Kriege

Der Nahostkonflikt, Geschichte einer Eskalationsspirale

Die Geschichte des Konflikts zwischen den Israelis und den Palästinensern ist ohne Kenntnis der Geschichte nicht zu verstehen. Unser Autor macht sich auf Spurensuche und liefert eine knappe und inhaltsreiche Geschichte der vergangenen achtzig Jahre in Israel und Palästina.

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Intifada im Gazastreifen (1987)
Foto: Sharir Efi, / Dan Hadani collection / National Library of Israel / The Pritzker Family National Photography Collection / CC BY 4.0, Mehr Infos

Was wir jetzt im Nahen Osten aus der Ferne miterleben und was selbst die treuesten Unterstützer Israels inzwischen sprachlos zu machen scheint, das wird für mich nur verständlich vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs vor gut achtzig Jahren, als die Deutschen, die Generation unserer Eltern und Großeltern, alle zivilisatorischen Dämme gesprengt haben, die menschliches Leben vor Menschen schützten. Das war die wirkliche Zeitenwende. Damit hat das Zeitalter begonnen, in dem auch die Geschichte spielt, mit der wir uns befassen wollen. Auch Völkerrechtsbrüche sind ja inzwischen an der Tagesordnung.

Die Geschichte, in der ein Volk, das über Jahrhunderte verfolgt war, sich schrittweise einen Staat erkämpft hat, kann man als Tragödie interpretieren, wenn man sie „von oben“ aus einer quasi göttlichen oder olympischen Perspektive betrachten will. Die Tragödie im klassischen Sinn besteht darin, dass die Götter eine Konfliktkonstellation schaffen, in der die handelnden Menschen nur wenige Handlungsalternativen haben. Sie sind dem Verhängnis ausgeliefert, aber ihr Handeln ist nicht frei von Schuld. Die drei Götter, die hier am Anfang der Tragödie standen, das waren, könnte man sagen, der allgegenwärtige Antisemitismus in Europa, zweitens der Nationalismus, ein Erbstück aus Europa im Zionismus, und drittens der europäische Kolonialismus.

„Wir müssen diesen Krieg führen und er wird noch viele Monate dauern“, so Netanjahu hartnäckig oder trotzig am 14. Januar 2024. Dabei ist Israel mit einer Klage wegen Völkermord konfrontiert und wurde selbst vom engsten Verbündeten, den USA, in die Schranken gewiesen. Israel ist in eine schwierige Lage geraten, obwohl es die größte Militärmacht im Nahen Osten ist. Warum? Staatspräsident Herzog meinte, es gebe „keine unschuldigen Palästinenser“. Er wollte damit das Vorgehen der israelischen Armee rechtfertigen. Aber er liegt vermutlich richtig. Wahr an diesem Verdacht ist, dass die Palästinenser generell Israel als Unterdrücker und Feind sehen. Die Hamas hat zweifellos breite Unterstützung, zumindest seit sie in ihrem Grundsatzpapier 2017 den Weg zu einer pragmatischeren Politik eingeschlagen hat.1

Der Überfall an dem denkwürdigen 7. Oktober 2023 war an Brutalität kaum zu überbieten. Aber Terror, oft verbunden mit Gewaltexzessen, ist typisch für asymmetrische Kriege.2 Terror erzeugt in der Regel Gegenterror. Ich denke zum Beispiel an die kürzliche Ermordung von drei Palästinensern im Krankenhaus von Dschenin durch Soldaten der Besatzungstruppe.3 Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist absolut asymmetrisch. Die Brutalität der Kriegsführung deutet außerdem darauf hin, dass die Lage für beide ausweglos erscheint, zumindest nach den Zielvorstellungen beider Seiten und so, wie die Lage inzwischen ist. Ich kann mir momentan keine Lösung des Konflikts nach dem Gazakrieg vorstellen, auch im Blick auf die jüdische Besiedlung des Westjordanlands.

