Guttenberg verteidigt Massaker in Kundus
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Von ULRICH RIPPERT, 11. November 2009 –
Nur eine Woche nach seiner Vereidigung als Verteidigungsminister hat Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) das Massaker von Kundus gerechtfertigt. Er stellte sich uneingeschränkt hinter die Entscheidung von Oberst Georg Klein, der Anfang September in Afghanistan einen Luftangriff auf zwei entführte, mit Benzin gefüllte Tanklastwagen angeordnet hatte, bei dem weit über hundert Menschen ums Leben kamen.
Minister Guttenberg verteidigte diese blutigste Militäraktion in der Geschichte der Bundeswehr ohne die laufenden juristischen Ermittlungen abzuwarten. Auf einer Pressekonferenz im Verteidigungsministerium erklärte er, die Bombardierung der Tanklastwagen am 4. September in der Nähe von Kundus sei "militärisch angemessen" gewesen.
Guttenberg berief sich auf einen kürzlich fertig gestellten Untersuchungsberichts der NATO, den zu veröffentlichen er sich weigert. Er wurde bisher nur den Fraktionsspitzen der Bundestagsparteien vorgelegt und erläutert.
Guttenberg sagte, nach dem Studium des Berichts habe er keinen Zweifel daran, dass die Einschätzung von Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan in vollem Umfang richtig und zutreffend sei. Schneiderhan hatte bereits wenige Stunden nach dem Vorfall – ungeachtet der zivilen Opfer – die Bombardierung als militärisch notwendig und angemessen bezeichnet.
Gegenüber den Medien erklärte Guttenberg, er gehe davon aus, dass es auch zivile Opfer gegeben habe und bedaure das "von Herzen und zutiefst". Auf die Frage, ob die Zahl der Opfer mittlerweile geklärt sei, die in den vergangenen Wochen sehr unterschiedlich angegeben worden war, antwortete Guttenberg, dass dem NATO-Bericht zufolge bis zu 142 Menschen ums Leben gekommen seien. Er könne diese Angaben aber nicht bestätigen, weil die juristischen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien. Die Dresdner Generalstaatsanwaltschaft als ursprüngliche Ermittlungsbehörde habe den Vorfall an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe weitergegeben. Dort sei über das weitere Vorgehen noch keine Entscheidung getroffen worden.
Während die juristischen Ermittlungen also noch am Anfang stehen und nicht einmal die Zahl der Opfer zweifelsfrei geklärt ist, verteidigt Minister Guttenberg das Vorgehen der Armeeführung und bewertet es als militärisch angemessen. Zur Begründung dieser Einschätzung führt er die Stellungnahme des obersten Generals der Bundeswehr an, der – mit Rücksicht auf die Kriegsverbrechen der deutschen Armee in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts – nicht mehr Generalstabschef sondern Generalinspekteur genannt wird.
Guttenbergs Stellungnahme hat weit reichende Konsequenzen, worüber sich der promovierte Jurist durchaus bewusst ist. Wenn nicht Recht und Gesetz die Grundlagen für die Bewertung der Aktivitäten der Bundeswehr sind, sondern die Einschätzung der Militärführung, dann steht die Armee über dem Gesetz und unterliegt keiner rechtsstaatlichen Kontrolle.
Guttenberg räumte ein, der NATO-Bericht komme zu dem Schluss, dass es "Verfahrensfehler" und "in gewissen Bereichen Ausbildungsmängel" gegeben habe, fügte aber hinzu: "Selbst wenn es keine Verfahrensfehler gegeben hätte, hätte es zu dem Luftschlag kommen müssen."
Weshalb? Die einzige Begründung, die Guttenberg gibt, lautet, es sei aus militärischer Sicht notwendige gewesen und könne daher auch nur vom Militär bewertet werden.
Guttenberg versucht jede Opposition gegen die Vertuschungskampagne, mit der die Militärführung das Massaker erst leugnete und dann rechtfertigte, mundtot zu machen. Er wiederholte die unglaubwürdige Behauptung, der diensthabende Offizier, Oberst Klein, habe die Zerstörung der beiden Tankwagen ohne jede Rücksprache mit Vorgesetzten angeordnet, weil er einen Selbstmordanschlag auf das deutsche Feldlager in Kundus befürchtet und unter Zeitdruck gestanden habe.
