Israel - Palästina

„Israel hat sich ins Abseits manövriert“

Ein Angriff bewaffneter Palästinenser vom Gazastreifen aus auf Israel hat nicht nur die israelische Armee überrascht. Die hat mit massiven Bombardements auf den Gazastreifen geantwortet und will nun die islamistische Hamas vernichten – ohne Rücksicht auf die Zivilisten. Um zu verstehen, was geschehen ist, ist ein Blick auf Ursachen, Hintergründe und Perspektiven notwendig.

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Weltweit finden Solidaritätsdemonstrationen für ein freies Palästina statt. Hier am 19. November 2023 in Rotterdam.
Foto: D. Trung Lizenz: CC BY-SA 4.0, Mehr Infos

Ein beispielloser Angriff der palästinensischen Qassam-Brigaden (Hamas) und der verbündeten Al-Quds-Brigaden (Palästinensischer Islamischer Jihad) am 7. Oktober 2023 hat seitens der israelischen Streitkräfte zu einer unerbittlichen Bombardierung des Gazastreifens geführt, die seit mehr als einem Monat anhält.

Die Qassam-Brigaden töteten nach israelischen Angaben (Stand 11. November 2023) 1200 israelische Soldaten, Milizen und Zivilisten in Militärbasen und Ortschaften entlang des östlichen Gazastreifens. Sie nahmen mehr als 200 Personen gefangen und brachten sie in den Gazastreifen zurück mit dem Ziel, sie gegen mehr als 6000 palästinensische Gefangene auszutauschen.

Die israelische Armee tötete seit dem 7. Oktober (Stand 11. November 2023) mehr als 11.000 Personen im Gazastreifen – darunter 4506 Kinder, 3027 Frauen. Die Zahl der Verletzten wird vom Gesundheitsministerium in Gaza unter Berufung auf die Kliniken, die noch arbeiten, und auf den Palästinensischen Roten Halbmond mit mindestens 27.490 angegeben. Darunter 8663 Kinder und 6327 Frauen. Mit ihrem Bombardement hat die israelische Armee Flüchtlingslager, Wohnviertel, Felder, Gärten, Fabriken, Schulen, Krankenhäuser, Wassertanks, Straßen, Brücken zerstört.

Im besetzten Westjordanland haben Kämpfe zwischen den Palästinensern auf der einen und Siedlern und Besatzungstruppen auf der anderen Seite zugenommen. Mindestens 183 Palästinenser wurden getötet (Stand 11.11.2023), darunter 44 Kinder und eine Frau. Mehr als 2400 Personen wurden verletzt. Israel meldet seit dem 7. Oktober mindestens 1405 Tote und mindestens 5600 Verletzte.

(Die Zahlen dienen der Orientierung und sind in Gaza seit dem 11.11.23 weiter angestiegen.)

Am 24. Oktober traf sich der UN-Sicherheitsrat in New York, um über die Lage zu beraten. UN-Generalsekretär António Guterres sprach kurz zur Eröffnung und verurteilte „die entsetzlichen und beispiellosen Terrorakte der Hamas vom 7. Oktober in Israel“, wie er es schon unmittelbar am Tag des Geschehens getan hatte. Dann mahnte er, es sei „auch wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht in einem Vakuum stattgefunden haben. Das palästinensische Volk hat 56 Jahre lang unter einer erdrückenden Besatzung gelitten. Es hat miterlebt, wie sein Land immer mehr von Siedlungen verschlungen und von Gewalt geplagt wurde, wie seine Wirtschaft unterdrückt, seine Menschen vertrieben und seine Häuser zerstört wurden. Ihre Hoffnungen auf eine politische Lösung für ihr Leid haben sich in Luft aufgelöst“.

Der Widerstand

Von 1967 bis 2005 war der Küstenstreifen Gaza unter israelischer Besetzung. Die bei den Parlamentswahlen 2006 gewählte Hamas wurde von Israel, den USA und den meisten europäischen und NATO-Staaten (bis auf die Türkei) als „Terrororganisation“ kriminalisiert. 2007 riegelte Israel Gaza zu Land, zu Wasser und aus der Luft ab.