Schauen wir mal zurück auf den Anfang der Konfliktgeschichte!

Der Rückblick zeigt: Es ist eine Kette von Gewaltakten, von Aufständen, Terror und Kriegen, auch schon vor der Staatsgründung. Das war von Anfang an in diesem historischen Projekt angelegt. Europäer konnten nicht problemlos einen schon bevölkerten Landstrich besiedeln, jedenfalls nicht mehr im 20. Jahrhundert. Widerstand war zu erwarten. Das war den Initiatoren auch klar.

Klar war ihnen auch, dass Palästina kein unbesiedeltes oder ungenutztes Land war, wie später der Weltöffentlichkeit suggeriert worden ist. In einer Tagebuchnotiz von 1895 schrieb Theodor Herzl: „Die einheimische arme (arabische, Anm. d. Verf.) Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem Land jederlei Arbeit verweigern.“ Aber bloß mit ökonomischer Gewalt sollte es später nicht gehen. Wer war Theodor Herzl? Herzl (1860–1904) war ein ungarisch-österreichischer Schriftsteller und Publizist. Er erlebte im Habsburger Reich das Vordringen der kapitalistischen Marktwirtschaft („Gründerjahre“) und das davon begleitete Anschwellen des Antisemitismus in Europa.

So warnte ein preußischer Professor namens Heinrich v. Treitschke 1879 vor der jüdischen Überfremdung.4 1894 wurde in Frankreich ein Offizier jüdischer Herkunft des Landesverrats verdächtigt und verurteilt. Die bekannte Dreyfusaffäre. Die hat Herzl möglicherweise besonders verschreckt oder verstört. Dass im Land der Aufklärung so etwas möglich war! Die Pogrome im rückständigen Zarenreich hatten mehr die Empörung der dortigen Juden geweckt. Die zionistische Bewegung war dort entstanden. 1896 verfasste Herzl das Buch „Der Judenstaat“. Und mit anderen jüdischen Intellektuellen organisierte er den ersten Zionistischen Weltkongress, der 1897 in Basel stattfand. Zentral in dem dort verabschiedeten Programm war das Streben nach einer „Heimstätte des jüdischen Volkes“, und zwar in Palästina. Bald wurden Verhandlungen mit dem osmanischen Sultan aufgenommen. Aber das Osmanische Reich stand kurz vor der Zerschlagung durch die europäischen Mächte.5

Der Erste Weltkrieg, Ergebnis der Konkurrenz zwischen den imperialistischen Staaten, bringt auch das Ende des Osmanischen Reichs. Briten und Franzosen teilen den überwiegend arabischen Teil unter sich auf. Großbritannien wird Mandatsmacht über Palästina. Der britische Außenminister Arthur Balfour bestätigt die Zusage von 1917, eine „nationale Heimstätte“ für das jüdische Volk zu schaffen. In einem Memorandum für die Regierung versichert er 1919: „In Palästina denken wir nicht daran, die Wünsche der gegenwärtigen Bevölkerung (also der arabischen Bevölkerung, G.A.) zu konsultieren“ (zit. nach Flottau 2024).

Man kann sagen: Der Antisemitismus in Europa war der Anlass für die Idee eines jüdischen Staats, der europäische Kolonialismus erleichterte die Realisierung. Der Nationalismus war ein Erbteil Europas im Zionismus.

Die Besiedlung durch europäische Juden (oder jüdische Europäer) führte zu Unruhen in Palästina. Zunächst handelte es sich eher um spontane Revolten. Ein Nationalbewusstsein war bei der arabischen Bevölkerung erst im Entstehen. Es beschränkte sich auf städtische Notabeln. Allerdings wurde Ende 1920 ein Arabisches Exekutivkomitee gegründet. Bei den ersten Unruhen dieser Zeit (1920 und 1921) kamen sowohl Juden als auch Araber ums Leben. (Betroffen waren auch orientalische Juden. Sie bildeten übrigens 1922 rund 11 Prozent der Bevölkerung.)