Auf Medienberichte und Untersuchungen vor Ort, die diesen Behauptungen der Militärführung widersprechen, ging er mit keinem Wort ein. Bereits Mitte September hatte Der Spiegel eine Karte der Region und einen genauen Zeitplan veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass die Tankwagen zwar wenige hundert Meter vom deutschen Lager entfernt überfallen wurden, sich aber anschließend von diesem weg bewegten, bis sie schließlich in sechs Kilometer Entfernung auf einer Sandbank im Fluss Kundus stecken blieben.
Dort wurden sie um 21:14 Uhr von einem mit Nachtsichttechnik ausgerüsteten Schwenkflügel-Bomber der US-Luftwaffe entdeckt, der seine Videoaufnahmen live in das deutsche Feldlager übertrug. Er beobachtete die Entführer bis Mitternacht und wurde um 1:08 Uhr von zwei F-15-Jagdbombern abgelöst, die weitere Live-Bilder sandten und schließlich um 1:50 Uhr die tödlichen Bomben abwarfen.
Klein hatte also die Entführer gut viereinhalb Stunden unter Beobachtung, bevor der Luftangriff stattfand. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass der als besonnen und zurückhaltend geschilderte Kommandeur in dieser Zeit nicht mit seinen Vorgesetzten Rücksprache hielt. Er muss außerdem gewusst haben, dass sein Angriffsbefehl gegen die Einsatzregeln der ISAF verstieß. Diese lassen den Einsatz von Luftunterstützung nur zu, wenn sich Soldaten im Gefecht befinden oder unmittelbare Gefahr droht. Beides war in Kundus offensichtlich nicht der Fall.
Er könne über Einzelheiten und den detaillierten Ablauf der Ereignisse nicht sprechen, sagte Guttenberg auf der Pressekonferenz. Denn der NATO-Untersuchungsbericht sei als geheim eingestuft worden. Auch das stimmt nur bedingt. Es war vor allem die deutsche Militärführung die auf eine Geheimhaltung des Berichts drängte.
Ein NATO-Sprecher in Brüssel betonte, mit der Fertigstellung des Berichts und seiner Übergabe an die Bundesregierung sei der Fall für die NATO abgeschlossen. Alles Weitere sei nun Sache Berlins, meldete die dpa am 4. November.
Andere Pressemeldungen berichten über "hochrangige NATO-Offiziere in Brüssel", die aus dem Untersuchungsbericht zitieren und dem "zuständigen deutschen Offizier" vorwerfen, gegen Befehle und Dienstanweisungen verstoßen zu haben. Vor allem hätte Klein nicht selbst die Bombardierung durch US-Kampfjets anordnen dürfen. Die Entscheidung zur Bombardierung hätte nur der Kommandeur der Afghanistan-Schutztruppe ISAF, US-General Stanly McChrystal, treffen dürfen.
Mehrmals betont Guttenberg, sein Hauptanliegen bestehe darin, für die Soldaten im Einsatz mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Darunter versteht er offensichtlich die Befreiung der Armeeführung von bestehenden rechtlichen Beschränkungen und den Aufbau einer eigenständigen Militärgerichtsbarkeit.
In diesem Zusammenhang steht seine wiederholte Feststellung, der Einsatz in Afghanistan sei ein "nicht-internationaler bewaffneter Konflikt". Das Magazin Focus kommentierte Anfang vergangener Woche, hinter dem sperrigen Begriff "nicht-internationaler bewaffneter Konflikt" verberge sich, "was landläufig als Krieg angesehen wird" – auch wenn ein Krieg nach rechtlicher Definition nur zwischen Staaten stattfinden dürfe.
Die militärischen Auseinandersetzungen in Afghanistan seien damit nach Ansicht des Ministers nicht mehr wie bisher nach den Vorgaben des deutschen Strafgesetzbuches für Friedenszeiten zu beurteilen, schreibt das Magazin aus München. "Sollte sich diese Ansicht durchsetzen, wäre auch Schluss mit der Frage, ob deutsche Soldaten im Einsatz tödliche Schüsse in Notwehr oder Nothilfe abgaben: Ein Angriff auf ein militärisch legitimes Ziel wäre gerechtfertigt."
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Nur wenige Wochen nach Amtsantritt und noch vor der Regierungserklärung der Kanzlerin knüpft damit die neue Regierung an die unsägliche Tradition des deutschen Militarismus an, der im vergangenen Jahrhundert einen Staat im Staat bildete und auch innenpolitisch eine verheerende Rolle spielte.
Quelle: WSWS