der Spannung, diese Giftküche, bereits Geschichte“. Und er versprach den 120.000 Karabach-Armeniern, unter seiner Herrschaft fortan „ein Leben im Paradies, in dem ihre religiösen und kulturellen Rechte respektiert werden“.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind drei Kriege um die Frage ausgebrochen, ob die armenische Bevölkerung Bergkarabachs Recht auf Selbstverwaltung habe: Der erste Krieg 1991–1994 endete mit einem Sieg der Armenier. Noch waren beide Nachbarländer von Moskau gleich schlecht ausgerüstet, es gab ein militärisches Gleichgewicht. Die Karabach-Armenier bauten in dieser Region ihren „Staat“ auf, der zwar von niemandem anerkannt wurde, der den 120.000 Einwohnern aber Schutz garantierte. Beim zweiten Krieg 2020 hatten die Armenier keinerlei Chance auf einen Sieg: Militärisch hatte sich das Gleichgewicht mittlerweile zugunsten Aserbaidschans enorm verändert. Nicht nur, weil Aserbaidschan dank seinen Petrodollars eine modern ausgerüstete Armee hatte auf die Beine bringen können. 2020 zog auch die Türkei in diesen Krieg ein, die Aserbaidschan militärisch und auf dem diplomatischen Parkett uneingeschränkt unterstützte. Beide Länder sprechen eine türkische Sprache und feiern ihre Allianz als eine von „zwei Staaten und einer Nation“.

Trügerische Allianzen

Spätestens beim zweiten Krieg um Bergkarabach hatte auch Moskau die Seiten gewechselt: Russland führte sich Jahrzehntelang als die Schutzmacht der Armenier auf. Aus einer Urangst der Armenier, die Aserbaidschaner oder die Türken könnten von Neuem einen Vernichtungsfeldzug gegen sie wagen, hatte Armenien ab 1991 mit Moskau Verträge über eine strategische Allianz geschlossen und den Russen als einzige Republik des Südkaukasus das Recht eingeräumt, Militärbasen auf armenischem Territorium zu halten.

Im Jahr 2018 spülte eine sogenannte „samtene Revolution“ Nikol Paschinjan an die Macht. Obwohl die samtene Revolution in Armenien im Gegensatz zu manchen anderen Farbrevolutionen im Ex-Sowjetraum friedlich abgelaufen war und die neue Regierung immer wieder ihre Treue zu Moskau beteuerte, wurden die Beziehungen zwischen den „strategischen Partnern“ nur noch von tiefem Misstrauen gezeichnet. Der russische Präsident Wladimir Putin ist bekannt dafür, allergisch auf alles zu reagieren, was nach einer „Farbrevolution“ aussieht. Hatte Moskau schon 2018 die Seiten gewechselt? Das Verhältnis verschlechterte sich jedenfalls nach dem 2. Krieg um Bergkarabach, und es erreichte ein neues Tief, nachdem die aserbaidschanische Armee wiederholt ins Territorium Armeniens einmarschierte, was Russland entgegen seinen Verpflichtungen als strategischer Partner aus der Position eines teilnahmslosen Zuschauers beobachtete.

Ein Trauerspiel für die Weltgemeinschaft

Die Kapitulation Bergkarabachs ist das Ende eines Trauerspiels, das sich in dieser geographisch isolierten Region seit neun ganzen Monaten abspielt, ohne die Institutionen der Weltgemeinschaft moralisch aufrütteln zu können. Seit neun Monaten ließ der aserbaidschanische Autokrat Ilham Alijew die Route über den Latschin-Korridor, die das Mutterland Armenien mit der armenischen Exklave verbindet, blockieren. Seine 120.000 Bewohner blieben ohne Nahrungsmittel, ohne Medikamente, ohne Treibstoff. Die Politik der Belagerung und des Aushungerns hatte in Bergkarabach zum Ziel, die Armenier dazu zu zwingen, eine Existenz als Minderheit ohne Autonomie und ohne kulturelle Rechte in Aserbaidschan zu akzeptieren; „Sie haben die Wahl“, wiederholte bei jeder Gelegenheit der Autokrat Ilham Alijew. Sie können sich integrieren oder fliehen.