Schon früh wurde klar, dass die Araber sich nicht so leicht verdrängen lassen würden. Der Zionist Wladimir Jabotinsky schrieb 1923 in einem Aufsatz: „Das einzige Mittel, mit ihnen (den Arabern) zu einem Übereinkommen zu gelangen, ist … die Errichtung einer Macht in Palästina, welche in keiner Weise durch arabischen Druck beeinflusst wird.“

1928 wurde die Knesset Israel als Vertretung der Juden Palästinas gegründet. Die Landnahme erfolgte anfangs auf eher sanfte Art. Da sehr viel Land Großgrundbesitz war, konnten jüdische Siedler mit dem Geld des Jüdischen Nationalfonds oder von Sponsoren Land kaufen. Sie entließen und vertrieben dann die Pächter. Ende der 1920er Jahre wurde der sozioökonomische Konflikt langsam religiös überlagert, wie das so oft bei solchen Konflikten geschieht.

1929 kam es zu blutigen Auseinandersetzungen um die Klagemauer und die Al-Aqsa-Moschee. Die islamische Geistlichkeit begann den Landverkauf zu verurteilen. Das erwachende arabische Nationalbewusstsein verband sich teilweise mit der Ideologie der jungen Muslimbruderschaft, die kurz vorher in Ägypten gegründet worden war.

Die Situation war also aufgeladen (Protestaktionen, Streiks, Steuerverweigerung) und die Briten hatten Schwierigkeiten, sie unter Kontrolle zu halten. 1936 begann ein regelrechter Aufstand, eine Intifada, die mit Unterbrechungen bis 1939 dauerte. Von Streik und Boykott gingen die Araber zum bewaffneten Widerstand über.

1937 legte eine britische Kommission einen Teilungsplan vor, der einen Bevölkerungsaustausch vorsah. Der Plan wurde von den Palästinensern abgelehnt. Ein Jahr später schlug eine andere britische Kommission einen gemeinsamen Staat für Juden und Araber vor. Er wurde von den Zionisten abgelehnt.

Seit 1920 gab es eine Miliz zur Verteidigung des jüdischen Gemeinwesens, die „Hagana“, teilweise geschult von britischen Offizieren. 1936 genehmigte die Mandatsverwaltung außerdem die Aufstellung der Irgun“, eine paramilitärische Organisation. Eine radikale Abspaltung dieser bewaffneten Einheit (Etzel) ging in den Untergrund und verübte ab 1937 jahrelang Terroranschläge auf Busse, Cafés, Märkte und öffentliche Einrichtungen. Die Briten waren ihnen gegenüber nachsichtig, gingen aber hart gegen den arabischen Widerstand vor. Auf Waffenbesitz stand die Todesstrafe. Die arabische Führung wurde teils verhaftet, teils ins Ausland verbannt.

Aufgrund der Rassengesetze im Deutschen Reich suchten spätestens ab 1935 vermehrt Juden Zuflucht in Palästina. Die USA sperrten sich gegen die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Europa, und zwar im Einvernehmen mit der zionistischen Führung. So wurden die Flüchtlingsströme aus Europa nach Palästina umgeleitet. Die Beunruhigung der arabischen Vertreter nahm ebenso zu wie die Militanz der jüdischen Aktivisten. Die Briten waren ihres Auftrags müde und bereiteten das Ende der Mandatsverwaltung vor.

1947 erhielt ein Komitee der UNO den Auftrag, eine Lösung des Konflikts vorzubereiten. Das Komitee empfahl eine Zwei-Staaten-Lösung. Jeder der beiden Staaten war nach diesem Plan durchsetzt von jeweils fremden Siedlungsgebieten. Selbst auf dem Territorium des jüdischen Staats stellten die Araber gut die Hälfte der Bevölkerung.6 Das konnte nicht gut gehen. Trotzdem stimmte die UN-Generalversammlung (damals 58 Mitglieder) am 29. November 1947 mit der Resolution 181 dem Teilungsplan mit 33 Ja-Stimmen zu. Das jüdische Territorium sollte größer sein als das palästinensische, obwohl die Juden nur die Minderheit stellten.

