Eskalation in Afghanistan nach US-Killereinsätzen gegen Zivilisten
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Von SEBASTIAN RANGE, 30. Mai 2011 –
Die zunehmende Gewalt der Besatzungstruppen gegenüber der afghanischen Zivilbevölkerung zeigt ihre Wirkung: bewaffnete Angriffe und Anschläge auf die ISAF-Truppen nehmen rapide zu.
Nachdem am vergangenen Donnerstag bei einem NATO-Luftangriff in der ostafghanischen Provinz Nuristan nach Angaben des Gouverneurs „versehentlich“ 18 Zivilisten und 20 Polizisten getötet wurden, wurden in der Nacht zu Sonntag zwölf Kinder und zwei Frauen in der südafghanischen Provinz Helmand durch NATO-Bomben getötet.
Präsident Hamid Karsai hatte das afghanische Verteidigungsministerium erst am Sonnabend angewiesen, Angriffe ausländischer Truppen zu verhindern, die nicht mit den Afghanen koordiniert sind. Das Ministerium soll nach der Direktive außerdem die gezielten nächtlichen Operationen von US-Spezialeinheiten – sogenannte Night Raids – unter seine Kontrolle bringen. Die Anordnung Karsais ist Ausdruck der verschärften Spannungen zwischen der afghanischen Marionettenregierung und der NATO.
Karsai bezeichnete die beiden Aktionen der NATO als „schlimmen Irrtum“ und „Mord“ und richtete „eine letzte Warnung“ an die US-Streitkräfte im Land, ihre „einseitigen und unsinnigen Operationen“ zu unterlassen: „Die Angriffe verletzen menschliche und moralische Werte, aber wir werden anscheinend nicht gehört.“
Auch am heutigen Montag wurde wieder ein NATO-Stützpunkt angegriffen. Mehrere Aufständische verschanzten sich in einem Gebäude neben einem italienischen Stützpunkt in Herat und eröffneten das Feuer auf Soldaten und Sicherheitsbeamte. Dabei habe es zahlreiche Opfer gegeben, sagte ein Sprecher der Provinzregierung.
Insbesondere mit dem Vorgehen bei den „nächtlichen Razzien“ haben sich die Besatzer viele Feinde geschaffen. Der Grund liegt in der Brutalität, mit der diese durchgeführt werden. Teilweise sind sie nicht anders als bestialisch zu bezeichnen.
So drang ein Spezial-Kommando im Dezember 2009 in ein Haus in der Ortschaft Ghazi Khan ein und erschoss aus nächster Nähe zehn der Bewohner, die in ihren Betten schlafend überrascht wurden. Laut Aussagen von Ortsansässigen waren den Getöteten zuvor Handschellen angelegt worden. Eine Untersuchung der afghanischen Regierung ergab, dass es sich bei acht der zehn Hingerichteten um Minderjährige im Alter zwischen 11 und 17 Jahren handelte. (1)
Laut den Besatzern handelte es sich um eine Terrorzelle, welche Sprengsätze hergestellt habe. Beweise für diese Behauptung wurden allerdings nicht erbracht. Nach Bekanntwerden der blutigen Folgen der „Razzia“ kam es zu großen Protestdemonstrationen, bei denen ein sofortiger Abzug der Besatzungstruppen gefordert wurde.
NATO-Truppen hatten in der nordafghanischen Provinz Sar-i-Pul nach Angaben örtlicher Behörden in der Nacht vom 4. zum 5. April 2011 sechs Zivilisten getötet und vier weitere Zivilisten verletzt, als Soldaten in der Nacht ein Haus im Distrikt Sayad stürmten, erklärte der Provinzgouverneur Sayed Anwar Rahmati am Dienstag (5. April).
Auch die Demonstration am 18. Mai vor dem Bundeswehr-Camp in der Hauptstadt der nordafghanischen Provinz Tachar, bei der mindestens zwölf Teilnehmer getötet und über 80 verletzt wurden, nachdem Bundeswehrangehörige aus einer „Selbstverteidigungslage“ heraus das Feuer eröffneten, begann ursprünglich als Trauerzug für vier in der Nacht zuvor bei einem nächtlichen Überfall durch ein US-Kommando Getötete. (2)
Unterdessen hat sich die Internationale „Schutz“truppe Isaf für die Tötung mehrerer Kinder und Zivilisten durch den Luftangriff in der Nacht zum vergangenen Sonntag (29. Mai) entschuldigt.