Die Politik des Aushungerns hatte den Willen der Karabach-Armenier auf Selbstverwaltung offensichtlich nicht brechen können. Gemäss einer letzten Umfrage, die Mitte August von der gemeinnützigen Organisation Hub Artsakh vor Ort durchgeführt wurde, lehnen 98,8 Prozent der Bevölkerung in Bergkarabach eine „Integration“, wie sie dem Autokraten Ilham Alijew vorschwebt, konsequent ab. Letzten Dienstag begann der neueste Angriff Aserbaidschans.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

In Bergkarabach spiegelt sich faktisch die Kapitulation der Weltgemeinschaft vor dem „Recht“ des Stärkeren wider – genau das also, was der Westen in der Ukraine so unbedingt hat verhindern wollen. Nun schieben sich Russland und der Westen gegenseitig die Schuld für diese unsägliche Tragödie zu: „Was kann ich denn tun?“, fragte sich Wladimir Putin auf einer Plenarsitzung des Östlichen Wirtschaftsforums (EEF) in Wladiwostok am 12. September, rhetorisch. Die armenische Führung habe in Prag die Souveränität Aserbaidschans über Karabach im Wesentlichen anerkannt und damit den Status über Karabach als gelöst erklärt, führte er aus.

Wladimir Putin und seine Presseorgane bezichtigen seither Nikol Paschinjan in der Karabach-Frage des Verrates. Diese Schlammkampagne kann dabei kaum darüber hinwegtäuschen, dass sich Ilham Alijew und sein Alliierter in Ankara nichts vorschreiben lassen. Neun Monate lang war Moskau nicht fähig, die Bedingungen des Waffenstillstands von 2020 umzusetzen. Dieser damals persönlich von Putin initiierte Vertrag hatte einen ungehinderten Verkehr von Menschen und Waren durch den Latschin-Korridor vorgesehen.

Auf die Ereignisse in Bergkarabach reagiert auch der Westen machtlos und verlegen. Die USA und die EU, die in den letzten Jahren im Südkaukasus, diesem ehemaligen Hinterhof der Sowjetunion, zunehmend als geostrategische Akteure auftreten, hatten ihre eigene Version für einen Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan und Bergkarabach präsentiert. Unter der Vermittlung der EU haben Aserbaidschans Ilham Alijew und Armeniens Nikol Paschinjan am 6. Oktober 2022 eine Erklärung unterzeichnet, in der sie die territoriale Integrität anerkennen. Zum ersten Mal nach 1991 hatte ein armenischer Ministerpräsident damit öffentlich zuzugestehen, dass Bergkarabach seinen Anspruch auf Selbstbestimmung aufzugeben habe und dass die armenische Nation endgültig einen Strich unter alldem ziehen müsse, wofür sie in den letzten 30 Jahren teils mit großen Opfern gekämpft hatte. Als Gegenzug sollte ein internationaler Mechanismus garantieren, dass die 120.000 Armenier Bergkarabachs in ihrer Heimat in Würde und Sicherheit weiterleben dürften. Das blieb ein Versprechen auf Papier, da die USA und die EU den Beteuerungen Ilham Alijews bis zuletzt Glauben schenkten und Sanktionen gegen ein immer aggressiveres Aserbaidschan scheuten.

Ob und wie viele Armenier nach diesem Krieg in Bergkarabach nach den Bedingungen Ilham Alijew leben und überleben werden, ist völlig offen. Glaubt man armenischen Medien, dann ist der Wunsch nach einem Korridor, der eine sichere Flucht der Bevölkerung nach Armenien ermöglichen würde, groß. Damit wäre die ethnische Säuberung Bergkarabach vollendet.

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Dieser Text erschien zunächst bei Globalbridge.

Die Autorin

Amalia van Gent hat seit 1980 aus der Türkei und Griechenland berichtet und war zwischen 1988 und 2009 Korrespondentin der NZZ in Istanbul. Zuletzt von ihr erschienen: „Aufbruch am Ararat. Das neue Armenien“ (Kolchisverlag 2020).

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