Die Palästinenser lehnten die Teilung ab, antworteten mit einem Generalstreik, mit Straßensperren und einigen Anschlägen. Die jüdischen Paramilitärs und Untergrundorganisationen nutzten die Unruhen zur Übernahme arabischer Wohnviertel oder zur Zerstörung von Ortschaften. Im Dezember 1947 begann die planmäßige ethnische Säuberung durch die Haganah und die Irgun. Zeitweise räumten die Verbände mehrere Dörfer an einem Tag. Der Widerstand war schwach, weil die Palästinenser darauf nicht vorbereitet waren und ihre Führung von den Briten geschwächt worden war. Das Zerstören und Morden dauerte vom Herbst 1947 bis mindestens zum Frühjahr 1949.

Ich möchte auf die Vertreibungsstrategie, die kritische israelische Historiker sehr genau dokumentiert haben, nicht tiefer eingehen. Ich kann nur sagen: Die Juden gingen mit großer Entschlossenheit, Planmäßigkeit und Erbarmungslosigkeit vor. Berüchtigt sind die Massaker von Deir Jasin und von Tantura.7 Städte wie Haifa oder Jaffa wurden entarabisiert, Dörfer mit Bulldozern platt gemacht oder gesprengt, und zwar samt Moschee und Friedhof. 531 Dörfer wurden ausgelöscht. 750.000 Palästinenser wurden vertrieben oder ergriffen bis 1949 die Flucht. Das ist das, was die Palästinenser die „Nakba“ nennen, die Katastrophe. Ben Gurion hatte schon 1937 in einem Brief klargestellt: „Die Araber werden gehen müssen“.8 Er war der Organisator der Nakba.

Am 14. Mai 1948 proklamierte Ben Gurion die Gründung des Staates Israel. Er wurde von den USA und der UdSSR sofort anerkannt. Noch am 20. April hatten die USA der UNO einen Plan zur internationalen Treuhänderschaft für Palästina vorgelegt, weil die Teilung dort auf Bedenken gestoßen war.

Zögerlich entschlossen sich fünf arabische Regierungen, Truppen gegen Israel zu entsenden. Die Haganah war den Truppen der gerade aus dem Kolonialverhältnis entlassenen Staaten strategisch überlegen. Ende Oktober 1948 hatten die Israelis neue, teilweise besonders fruchtbare und strategisch wichtige Gebiete erobert, insgesamt 77 Prozent des früheren Mandatsgebiets.

Dann kehrte für acht Jahre Ruhe ein, jedenfalls in der internationalen Aufmerksamkeit. Der Staat Israel konsolidierte sich. In erstaunlich kurzer Zeit wurden die üblichen staatlichen Institutionen geschaffen. Und Israel wurde zu einer starken Militärmacht. Im Oktober 1956 ließ man sich von Großbritannien und Frankreich zur Invasion auf die ägyptische Sinaihalbinsel verleiten, vermutlich in der Hoffnung auf Gebietsgewinne. Anlass für die sog. Suezkrise war die Verstaatlichung des Suezkanals bzw. der britischen Suezgesellschaft durch Ägypten. Der Kontext des Konflikts war der koloniale Befreiungskampf. Die USA intervenierten zusammen mit der SU, um die Länder des globalen Südens nicht zu verprellen, und zwangen GB, Frankreich und Israel zum Rückzug.

In den Folgejahren kam es immer wieder zu Grenzstreitigkeiten mit Jordanien und Syrien, unter anderem um das Wasser des Jordan. Das war auch ein indirekter Anlass für den sogenannten Sechstagekrieg.