Geprägt von einem Leben unter israelischer Besatzung und Belagerung, eingesperrt ohne Rechte, ohne wirtschaftliche Perspektive, ist im Gazastreifen eine neue Generation für den Widerstand herangewachsen. Militärisch ausgebildet durch den Iran und die libanesische Hisbollah starteten die Qassam-Brigaden (Hamas) und die Al-Quds-Brigaden (Palästinensischer Islamischer Jihad) den Angriff „Al-Aqsa-Flut“ am 7. Oktober. Der Durchbruch des mehrfach gesicherten Grenzzauns, das Eindringen vom Meer und aus der Luft mit motorisierten Gleitschirmen bei dichtem Raketenbeschuss auf Israel wurde in der arabischen Welt von der einfachen Bevölkerung wie ein „Ausbruch aus dem Gaza-Gefängnis“ begrüßt.

Das Ziel war die Zerstörung von Militärbasen israelischer Spezialkräfte, die Gaza ausspähten und die Festnahme von Israelis, um sie in den Gazastreifen zu bringen und gegen 6000 palästinensische Gefangene auszutauschen. Die Operation „Al Aqsa-Flut“ richtete sich auch gegen die Erniedrigung von muslimischen Gläubigen in der Al-Aqsa-Moschee, die in den letzten Jahren und Monaten immer mehr zugenommen hatte. Und sie richtete sich gegen die Angriffe und Razzien gegen Palästinenser im von Israel besetzten Westjordanland. Seit Anfang des Jahres waren mehr als 200 Palästinenser dabei getötet worden.

Die israelischen Armeekräfte waren an diesem Oktobertag, dem „Laubhüttenfest“, einem Feiertag, in dem Gebiet deutlich reduziert, weil sie in das besetzte Westjordanland abkommandiert worden waren, um Siedler zu schützen. Die militärischen Einheiten, die am späten Vormittag gegen den Angriff der Qassam-Brigaden vorgingen, waren unkoordiniert und schossen nach Angaben von israelischer Bevölkerung und Piloten, die später darüber sprachen, auf alles, was sich bewegte. Zu dem Zeitpunkt dürfte ein großer Teil der Brigaden sich bereits mit den Gefangenen in den Gazastreifen zurückgezogen haben, während einfache Palästinenser, die den Kämpfern aus Gaza gefolgt waren und plünderten, getötet wurden.

Israelische Medien, die ausführlich recherchiert haben, halten es für möglich, dass die hohe Zahl der israelischen Opfer, die am 7. Oktober zunächst mit 700 angegeben worden war, dann aber auf 1400 angehoben wurde, die Folge des chaotischen Einsatzes der israelischen Armee gewesen sein könnte. Am 10. November korrigierte die Regierung die Opferzahlen von 1400 auf 1200. 200 hätten sich als „Hamas-Terroristen“ erwiesen. Angesprochen auf Fehler der israelischen Regierung am 7. Oktober sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu auf einer Pressekonferenz am 28. Oktober, alles werde genau untersucht, wenn der Krieg zu Ende sei.

Die Frage, warum die Qassam-Brigaden und die Al-Quds-Brigaden diesen Zeitpunkt und diese Art von Angriff gewählt hatten, setzt zahlreiche Spekulationen frei. Wollten die Hamas oder auch Iran, der die Hamas unterstützt, die „Verhandlungen zur Normalisierung der Beziehungen mit Saudi-Arabien“ torpedieren? Ließ Israel, das von Ägypten über eine „große Operation“ informiert worden war, die Brigaden absichtlich gewähren, um dann einen massiven Angriff auf den Gazastreifen zu starten und die Bevölkerung aus Gaza endgültig in die ägyptische Wüste Sinai zu vertreiben? War die Netanyahu-Regierung mit rechtsextremen Ministern unorganisiert und nachlässig, gab es keine Kommunikation? Wollte die Hamas den Gegenangriff Israels provozieren, um die israelischen Truppen bei einer Bodenoffensive im Häuser- und Tunnelkampf in Gaza zu besiegen? Welche Rolle spielte die Rede von Netanyahu bei der UN-Vollversammlung im September 2023 in New York, als er eine Karte des „neuen Mittleren Ostens“ zeigte, wo das gesamte palästinensische Territorium als Israel eingezeichnet und Palästina verschwunden war?