Es sind nicht alleine solche Angriffe auf Zivilisten, die für Empörung unter den Afghanen sorgen, sondern auch die darauf folgenden offiziellen Entschuldigungen. Auch die nun erfolgte Stellungnahme der ISAF-Truppen steht exemplarisch für die menschenverachtende Arroganz, die die Haltung der Besatzer gegenüber den Afghanen verdeutlicht.
So heißt es in der ISAF-Erklärung, zunächst sei bei einem Gefecht ein US-Soldat von Taliban getötet worden. Fünf Aufständische seien daraufhin auf das Gelände eines Wohnhauses geflohen. Daraufhin hätten die Truppen Luftunterstützung angefordert. Erst danach sei entdeckt worden, dass sich auf dem Gelände Zivilisten aufhielten.
Nicht nur, dass hier offenbar nach der Devise „erst schlagen, dann fragen“ gehandelt wurde, es ist außerdem kaum zu glauben, dass den ISAF-Kräften die Tatsache unbekannt ist, dass sich in Wohnhäusern des Öfteren Zivilisten aufhalten. Das legt den Schluss nahe, der Tod von Zivilisten werde bewusst in Kauf genommen. Deshalb klingen Worte des Bedauerns wie eine Verhöhnung der Opfer.
Solcherlei Beteuerungen, wie sie regelmäßig nach Tötungen von Zivilisten erfolgen, sind alleine deshalb unglaubwürdig, weil sie nicht zu einer Änderung der Praxis führen, also zu einem behutsameren Vorgehen, welches „Kollateralschäden“ eines Einsatzes nicht billigend in Kauf nimmt.
Bundeswehr zunehmend unter Beschuss
Die letzten Wochen und Tage haben auch gezeigt, dass die Bundeswehr den Nimbus der „Brunnenbauer“ längst verloren hat. Kaum noch vergeht ein Tag, an dem Bundeswehrsoldaten nicht in tödliche Gefechte verwickelt oder Bombenanschlägen und Granatbeschuss ausgesetzt sind.
Vergangenen Mittwoch wurden in der Nähe von Kundus drei Fahrzeuge einer Bundeswehrpatrouille von zwei Sprengsätzen getroffen. Ein Soldat wurde getötet, ein weiterer leicht verletzt. Zudem wurde ein afghanischer Übersetzer verwundet.
Verteidigungsminister Thomas de Maizière verurteilte den Anschlag scharf. „Dieser Anschlag berührt auch uns alle. Er trifft uns alle ins Herz“. Der Minister sprach von einem „feigen, anonymen Anschlag“.
Nun, dass ein solcher Anschlag „anonym“ erfolgt, liegt in der Natur der Sache. Wer eine Bombe am Straßenrand vergräbt, um sie im entsprechenden Moment zu zünden, wird zuvor nicht ein Warnhinweisschild aufstellen. Und ein Selbstmordattentäter wird vor seiner Tat kaum seine Visitenkarte beim Pförtner abgeben. Und anonymer als die fast täglich stattfindenden tödlichen „Kollateralschäden“ durch unbemannte Drohnen dürften solche Anschläge auch nicht sein.
Was die Feigheit angeht, so empfinden die meisten Afghanen es eher als feige, wenn Angehörige der Besatzungsmächte schlafende Kinder aus ihren Betten ziehen und dann töten oder Kinder beim Brennholzsammeln aus der Luft zu Tode bomben. (3) De Maiziéres Rede von Feigheit ist auch deshalb unglaubwürdig, weil er selbst nicht den Mut aufbringt, der deutschen Öffentlichkeit die Tatsache näher zu bringen, dass sich dieser Krieg nicht gewinnen lässt und daher ein Abzug so schnell wie möglich erfolgen sollte. Es ist nicht die „Feigheit vor dem Feind“, die ihn daran hindert, diese Wahrheit auszusprechen, sondern die vor dem Freund, den Vereinigten Staaten, den man in Berlin offenbar nicht vor den Kopf stoßen will und sich stattdessen als williger Vasall anbiedert.