Im Sommer 1967 kam es zum Krieg, als die ägyptische Regierung den Suezkanal sperrte und auf dem Sinai eine Armee aufmarschieren ließ. Ob Nasser tatsächlich einen Angriff auf Israel plante, ist unsicher. Selbst israelische Politiker und Militärs schlossen das eher aus. Verhandlungen hätten sich angeboten. Aber die israelische Führung entschied sich für einen Präventivschlag mit der Luftwaffe, die am 5. Juni die ganze ägyptische Luftflotte zerstörte. Damit waren die ägyptischen Truppen ohne Luftunterstützung. Den Israel Defense Forces war der Sieg sicher. Sie konnten in wenigen Tagen neues Territorium erobern, Sinai und Gaza von Ägypten, das Westjordanland von Jordanien und die Golanhöhen von Syrien.

Die Gebietsverluste versuchten Ägypten und Syrien 1973 mit einem Überraschungsangriff am jüdischen Feiertag Jom-Kippur zu revidieren, erlitten aber nach zweieinhalb Wochen wieder eine Niederlage. Das Sinai-Gebiet wurde später nach dem Friedensvertrag mit Ägypten zurückgegeben.

Die Landgewinne im Sechstagekrieg ließen die Siedlerbewegung entstehen. Auf dem Golan, auf der Westbank und in Gaza wurden mit wohlwollender Duldung, teils Förderung des Staates, jüdische Siedlungen errichtet. Die UN-Resolution 242, die den Rückzug aus den besetzten Gebieten forderte, wurde missachtet. Die Intifada von 1987 bis 1993 hinderte die Siedler nicht am weiteren Ausbau. Bis 2010 wuchs die Anzahl der Siedler auf 300.000 an (Gorenberg 2012, S.113). Um die Lage zu beruhigen, initiierten die USA die Friedensgespräche in Oslo. Die PLO unter Arafat erkannte das Existenzrecht Israels an. Noch 1982 hatte die PLO, die ihr Hauptquartier im Libanon errichtet hatte, Angriffe auf den Norden Israels und Terroranschläge durchgeführt – der Anlass für den Libanonkrieg, bei dem Israel nicht nur eigene Truppen einsetzte, sondern libanesische Milizen für sich kämpfen ließ. Dabei verschuldeten die IDF das Massaker von Sabra und Schatila, einem palästinensischen Flüchtlingslager in Beirut mit nach Schätzungen mindestens über 1.000 Toten.

Die Abkommen von Oslo im Jahr 1993 waren für die Palästinenser in jeder Hinsicht enttäuschend. Für die Anerkennung des Staates Israel erhielten sie ihrerseits nicht die Eigenstaatlichkeit, sondern nur ein gewisses Maß an Selbstverwaltung für die besetzten Gebiete, die auch noch in drei Zonen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten unterteilt waren. Jitzchak Rabin war der Zweistaatenlösung ausgewichen. Das Abkommen veranlasste Israel nicht einmal zum Stopp des Siedlungsbaus. Der wurde im Gegenteil vorangetrieben. Deshalb bemühten sich die USA im Jahr 2000 in Camp David, den Status Palästinas in dieser Richtung zu verbessern. Aber die Verhandlungen scheiterten. Israel wollte den Palästinensern nur einen Teil der Westbank zugestehen. Auch Ehud Barak lehnte eine Zweistaatenlösung ab.

Die Empörung über das Scheitern – dazu kam noch der provozierende Besuch des Tempelbergs durch Ariel Scharon – löste die zweite Intifada aus. Diesmal wurden die jüdischen Israelis mit zahllosen Selbstmordanschlägen und Raketenangriffen der Hamas stark bedroht. Israel reagierte darauf mit Massenverhaftungen, der Zerstörung der Wohnhäuser von Verdächtigen und der gezielten Tötung von Hamasführern. Nach fünf Jahren zählte man rund 1.000 tote Israelis und 3.500 tote Palästinenser. Zum Schutz gegen Anschläge begann man 2003 mit dem Bau der Mauer, geplant auf 760 km Länge und mit weiterem Landraub verbunden.