Mohammed Deif, Oberkommandierender der Qassam-Brigaden, erklärte, man habe die israelische Besatzung oft gewarnt wegen der Angriffe auf die Al-Aqsa-Moschee und auf die Palästinenser im Westjordanland und man habe die Freilassung der Gefangenen gefordert. Israel habe das ignoriert. An die Kämpfer gewandt sagte Deif: „Das ist Euer Tag, um dem Feind zu zeigen, dass seine Zeit abgelaufen ist.“ Die Bevölkerung im besetzten Westjordanland rief er auf, „die Besatzer zu verjagen“.

Die Reaktionen

Die Härte des Angriffs der Qassam- und der Al-Quds-Brigaden, die Härte der israelischen Gegenoffensive auf den Gazastreifen, das immense Leid, das die Bevölkerung in Gaza zu ertragen hat, die Unsicherheit der israelischen Gefangenen, die Gefahr eines regionalen Krieges – nichts hat dazu geführt, dass internationale und regionale Akteure sich auf einen Waffenstillstand einigen konnten, um dann grundsätzlich und neu zu verhandeln. Stattdessen schickten die Amerikaner Flugzeugträger und ein atomwaffenfähiges U-Boot ins östliche Mittelmeer, Spezialkräfte und Marines schlossen sich der israelischen Truppe an. Deutschland folgte und stellte sich an die Seite Israels, um die militärische Offensive zur Vernichtung der „Terrororganisation“ Hamas sowohl politisch als auch mit immensen Waffenlieferungen und medial zu unterstützen.

Die arabischen Staaten wiesen auf den Hintergrund und die israelische Besatzung hin und forderten einen Waffenstillstand. China beriet sich mit den Staaten der Arabischen Liga und der Organisation Islamischer Staaten und sandte eine Vermittlungsdelegation in die Region, die einen Waffenstillstand, Verhandlungen und eine Friedenskonferenz forderte, um die Zwei-Staaten-Lösung neu zu beleben. Russland nutzte seine Kontakte zur Hamas im Hintergrund, um seine Möglichkeiten auszuloten.

Im UN-Sicherheitsrat kooperierten Russland und China, wurden aber von den USA und anderen Staaten blockiert. Das mit den USA verbündete Lager stellte das „Recht auf Selbstverteidigung“ von Israel und die Verurteilung der „Terrororganisation Hamas“ in den Vordergrund. Russland, China und Verbündete beharrten auf einem Waffenstillstand und Verhandlungen. Die Vereinigten Arabischen Emirate, der einzige arabische Staat, der aktuell im UN-Sicherheitsrat vertreten ist, unterstützten die Positionen von Russland und China und forderten Verhandlungen auf der Basis der Zwei-Staaten-Lösung und eine Friedenskonferenz, was auch von China vorgeschlagen worden war.

Am 26. Oktober 2023 verabschiedete die UN-Vollversammlung mit großer Mehrheit eine Resolution, in der ein sofortiger humanitärer Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas und die Lieferung lebensrettender Güter für die Bevölkerung gefordert wurden. Eingebracht hatte die Resolution Jordanien im Auftrag der arabischen Staaten. Sie wurde mit 121 Stimmen angenommen. 14 Staaten stimmten dagegen und 44 enthielten sich. Doch es war eine nicht bindende Resolution, zumal sich der UN-Sicherheitsrat nicht auf eine Unterstützung einigte.

Der Krieg ging weiter. Israel verschärfte seine täglichen Angriffe, die palästinensischen Kämpfer leisteten heftigen Widerstand und bombardierten weiter Ziele in Israel mit Raketen. Die Bevölkerung verlor Leben und Gesundheit, Hab und Gut und musste in den Süden des Gazastreifens fliehen. Doch auch dort wurde bombardiert. Zehntausende scharten sich um die Krankenhäuser und die Schulen des UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten). Doch auch dort wurde bombardiert.

Die UNRWA verlor mehr als 100 Mitarbeiter. Die Zahl der getöteten Kinder und Frauen stieg. Massendemonstrationen rund um den Globus für einen Waffenstillstand, Appelle von UN-Offiziellen, Apelle der Familien der Geiseln, Proteste in Israel, Appelle des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, selbst die steigende Zahl getöteter israelischer Soldaten – nichts konnte das unerbittliche Wüten der israelischen Streitkräfte gegen die hilflose Zivilbevölkerung in Gaza stoppen.