Wenn es um Doppelmoral und Heuchelei geht, so sind es allerdings Die Grünen, denen niemand etwas vor macht. „Diese hinterhältige und abscheuliche Tat verurteilen wir aufs Schärfste“, teilten die Grünen-Fraktionschefs Renate Künast und Jürgen Trittin nach dem Anschlag auf die Bundeswehr-Patrouille vergangene Woche mit. Als aber über hundert afghanische Zivilisten in einigen Sekunden durch die Bundeswehr ins Jenseits befördert worden waren – zum Vergleich: in fast zehn Jahren Krieg hat die Bundeswehr 48 Todesopfer zu beklagen – da sprach niemand aus der grünen Parteispitze von einer hinterhältigen und abscheulichen Tat. (4)
Unter grüner Regierungsbeteiligung wurden nicht nur erstmals nach den Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten in Kriegseinsätze geschickt, auch beim gegenwärtigen Krieg gegen Libyen wären deutsche Soldaten involviert, wenn es nach Meinung der Öko-Partei ginge. Es gibt wohl keine Partei im Bundestag, die so wenige Skrupel kennt wenn es darum geht, Kriege anzuzetteln oder sich an welchen zu beteiligen. Im Falle Afghanistans hat es aber selbst ein Jahrzehnt Menschenrechts-Rhetorik, mittels derer Die Grünen politisch-korrekt für Kriegseinsätze werben, nicht vermocht, eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu überzeugen. Im Gegenteil, die Eskalation der vergangenen Wochen mit steigenden Opferzahlen unter den Besatzungstruppen sorgt dafür, dass der Afghanistan-Krieg auch in den Medien wieder vermehrt Beachtung findet. Und das hat sich in der Vergangenheit stets als wenig vorteilhaft für die Kriegsbefürworter erwiesen.
„Wir machen Fortschritte in Afghanistan. Wir haben die richtige Strategie, und diese Strategie werden wir auch weiter durchsetzen“, sagte de Maiziére anlässlich des Anschlags auf die Bundeswehr-Patrouille.
Einen Tag später wurden deutsche Soldaten wieder in der Nähe von Kundus angegriffen. Vier Aufständische hätten laut Einsatzführungskommando der Bundeswehr eine Fußpatrouille aus kurzer Entfernung mit Handwaffen beschossen. Im anschließenden Feuergefecht seien zwei der Angreifer getötet worden. Von den deutschen Soldaten wurde niemand verletzt.
Am vergangenen Samstag kam es dann erneut zu einem Anschlag, bei dem zwei deutsche Soldaten getötet und fünf weitere verletzt wurden. Darunter der deutsche ISAF-Regionalkommandeur für Nordafghanistan, Generalmajor Markus Kneip. Sein Zustand sei mittlerweile ebenso wie der einer schwer verletzten Soldatin „stabil“. Getötet wurden bei dem Anschlag insgesamt sieben Menschen, darunter auch der afghanische Polizeikommandeur für den Norden des Landes und der Polizeichef der Provinz Tachar. Damit haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre bislang hochrangigsten Todesopfer zu beklagen. Laut ersten Ermittlungen wurde der Sprengsatz von einem Mann in Polizeiuniform gezündet. Ob er alleine handelte ist noch unklar. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach angesichts des Anschlags von einer „mörderischen Menschenverachtung“.
Immer häufiger verüben afghanische Attentäter in Uniform Anschläge auf ausländische Soldaten. Erst im Februar starben drei deutsche Soldaten, als ein afghanischer Soldat das Feuer auf sie eröffnete. Der Anschlag vom Samstag aber ist in seiner Schwere beispiellos und er wirft die Frage auf, ob das Konzept des sogenanntes Partnerings, also der Kooperation zwischen internationalen und einheimischen Sicherheitskräften, als gescheitert betrachtet werden muss.
Zwar will die Bundesregierung am bisherigen Konzept festhalten, Experten aber zweifeln daran. „Das Partnering kann man jetzt eigentlich nur noch für tot erklären“, sagte ein deutscher Afghanistan-Fachmann gegenüber dpa, der nicht namentlich genannt werden wollte. Und ein deutscher Sicherheitsexperte sagte: „Wir können jetzt keinem afghanischen Uniformträger mehr trauen.“
Spätestens jetzt gilt es, sich einzugestehen: Der Krieg ist verloren, höchste Zeit abzuziehen. Auch aus der Politik werden erste Konsequenzen gefordert, allerdings ganz anderer Art.