Eine Friedensinitiative der Saudis im Jahr 2002 scheiterte wiederum, weil Israel den Rückzug aus den besetzten Gebieten und die Gründung eines Palästinenserstaates ablehnte.

In der Folgezeit will Israel immer wieder seine militärische Stärke und Entschlossenheit beweisen. 2006 startet Israel eine Militäroffensive gegen die Hisbollah im Libanon, die zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung fordert. Dann folgen fünf Militäroperationen in dem seit 2007 abgeriegelten Gazastreifen mit martialischen Namen. 2008 reagiert Israel auf Raketenbeschuss mit der Operation „Gegossenes Blei“, die mit einem Dauerbombardement beginnt und mit einer Bodenoffensive fortgesetzt wird. Ergebnis: bis zu 1.000 tote Zivilpersonen auf palästinensischer Seite. 2012 wieder Raketenbeschuss und Militäroperation, diesmal 160 Tote auf palästinensischer Seite. 2014 startet Israel nach neuen Raketenangriffen die mehrwöchige Operation „Protective Edge“ mit 2.300 Toten, darunter 70 Prozent Zivilisten. Israel trauert um 64 Tote. 10.000 Menschen sind verwundet. Bei einer Militäroperation im Mai 2021 werden mindestens 248 Palästinenser (darunter 66 Kinder) und 13 Israelis getötet, mehrere tausend Menschen verletzt und einige Zehntausend zur Flucht gezwungen. 2018, als zahlreiche meist jugendliche Palästinenser an der Grenze zu Gaza gegen ihr Freiluftgefängnis und die jahrzehntelange Unterdrückung protestierten – sie nannten es „Marsch der Rückkehr“ – hatten Scharfschützen den Befehl, sie zu Krüppeln zu schießen. 2.000 Verletzte und 30 Tote.

Israel setzte auf die Strategie „Teile und herrsche!“ Als sich Hamas und Fatah 2014 auf eine Einheitsregierung verständigten, wollte Israel diese Regierung nicht anerkennen. Die beiden Parteien hatten sich 2006 zerstritten, als die Hamas die Wahlen zum Legislativrat der Autonomiegebiete gewonnen hatte, was die Fatah nicht akzeptieren wollte. Heimlich förderte Israel die Hamas mit Geldern aus Katar. Die Provokationen der Hamas sind nützlich, weil sie Israels Verweigerung der Zweistaatenlösung rechtfertigen.

Israel wollte bisher auch den Siedlungsbau nicht stoppen. Da waren sogar die USA hilflos. 2010 und 2013 endeten entsprechende Verhandlungen in Washington erfolglos.

Schluss: Auf einem jüdischen Staat zu bestehen, bedeute ein Leben mit Gewalt, meinte die israelische Friedensaktivistin Norma Musih schon 2022 im Gespräch mit der Publizistin Charlotte Wiedemann.

Netanjahu ist keineswegs der erste Ministerpräsident, der die Zweistaatenlösung ablehnt. Keine israelische Regierung hat je einen Palästinenserstaat akzeptiert. Für Gideon Levy von der israelischen Zeitung Haaretz ist die Zweistaatenlösung seit fünfzig Jahren ein leeres Versprechen. Der Traum von Großisrael ist hegemonial. Inzwischen ist die Zweistaatenlösung durch die Besiedlung der Westbank meines Erachtens eine Illusion geworden. Es ist zu kühn, davon zu träumen, dass die Siedler sich in einen palästinensischen Staat integrieren würden, womit sie einen solchen Staat anerkennen müssten. Dabei sind die meisten unter ihnen von dem Glauben beseelt, dass der Gott Israels Judäa und Samaria für die Juden bestimmt hat.9

Über die Frage Zweistaatenlösung oder ein gemeinsamer Staat wird heute unter israelischen Intellektuellen gestritten. Der Schriftsteller David Grossmann hat sich zum Beispiel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung für erstere ausgesprochen. Der Philosoph Omri Böhm hat daraufhin in der Zeit für eine „binationale Föderation“ plädiert. Manche haben dafür eine Art Kantonsverfassung vorgeschlagen. Auch der US-Publizist Peter Beinart hat einen gemeinsamen Staat vorgeschlagen.