Israel als „Mittelpunkt der Erde“

Die Großmächte verschanzten sich hinter ihren Positionen, die arabischen Staaten versuchten zu vermitteln, die EU, allen voran Deutschland, schloss sich der US-Position an. Ausnahme war Irland, das sich von der Regierungsspitze bis zum Straßenprotest mit Palästina solidarisch zeigte und einen Waffenstillstand forderte. Länder in Lateinamerika, die Türkei, Jordanien und Südafrika riefen ihre Botschafter aus Israel zurück. Bolivien brach die diplomatischen Beziehungen ab.

International ist Israel heute weitgehend isoliert. Mit dem offenen Bruch des internationalen humanitären und Kriegsrechts in Gaza, mit der Missachtung der UN-Charta, mit rassistischen Beschimpfungen der Palästinenser und Beschimpfungen der Vereinten Nationen hat Israel sich ins Abseits manövriert. Die von Israel beanspruchte Singularität kommt zum Ausdruck in einem Interview, dass der Nachrichtensender EuroNews mit israelischen Reservisten ausstrahlte.

Eine Frau sagt: „Vom Fluss Jordan bis zum Mittleren Osten, das alles gehört uns. Es wurde uns versprochen. Es gibt keine palästinensische Nation, niemand will sie haben. Warum wir? Weil wir gut sind? Das hat vor drei Wochen aufgehört.“ Und etwas später: „Die einzigen unschuldigen Leute, die heute in Gaza sind, sind die 229 Geiseln, die entführt wurden. Wenn sie befreit und zurück in Israel sind, werden wir das Al-Shifa-Krankenhaus bombardieren, alle Krankenhäuser, alle Tunnel und wir werden alle töten. Es ist höchste Zeit. Die Welt weiß das, es gibt keine Diskussion darüber. Wir sind heute der Mittelpunkt der Erde.“

Rolle der USA

Die USA unterstützen Israel. Mit Geld, mit Waffen, mit militärischem, geheimdienstlichem und politischem Personal. Mit der Blockade einer Resolution im UN-Sicherheitsrat, die einen sofortigen Waffenstillstand fordert. Die Interessen der USA sind geopolitischer und strategischer Natur. Die USA brauchen Israel, Jordanien und Libanon als militärische Basis, um eine Region vom östlichen Mittelmeer bis nach China zu kontrollieren. Dafür sprechen die weltweit größten US-Botschaften im Irak und im Libanon, US-Militärbasen im Irak, im Persischen Golf, in Katar und rund um die arabische Halbinsel, im Mittelmeer bis zum Suezkanal. Darum halten die USA völkerrechtswidrig den Nordosten Syriens und die dortigen Ressourcen Baumwolle, Weizen, Öl besetzt. Das gleiche gilt für die illegal gebaute US-Militärbasis al-Tanf auf syrischem Territorium im Dreiländereck Irak, Syrien, Jordanien.

Schließlich haben die USA auch Interesse an den Gasressourcen im östlichen Mittelmeer. Vor der Küste des Gazastreifens und unter dem Westjordanland, von Israel als Zone C markiert, liegen große Gasvorkommen. 1,5 Milliarden Tonnen Öl und 1,4 Billionen Kubikmeter Gas, um genau zu sein. Israel beanspruchte bereits 2007 das Leviathan-Gasfeld vor der Küste von Gaza. Das Jahr, in dem Israel um Gaza eine Totalblockade verhängte. Der US-Kongress stellte fest, dass die Förderung von „verdeckten Energiequellen im „höchsten nationalen Sicherheitsinteresse“ der USA sei.

Vor diesem Hintergrund bekommt die Zerstörung der zivilen Infrastruktur im Norden Gazas und in Gaza-Stadt sowie die massenhafte Vertreibung der Bevölkerung in den Süden des Gebiets einen neuen Sinn: Die illegale Landnahme, die Tötung und Vertreibung der ursprünglichen, der palästinensischen Bevölkerung und die Aneignung ihrer Ressourcen entspricht der kolonialen Ausbeutung Afrikas, Asiens, Süd- und Nordamerikas durch europäische Siedler seit spätestens Ende des 15. Jahrhunderts (1492).

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