Jetzt wird zurückgeschossen
„Der Anschlag kann nicht ohne Folgen bleiben“, sagte Unions-Verteidigungsexperte Ernst-Reinhard Beck. Nach einer solchen Attacke müsse „ein entsprechender Gegenschlag gegen die Taliban-Organisation in dieser Provinz“ erfolgen.
Er sprach von einer „Eskalation der Ereignisse im Regionalkommando Nord“. Ähnlich äußerte sich die FDP-Expertin Elke Hoff. „Die Brutalität wird in den nächsten Monaten noch zunehmen“, prognostizierte sie.
Prognostizieren lässt sich auch, dass bei den „entsprechenden Gegenschlägen“ viele Zivilisten getötet werden und es anschließend zu verstärkten Racheakten an deutschen Soldaten kommen wird. Prognostizieren lässt sich auch, dass die deutsche Kanzlerin wieder Krokodilstränen vergießen und sich „schockiert und traurig“ zeigen wird, wenn deutsche Soldaten von ihrem Fronteinsatz in Särgen zurückkommen, weil sie immer noch in einem Krieg kämpfen müssen, der schon längst verloren wurde.
In seiner Regierungserklärung zur Bundeswehrreform am vergangenen Freitag vor dem Bundestag kündigte Verteidigungsminister de Maiziére eine Aufstockung deutscher Soldaten an, die an Kriegseinsätzen teilnehmen sollen. Um der „Verantwortung“ Deutschlands gerecht werden zu können, soll die Struktur der Streitkräfte so gestrafft werden, dass 10.000 statt wie bisher 7.000 Soldaten gleichzeitig in Auslandseinsätze geschickt werden können.
Lob für seine Rede erntete de Maiziére nicht nur aus den Reihen der Regierungskoalition, sondern auch von Seiten der Opposition – mit Ausnahme der Linken.
Jürgen Trittin zeigte sich ebenfalls zufrieden. Er warnte davor, das internationale Engagement der Bundeswehr auf „die Sicherung von Rohstoffquellen“ zu reduzieren – es gehe vor allem darum, weltweit für „Rechtsstaatlichkeit“ zu sorgen. Er verwies als Beispiel auf den drohenden Krieg im Sudan: „Deutschland muss dieser internationalen Verantwortung gerecht werden.“
Wer Deutschland die „internationale Verantwortung“ aufgetragen hat, weltweit mit militärischen Mitteln für „Rechtsstaatlichkeit“ zu sorgen, erklärte Trittin allerdings nicht. Auch nicht, warum die Rechtsstaatlichkeit in Sudan mehr Priorität haben sollte als die Rechtsstaatlichkeit der eigenen Verbündeten, die wie die Vereinigten Staaten rund um den Globus Geheimgefängnisse installiert haben, in denen sie Verschleppte und Entführte so lange foltern, bis diese ein Geständnis ablegen, aufgrund dessen sie dann von einem Militärgericht verurteilt werden. Wenn sie es bis dahin überhaupt überleben. Natürlich wäre es naiv zu verlangen, dass ein Herr Trittin die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien von den USA verlangt. Denn dem grünen Fraktionsvorsitzenden geht es ja nicht wirklich um die Einhaltung solcher Prinzipien, sondern darum, mittels einer schön klingenden Begrifflichkeit die militärische Sicherung von Rohstoffquellen propagandistisch abzusichern.
Anmerkungen
(1) http://www.timesonline.co.uk/tol/news/world/afghanistan/article6971638.ece
(2) http://www.hintergrund.de/201105201551/globales/kriege/talokan-massaker-bundeswehr-gibt-gezielte-schuesse-auf-demonstranten-zu.html
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(3) http://www.hintergrund.de/201103021415/globales/kriege/wieder-nato-massaker-in-afghanistan-neun-kinder-beim-brennholzsammeln-getoetet.html
(4) http://www.hintergrund.de/20100204709/globales/kriege/die-verschwoerung-von-kundus.html