Wie auch immer – man wird um eine gemeinsame schonungslose Aufarbeitung der Konfliktgeschichte nicht herumkommen. Nur wenn man die Leiden der jeweils anderen Seite anerkennt, ist Versöhnung möglich. Nicht umsonst hat man in Südafrika nach dem Ende der Apartheid eine sogenannte Wahrheitskommission eingerichtet.

Literatur:

Böhm, Omri (2024): Ein Waffenstillstand ist ein Gebot der Stunde. In: Die Zeit v. 25.01.24

Flottau, Heiko (2024): Von Herzl bis Hamas. Am 7. Jan. 24 in Journal21.ch

Gorenberg, Gershom (2012): Israel schafft sich ab. Frankfurt/M.: Campus

Grossmann, David (2024) im Interview mit Julia Encke zu Israel und Zweistaatenlösung. In: F.A.S. v. 21.01.24

Krämer, Gudrun (2002): Geschichte Palästinas. 2. Aufl. München: Beck Verlag.

Pappé, Ilan (2007): Die ethnische Säuberung Palästinas. Frankfurt/M.: Zweitausendeins

Wiedemann, Charlotte (2023): Das Trauma von 1948. In: Le Monde diplomatique (dt.) Jan. 2023, S.12/13.

 

Quellen:

1 Die Hamas schließt in diesem Papier die Zweistaatenlösung nicht mehr aus. Deshalb ist heute der Appell von Ulrike Meinhof an die westeuropäische Linke obsolet, sie müsse von den Arabern „die Bereitschaft zur Koexistenz mit Israel verlangen“ (in der Zschr. Konkret Nr. 7/67, zit. nach St. Ripplinger in junge Welt v. 28.02.24, S.11).

2 Auch die algerische Befreiungsfront hat in den 1950er Jahren keinen Pardon gekannt. Ein Vertreter soll auf die Kritik an Bombenanschlägen in Restaurants geantwortet haben: Hätten wir die Flugzeuge und Panzer der Franzosen, würden wir solche nutzen. Wir haben nur solche Bomben.

3 Am 30. Januar 24 drangen israelische Soldaten in Verkleidung nachts in das Krankenhaus ein und erschossen die schlafenden Männer.

4 H. v. Treitschke: Unsere Ansichten. In: Der Berliner Antisemitismusstreit. Hgg. v. W. Boehlich. Ffm. 1965.

5 Die Strategie war dieselbe wie heute: nationale Minderheiten ließ man stellvertretend für sich kämpfen. Zuerst die Griechen, dann andere Balkanvölker, dann die Araber. Der Schlachtruf war wie heute: Freiheit und Demokratie gegen die Despotie!)

6 Nach Gudrun Krämer (2002) sollen es sogar 67 Prozent der Bevölkerung gewesen sein.

7 In beiden Dörfern wurden zahlreiche Menschen ermordet, in Tantura über 200 vorwiegend wehrfähige Männer (Krämer 2002, Gorenberg 2012). Generell wurden als feindselig denunzierte Palästinenser exekutiert.

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8 nach Ilan Pappe 2007, S. 46.

9Gershom Gorenberg zitiert aus einem Flugblatt der Siedler, in dem die Störung der Olivenernte gerechtfertigt wird, weil Grund und Boden und Bäume dem Volk Israel gehören. Der heutige Finanzminister Bezalel Smotrich begründet 2017 seinen Plan zur Vertreibung der Palästinenser so: I believe that the State of Israel is the beginning of our unfolding redemption, the fulfillment of the prophecies of the Torah and the visions of the Prophets“ (https://hashiloach.org.il/israels-decisive-plan/ Zugriff am 05.02.24).

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